Somatoforme und
dissoziative Störungen
Dr. Renato Marelli
Alt-Präsident der Schweiz.
Gesellschaft für
Versicherungspsychiatrie 2019
Krankheitskonzept
(Disease WHO)
◼ Beobachtung
◼ Zeichen
◼ Syndrom
◼ Syndrom mit Pathogenese
◼ Syndrom mit Pathogenese und Ätiologie
◼ S. mit Pathogenese, Ätiologie und bekanntem Ergebnis
Psychische Störung ICD-10
◼ “Störung”
◼ Klinisch erkennbarer Komplex, ein Syndrom
◼ Deskriptiv
◼ Begriffliches Konstrukt
◼ Konsensuell definiert
Somatoforme Störungen
◼ Somatisierungsstörung
◼ Undifferenzierte Somatisierungsstörung
◼ Hypochondrische Störung
◼ Somatoforme autonome Funktionsstörung
◼ Anhaltende somatoforme Schmerzstörung
Eigentlich auch: Neurasthenie (F48)
Anhaltende somatoforme Schmerzstörung F45.4
◼ Mindestens 6 Monate anhaltender, schwerer und quälender Schmerz in mind. einem Körperteil.
◼ Durch physiologischen Prozess oder körperl.
Störung nicht adäquat erklärt.
◼ Nicht bei Schizophrenie (F2), affektiver Störung (F3) oder F45.0, F45.1 und F45.2.
◼ Schwerwiegender emotionaler Konflikt oder psychosoziale Belastung als entscheidender ursächlicher Faktor!
Psychische Symptome
◼ Wiederholte Darbietung körperlicher Symptome
◼ Mit hartnäckigen Forderungen nach Abkl.
◼ Trotz negativer Ergebnisse
◼ Oft ängstliche Ursachenüberzeugung
◼ Allfälliges somatisches Leiden erklärt die Symptome nicht oder nicht genügend
◼ Auch nicht das Leiden und die innerliche Beteiligung des Patienten
Praxis
◼ Nicht zu stellen bei nachgewiesener körperlicher Erkrankung ?
◼ Hin und her: Somatik – Psychiatrie
◼ Subjektiv abwertend, stigmatisierend
◼ «Nicht wirklich vorhanden»
◼ Paradigmenwechsel in DSM 5
Somatische
Belastungsstörung DSM 5
◼ Somatische Diagnose schliesst psychische Störung in der gleichen Symptomatik nicht aus.
◼ Auch mit nachgewiesener somatischer
Störung in der Kompetenz des Psychiaters
◼ Allgemein anerkannte Nomenklatur
◼ Im Gegensatz zu ICD-10 GM F45.41
Somatische Belastungsstörung A
◼ Ein oder mehrere somatische Symptome,
◼ die belastend sind oder
◼ zu erheblichen Einschränkungen in der alltäglichen Lebensführung führen.
Somatische Belastungsstörung B
Exzessive Gedanken, Gefühle oder Verhaltensweisen….
◼ Mindestens eines der folgenden Merkmale
◼ Unangemessene und andauernde
Gedanken bezüglich Ernsthaftigkeit ….
◼ Anhaltend stark ausgeprägte Ängste ….
◼ Exzessiver Aufwand … für die Symptome oder Gesundheitssorgen
Somatische Belastungsstörung C
◼ Keines der Symptome zwingend durchgängig vorhanden
◼ Symptombelastung aber persistierend
◼ Überwiegen von Schmerz
◼ Chronischer Verlauf, andauernd
◼ Aktueller Schweregrad zu bestimmen nach Anzahl Symptome in Kriterium B
Intrapsychisches Erleben
und interpersonelles Verhalten
◼ Überzeugung:
somatisch krank
◼ Ängstlich-besorgt
◼ Rückzugs- und Schonverhalten
◼ Keine Belastbarkeit
◼ Passive
Veränderungs- erwartung
◼ Häufige Arztkontakte
◼ Suche nach
Rückversicherung
◼ Suche nach Wunderheilung
◼ Drängen auf
Untersuchungen und Therapien
◼ Therapeutisches
Dissoziative Störungen, Konversionsstörungen
◼ Teilweise oder völlige Abspaltung von
◆ Erinnerungen
◆ Eigener Identität
◆ Wahrnehmung von Umgebungsfaktoren
◆ Dissoziativer Stupor
◼ Teilweiser oder kompletter Verlust der
◆ Bewegungsfähigkeit
Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen
Dissoziative vs. somatoforme Störungen I
◼ Dissoziative Störungen
◆ Oft plötzliches Auftreten
◆ Enge Beziehung zu psych. Belastung
◆ Symbolcharakter
◆ Störungen normalerweise willentlich gesteuerter Funktionen
◆ Verlust der sinnlichen Wahrnehmung
◆ Bewusstseinsnah
Dissoziative vs. somatoforme Störungen II
◼ Somatoforme Störungen
◆ Störungen mit Schmerz oder
◆ Störungen von komplexen körperlichen Funktionen, gesteuert über das
vegetative Nervensystem
◆ Archaische, bewusstseinsferne Abwehr
◆ Wenig dramatisch
Abgrenzung zu Aggravation/Simulation
◼ Unspezifische Merkmale
◼ Auf Aggravation oder Simulation hinweisende Merkmale
◼ Auf erhebliche somatoforme oder dissoziative Störungen
hinweisende Merkmale
Fragen zur Beurteilung
◼ Liegt eine definierte somatoforme oder dissoziative Störung vor?
◼ Wie schwer ist die Störung?
◼ Sind die Symptome konsistent?
◼ Welche gestörten psychischen Funktionen beeinträchtigen die Leistungsfähigkeit?
«Krankheitslast»
◼ Symptomlast
◼ Anzahl Symptome
◼ Schwere der Symptome
◼ Dauer
◼ Therapieresistenz
◼ Beeinträchtigung von Aktivitäten
◼ Komorbidität !
Schweregrad und Dauer
◼ Ausmass an Somatisierung
◼ Hoher Grad der Chronifizierung
◼ Hohe Inanspruchnahme des Gesundheitssystems
◼ Erfolglosigkeit der Therapien
◼ Konsistente Auswirkung auf alle Lebensbereiche
Persönlichkeit
(nach ICF, RELY)◼ Temperament
◼ Umgänglichkeit
◼ Psychische Stabilität
◼ Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen
◼ Selbstvertrauen
◼ Psychische Energie und Antrieb
Der «Rechtsweg» I
◼ BGE 141 V 281
◼ Ergebnisoffene Beurteilung
◼ Fokus auf korrekter Diagnose
◼ Diagnose durch
funktionserhebliche Befunde begründet
◼ Ausschlusskriterien besonders zu
Der «Rechtsweg» II
◼ Beeinträchtigung der Alltagsfunktionen als Grundlage für Bemessung der AUF
◼ Konsistenz
◼ «Bei konsequenter Verbindung von diagnostisch relevantem Befund und funktionellem Ausfall fliessen soziale Faktoren nicht in die Arbeitsunfähigkeit ein.» (Traub)
Der «Rechtsweg» III
◼ 1. Feststellung der
Gesundheitsschädigung
◆ a) Diagnose
◆ b) Ausschlussgründe
◼ 2. Folgenabschätzung
◆ a) Prüfungsraster
◆ b) Verhältnis Ausschlussgründe –
Systematisierung der Standard- Indikatoren I
◼ Kategorie «funktioneller Schweregrad»
◼ Komplex «Gesundheitsschädigung»
◼ Komplex «Persönlichkeit», Ressourcen
◼ Komplex «Sozialer Kontext»
Systematisierung der Standard- Indikatoren II
◼ Kategorie «Konsistenz»
◆ Gesichtspunkte des Verhaltens
◆ Gleichmässige Einschränkung des Aktivitätsniveaus
◆ Ausgewiesener Leidensdruck
◼ Kein Vorrang psychiatrischer
Literatur
◼ Leitlinien für die psychiatrische Begutachtung der SGPP, Neue Version 2016
◼ Kopp H.G., Marelli R. Somatoforme Störungen, wie weiter?, SZS, Heft 3, 2012
◼ BGE 141 V 281
◼ Traub A. Beurteilung der Invalidität bei
psychosomatischen Beschwerden. Asim Fortbildung vom 14. Oktober 2015