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Archiv "Klinische Notfallambulanzen: Überproportional genutzt" (19.11.2004)

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rotz eines Ausländeranteils von 8,9 Prozent an der Bevölkerung – in Großstädten sind es teilweise mehr als 30 Prozent – liegen über die Bedürfnisse von Ausländern als Patien- ten nur wenige Erkenntnisse vor. In der subjektiven Wahrnehmung von Mitar- beitern im Gesundheitswesen haben Migranten im Vergleich zu deutschen Patienten in der Regel zwar ein an- deres Krankheitsverständnis, oftmals mehr Respekt gegenüber Ärzten und ein stärkeres Schmerzempfinden. Ob sie aber zum Beispiel klinische Not- fallambulanzen als Einrichtungen, in denen die Bedürfnisse des Patienten und die eigene Wahrnehmung der Be- schwerde und ihrer Symptome beson- ders im Vordergrund stehen, anders in Anspruch nehmen als deutsche Patien- ten, blieb in Deutschland bislang uner- forscht.

Berliner Wissenschaftler* gingen dieser Fragestellung nach. Ziel ihrer empirischen Untersuchung, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und von den Spitzenverbän- den der Krankenkassen gefördert wurde, war es herauszufinden, welchen Einfluss neben dem Gesundheitszu- stand geschlechtsspezifische, psycho-

soziale, sozio-ökonomische und sozio- kulturelle Aspekte auf das Anspruchs- verhalten von Patienten haben. Für ihre Untersuchung wählten sie inter- nistische und gynäkologische Not- fallambulanzen von drei Berliner Krankenhäusern in Stadtbezirken mit einem hohen Ausländeranteil: eine an der Charité/Campus Virchow-Kli- nikum in Wedding: Ausländeranteil 32,1 Prozent, die Notfallambulanz am Vivantes Klinikum am Urban in Kreuz- berg: Ausländeranteil 32,4 Prozent, und die Notfallambulanz am Vivantes Klinikum Neukölln: Ausländeranteil 21,6 Prozent. Mittels standardisierter Interviews wurden 815 Patienten zu ihren Beschwerden, ihrer Krankheits- wahrnehmung sowie zu migrationsbe- zogenen Merkmalen befragt. Außer- dem machten die Patienten Angaben zu ihrer Herkunft, ihrem sozialen Hin- tergrund und zur Inanspruchnahme an- derer medizinischer Versorgungsein- richtungen. Gleichzeitig werteten die Wissenschaftler knapp 5 000 so genann- te Erste-Hilfe-Scheine (EHS), wie ärzt- liche Dokumentation von Anamnese, Diagnose und Therapiemaßnahmen, aus. Schließlich wurde mit einem Kurz- fragebogen für alle behandelnden Ärzte, der den EHS beizufügen war, ermittelt, für wie dringlich der Arzt die Behandlung hielt und wie er das

Verhältnis zum Patienten und die Verständigung mit ihm einschätzt. Die Studie wurde von April 2001 bis Februar 2003 durchgeführt.

Die Erhebungen ergeben, dass so- wohl geschlechts- als auch ethnische und altersspezifische Aspekte die Inan- spruchnahme von Notfallambulanzen beeinflussen. Der Sozialstatus nicht- deutscher Patienten war meist niedri- ger als der bei deutschen Patienten.

Die meisten Notfallpatienten (etwa 88 Prozent) waren über die Gesetzliche Krankenversicherung versichert, der Anteil, der über das Sozialamt ver- sichert war, lag bei 6,1 Prozent.

Stationäre Aufnahmen selten

Aus der Auswertung der EHS und der Patienteninterviews geht hervor, dass Migranten im Vergleich zu einheimi- schen Deutschen ein differierendes Inan- spruchnahmeverhalten haben. Sie nutz- ten die klinische Rettungsstelle häufiger, als es dem Anteil der Wohnbevölkerung entsprechen würde, und stellten sich zu anderen Tageszeiten – insbesondere nachts – und häufiger am Wochenende vor. Darüber hinaus wurden Migranten seltener stationär aufgenommen, und es wurde im Vergleich zu deutschen Patien- ten seltener Diagnostik wie Labor, Rönt- gen oder CT durchgeführt.

Während alle Patienten – sowohl deutsche als auch Patienten anderer Her- kunft – die Dringlichkeit der Behandlung höher einschätzten als die Ärzte, klagten Frauen und besonders Migrantinnen häufiger über Schmerzen und gaben mehr Schmerzregionen an. Darüber hin- aus nahmen alle Migranten in der Regel die Stärke der Schmerzen deutlicher wahr. Meist gaben sie Kopf- und Glieder- schmerzen, Bauchschmerzen und starke Belastung durch Alltagsstress an. Klag- ten beispielsweise nur sechs Prozent der Deutschen über Kopfschmerzen, waren es bei türkischen Migrantinnen 20 Pro- zent. Das Schmerzempfinden schlug sich auch auf die Vergabe von Medikamen- ten nieder: Migranten erhielten mehr P O L I T I K

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A3156 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 4719. November 2004

Klinische Notfallambulanzen

Überproportional genutzt

Einer Studie zufolge nehmen Migranten klinische Notfall- ambulanzen anders in Anspruch als deutsche Patienten.

*Prof. Dr. Theda Borde, Tanja Braun, MPH, Dr. med. Mat- thias David, Charité Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow-Klinikum, Klinik für Frauenheilkunde und Ge- burtshilfe

Foto:ddp

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A3158 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 4719. November 2004

Schmerzmittel, Spasmolytika und Ma- gen-Darm-Mittel als deutsche Patienten.

Die Kommunikations- und Beziehungs- situation zu den Migranten beurteilten die behandelnden Ärzte schlechter als zu deutschen Patienten. So wurde die Arzt-Patient-Verständigung in 80 Pro- zent der Fälle bei Frauen wie bei Män- nern als gut eingestuft. Bei Migranten waren es 70 Prozent. Das Arzt-Patienten- Verhältnis hielten die Ärzte bei 91 Pro- zent der Frauen und bei 88 Prozent der Männer für gut, bei türkischen Frauen bezeichneten es dagegen nur 83 Prozent und bei den Männern nur 81 Prozent der Ärzte als gut. Als Gründe für die Unzu- friedenheit gaben die Ärzte in 32 Pro- zent der Fälle fehlende Kooperations- fähigkeit aufgrund des Krankheitsbildes an. 21 Prozent klagten über Sprach- und Verständigungsprobleme. Bei Migran- ten standen Sprachschwierigkeiten, ge- folgt von der Klage über schwierige un- kooperative Patienten und unangemes- sene Inanspruchnahme im Vordergrund.

Nach Meinung der Wissenschaftler entspricht das in der Studie ermittelte In- anspruchnahmeverhalten der Definition von Rettungsstellen als Ort der Notfall- medizinischen Versorgung nur teilweise.

Die Versorgung von leichteren allge- meinmedizinischen Beschwerden oder psychosozialen Problemen in einer klini- schen Notfallambulanz führe zu einer kostenintensiven Über- und Fehlversor- gung, die nicht an den Bedürfnissen der Patienten orientiert sei. Um das Inan- spruchnahmeverhalten bestimmter Pati- enten zu verändern, empfehlen sie drei Maßnahmen:

>mehr Informationen über den Um- fang der Gesundheitsversorgung und über Unterstützungsangebote im psycho- sozialen Bereich für Migranten;

>den Aufbau einer „patientenorien- tierten Rettungsstelle“, bei der Patienten von Pflege- und Behandlungsteams emp- fangen und nach einer kurzen Befragung zu ihren Beschwerden an ein spezielles Versorgungsmodul innnerhalb der Not- fallambulanz weitergeleitet werden, und

>die Verbesserung der ambulanten Notfallversorgungsstrukturen durch Pra- xisnetze. Martina Merten

Schweizer Modell

Nicht lupenrein übertragbar

Vor einem vorschnellen Import des so genannten Schweizer Modells in das deutsche Ge- sundheitswesen hat Prof. Dr.

med. Thomas Zeltner, der Direktor des Bundesamtes für Gesundheit der Schweiz,

Zürich, vor der Hauptversammlung des Hartmannbundes in Berlin gewarnt.

Die Generalrevision der gesetzlichen Gesundheitssicherung in der Schweiz 1994/96 sei, auf die Schweizer Verhältnis- se transformiert, mit Anlaufschwierigkei- ten gestartet worden. In der Schweiz gilt zurzeit ein Mix aus Bürgerversicherung und Kopfprämienmodell. Die Gesetzes- revision setzte an der Finanzierung der Struktur- und Kostenseite des Systems an. Trotz höherer Selbstbehalte und Zu- zahlungen stiegen in der Schweiz die Ko- sten Jahr für Jahr kontinuierlich – sowohl vor als auch nach der Reform – um vier bis sechs Prozent. Die Regierung ist bemüht, den Kostenanstieg unter der

„Schmerzgrenze“ von plus vier Prozent zu halten. Dennoch liegt der Anstieg der Gesundheitskosten um ein bis zwei Pro- zent regelmäßig über der Einkommens- entwicklung und dem Lebenshaltungs- index. In der Schweiz seien auch die De- mographiekomponente sowie der me- dizinische und technische Fortschritt der Hauptkostenverursacher.

Drei Finanzierungsquellen

Das Schweizer System der ambulanten und stationären Versorgung wird aus drei Quellen refundiert und finanziert: Ein Drittel der Gesundheitssicherungsko- sten wird aus dem allgemeinen Steuer- aufkommen in Form von Subventionen vor allem für Universitätskliniken und Kantonsspitäler finanziert. Seit 1994 gilt die Bürgerpflichtversicherung mit einer Kopfpauschale, deren Aufkommen rund ein Drittel der Gesamtkosten des Sy- stems abdeckt. Die Versicherungsträger sind verpflichtet, kostendeckend zu ar-

beiten und erhalten keine Subventionen.

Der dritte Teil der Gesundheits-/Krank- heitskosten wird von den Versicherten direkt gezahlt über eine Franchise und Selbstbehalte. Allerdings können

die Zuzahlungsbeträge durch eine Versicherung abgedeckt werden, deren Prämien ausschließlich der Versi- cherte zu entrichten hat. Die ersten 300 Schweizer Franken der Arzt- und Spitälerrech- nungen sowie der Me- dikamentenrechnungen gehen zulasten der Inan- spruchnehmenden. Bis zur Grenzzahl- schwelle von 700 Schweizer Franken je Jahr muss der Versicherte zehn Prozent der Gesundheitskosten direkt tragen.

Aktuelles innenpolitisches Problem ist eine Revision der Belastungsgrenzen der oftmals überforderten Mittelschich- ten, insbesondere der Familien und der Kinderreichen.

In der Schweiz ist die Grundsicherung im Krankheitsfall für alle Bürger obliga- torisch.Seit 1996 gibt es die obligatorische Einheitsprämie.Vor 1996 gab es rund 400 selbstständige Krankenversicherungen.

Heute ist der Versicherungsmarkt so weit konzentriert, dass nur noch 100 Versiche- rer übrig blieben. Davon decken rund acht Versicherungen 90 Prozent des Marktes ab. Bewährt hat sich die Mög- lichkeit, die Versicherung kurzfristig zu wechseln. Auch dies hat den Versiche- rungswettbewerb verschärft. Vor der Gesetzesrevision hatten mehr als 90 Pro- zent eine zusätzliche private Kranken- versicherung abgeschlossen, heute dürfte der Trend eher rückläufig sein.

In der Schweiz wird das Kosten- erstattungsverfahren praktiziert. Das Bundesamt für Gesundheit habe aller- dings keine bemerkenswerten Steue- rungswirkungen feststellen können. Im Gegenteil: Die Patienten seien vielfach überfordert, die Spital- und Arztrech- nungen zu bewerten. Jährlich seien Prämienerhöhungen der Versicherer bis zu zehn Prozent Usus. Dies hat zu einer erhöhten Anspruchs- und Heraus- holmentalität der Versicherten geführt.

Ärzte, die Versichertenbegehren nicht erfüllen, werden häufig abgewählt.

Die Politik versucht diesem Trend ent- gegenzusteuern. Dr. rer. pol. Harald Clade Der Abschlussbericht kann über die E-Mail-Adressen

theda.borde@asfh-berlin.de oder matthias.david@charite.

de angefordert werden.

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