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Archiv "Unikausales Ausschlußdenken und zwei weitere Aspekte der Sozialmedizin: 1 Zu dem Begriff „Unfall“" (08.11.1990)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Unikausales

Ausschlußdenken und zwei weitere Aspekte der

Sozialmedizin

1 Zu dem Begriff „Unfall"

Dem Autor ist zu danken dafür, daß er sozialmedizinische und sozial- rechtliche Fragen zur Diskussion bringt, hoffentlich ist sie fruchtbar und trägt dazu bei, die weit verbrei- tete Unkenntnis zu diesen Themen zu vermindern. — Nur kurz eingehen möchte ich auf zwei angesprochene Themen: Die Neutralität der Gut- achter wird diskutiert und auch in et- wa angezweifelt; nach jahrzehntelan- ger sozialgerichtlicher Tätigkeit bin ich hier nicht so skeptisch. Parteiisch arbeitende Gutachter disqualifizie- ren sich nach meiner Erfahrung auf die Dauer von selbst, gleichgültig ob sie zunächst vom Versicherungsträ- ger oder nach § 109 SGG in An- spruch genommen werden; setzen sie sich nämlich in der späteren sach- lichen Auseinandersetzung nicht durch, dann verlieren sie auch ihr Ansehen. Hierüber könnte man breit diskutieren.

Händel kritisiert, daß der Be- griff der wesentlichen Mitursache in der Medizin ein anderer sei als in der Rechtsprechung. Er übersieht dabei, daß im naturwissenschaftlich-kausa- len Denken eine Vielfalt von Ursa- chen für die Herbeiführung eines Er- gebnisses dargelegt werden kann, ein Ursachenbündel kann man aufzei- gen, die Rechtsprechung verlangt aber im Sozialrecht die Aufdeckung der rechtlich wesentlich mitwirken- den Teilursache. Das ist diejenige (im allgemeinen letzte) Teilursache, ohne deren Mitwirken das Zustande- kommen des Ergebnisses nicht denk- bar wäre. Naturwissenschaftliches und juristisches Denken klaffen hier natürlich auseinander, und das bringt den Mediziner zweifellos im- mer wieder in Schwierigkeiten.

Der eigentliche Grund meines Antwortens auf den Artikel von Händel ist aber sein Umgang mit

Zu dem Beitrag von Dr. med. Hans Händel in Heft 4

vom 25. Januar 1990

dem Begriff „Unfall". In der RVO ist dieser Begriff nicht definiert, er ist von der Rechtsprechung entwickelt worden. Danach ist ein Unfall ein auf äußeren Einwirkungen beruhen- des plötzliches (bis zu einer Schicht dauernd), örtlich und zeitlich be- stimmbares, einen Körperschaden verursachendes Ereignis. Darunter fallen dann auch die von Erlenkäm- per genannten Infektionen, Kälte- Nässe-Zugluft-Einwirkungen, auch unvermutetes heftiges Zerren beim Tragen und ähnliches. Bei dieser Definition ist das entscheidende Kri- terium, daß die schädigende Einwir- kung von außen kommt, daß sie un- vermutet kommt, daß sie über den Geschädigten hereinbricht, daß er nicht selbst aktiv ist. Dabei sind na- türlich versehentliche Schnittverlet- zungen in den Unfallbegriff einzube- ziehen. Mit dieser Definition des Un- falls ist eine Abgrenzung von Auswir- kungen einer arbeitsüblichen Ver- richtung möglich, wenn auch die Grenzen manchmal nicht ganz klar zu finden sind. Ich halte es für bedau- ernswert, daß keine gesetzliche Defi- nition des Begriffes Unfall vorliegt, daß sich hier Richterrecht mehr und mehr durchsetzt, wie das in der Ar- beitsgerichtsbarkeit ja auch von Juri- sten öffentlich bedauert wird.

Von Händel wird der Arbeitsun- fall als ein „außergewöhnliches Er- eignis" apostrophiert, mir scheint, daß mit dieser Wortwahl keine klare Grenze zu ziehen ist. Gerade an dem beschriebenen Beispiel des Gärtner- helfers mit Drehbewegung am Pflanztisch und Einriß des bereits

degenerierten Meniskus kann man erkennen, daß letztendlich die Aner- kennung eines Unfallschadens ab- hängig ist davon, wie schnell die Kör- perdrehung am Pflanztisch gemacht worden ist oder gemacht werden muß- te. Man könnte dem Gärtnerhelfer rasch zur Anerkennung eines Unfalls verhelfen, wenn man, basierend auf der ständigen Rechtsprechung, er- klärt, die Degeneration des Meniskus habe er in die Arbeitssituation einge- bracht, dieser Körperzustand sei in diesem Augenblick versichert gewe- sen, und eine unvermutete oder ra- sche oder nicht genügend vorsichtige Drehung habe dann als die „rechtlich wesentlich mitwirkende Teilursache"

den Erfolg herbeigeführt.

Wie würde der Gutachter ent- scheiden, wenn bei arthrotischen Schultergelenksveränderungen die lange Bizepssehne gelegentlich des Anhebens von 20 bis 30 Pfund reißt?

Wie würde er entscheiden, wenn bei raschem Treppaufgehen eine Sub- arachnoidalblutung aus platzendem Aneurysma eintritt? Wie würde er entscheiden, wenn ein Herzinfarkt während der Arbeitsschicht auftritt und der Kranke sagt, er habe sich vorher arbeitsbedingt aufgeregt? In medizinischer Hinsicht sind hier selbstverständlich eine Reihe von anderen Ursachen offenkundig, ob aber der Richter den letzten Anstoß als die rechtlich wesentlich mitwir- kende Teilursache oder nur als Ba- gatellanlaß ansieht, ist offen.

Natürlich hat hier die Recht- sprechung das Wort, mir scheint sie aber in der Gefahr zu sein, sich von den Erkenntnissen der medizini- schen Wissenschaft in manchen Be- reichen weiter zu entfernen. Das geht hin bis zur Umkehr der Beweis- last in dem Sinne, daß ein während der Arbeitsschicht eingetretener Ge- sundheitsschaden dann als berufsbe- dingt beziehungsweise Unfallscha- den anzuerkennen ist, wenn der Ver- sicherer nicht den Gegenbeweis an- treten kann. Das kulminiert zum Beispiel auch in der dem Mediziner manchmal gar nicht verstehbaren Bestimmung, daß ein nicht aufzuklä- render Todeseintritt einem Unfall- schaden zuzurechnen ist, wenn der Verstorbene eine mindestens 50pro- zentige Unfallrente bezogen hat. Der A-3552 (78) Dt. Ärztebl. 87, Heft 45, 8. November 1990

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Mediziner könnte das zum Beispiel bei einem Armamputierten mit ent- sprechender MdE überhaupt nicht nachvollziehen. Die oben genannten Krankheitsbeispiele sind als körper- liche Geschehensweisen leicht über- schaubar. Ganz schwierig und un- durchsichtig wird es, wenn die Neu- rosenlehre involviert ist.

Dr. med. Limbrock, Nervenarzt Postfach 16 40 • W-4670 Lünen

Ich kann Ihnen aufgrund eige- ner Erfahrungen (seit 1935 im öf- fentlichen Dienst, seit mehr als 30 Jahren ärztlicher Berater von Sozial- rechtsabteilungen des DGB) voll zu- stimmen. Ergänzend zu Ihrer Frage

„Neutralität der Gutachter?" möchte ich noch sagen, daß nicht nur finan- zielle Verlockungen einen Gutachter beeinflussen können. Oft kommt auch die weltanschaulich-politische Grundauffassung des Gutachters in seiner Arbeit zum Ausdruck. Der wertkonservative Arzt wird eher ge- neigt sein, Ansprüche des Einzelnen an die Solidargemeinschaft (zum Bei- spiel der Arbeitgeber in den Berufsge- nossenschaften) abzuwehren als der liberale. Ich glaube allerdings auch nicht, daß der hauptamtliche, vom fi- nanziellen Ertrag seiner Arbeit im einzelnen unabhängige Gutachter von diesen grundsätzlichen Auffas- sungen frei ist. Ich selbst habe das an der Beurteilung von Neurosen über Jahrzehnte beobachten können.

Im übrigen zeigt sich diese Grundauffassung nicht nur am Er- gebnis der Gutachten, sondern schon in der Art, wie der begutachtende Arzt dem Klienten entgegentritt.

Daß das, was über den Gutachter zu sagen ist, bezüglich der Grundauf- fassungen auch für die finanziell un- abhängigen Richter an den Sozialge- richten gilt, sei nur nebenbei er- wähnt. Daß allerdings ein solch kri- tischer Beitrag im DEUTSCHEN ÄRZTEBLATT erscheinen konnte, begrüße ich ganz besonders. Auf die Kritik der Kritik bin ich gespannt.

Dr. med. L. Leonhardt Obermedizinalrat a. D.

Kronprinzenstraße 18 W-7570 Baden-Baden

Schlußwort

Herr Kollege Leonhardt stimmt mir im wesentlichen zu, meint aber, daß ein mehr wertkonservativer Arzt eher geneigt sei, Ansprüche des Ein- zelnen an die Solidargemeinschaft abzuwehren. Dies ist leider richtig.

Es bleibt das Ziel, daß wir als Gut- achter nicht einseitig (also unge- recht) für eine Partei mehr Ver- ständnis haben als für die andere.

Nicht veröffentlichte Zuschrif- ten an mich teilen meine Skepsis an der Neutralität der Gutachter, ein Kollege meint, diese Neutralität müßte der Gesetzgeber sicherstel- len!

Weniger skeptisch gegenüber dieser Neutralität äußert sich Kolle- ge Limbrock. Es mag sein, daß ein- seitig voreingenommene Gutachten mehr unterhalb der Sozialgerichts- ebene vorkommen, wobei der zweite Gutachter sich dem ersten an- schließt, da er meint, doch nichts daran ändern zu können. Nur manchmal kommen solche Fälle zum Sozialgericht.

Ich übersehe nicht, daß im medi- zinisch-naturwissenschaftlichen Be- reich mehrere Ursachen für einen Körperschaden zusammenkommen können. Gerade daraus ergibt sich meine Ablehnung eines uni- oder monokausalen Ausschlußdenkens für den medizinischen wie für den sozialrechtlichen Bereich! Dieses Denken vertritt offenbar Limbrock, wenn er meint, im Sozialrecht müsse

„die" wesentliche Teilursache aufge- deckt werden, wodurch dann andere Teilursachen nicht mehr wesentlich mitverursachende Teilursachen sein könnten. — Damit schließt er offen- bar aus, daß sowohl Degeneration als auch mechanische Belastung we- sentliche Mitursachen eines Knor- pel- oder Sehnenrisses sein können, daß es Fälle gibt, wo erst das Zusam- menwirken beider Teilursachen den Riß bewirken konnte, die eine, zum Beispiel die Degeneration, nicht aus- reichte, es mußte erst das mechani- sche Trauma hinzukommen. Das sind die Fälle, wo vor dem fraglichen Unfall keinerlei Beschwerden be- standen, die später nachgewiesene (oder angenommene) Degeneration, die ja sicher schon lange bestand, da-

zu also nicht ausreichte. Trotzdem wird in solchen Fällen oft geradezu stereotyp das Trauma als wesentli- che Teilursache abgelehnt mit dem Hinweis, daß die Degeneration „die"

wesentliche Teilursache sei!

Daß Ursache und wesentliche Teilursache in der Medizin und im Sozialrecht etwas Verschiedenes sei- en, konnte auch Limbrock nicht zwingend folgerichtig begründen.

Entscheidend für die Anerkennung als Arbeitsunfall bleibt die conditio sine qua non, wie das auch Erlen- kämper in „Begutachtung der Hal- tungs- und Bewegungsorgane" aus- führt.

Eine Neurochirurgin schrieb mir, daß Bandscheibenvorfälle auch nach schwerem Verhebetrauma und ohne vorbestehende Beschwerden durch eine Degeneration trotzdem nur auf Degeneration zurückgeführt wurden, das Verheben also nicht als Arbeitsunfall anerkannt wurde. Bei dem Fall des Gärtnerhelfers, den Limbrock anspricht, war zwar die Körperdrehung die letzte auslösende Ursache des Meniskusrisses, sie trat aber in ihrer Wertigkeit als Ursache stark zurück, weil diese Drehung durch fast jede Drehung außerhalb des Arbeitsplatzes mit gleichem Er- gebnis ersetzbar wäre. Als jedoch ein Maurer bei seiner Arbeitsschicht vom Gerüst stürzte, mit einem Fuß auf einem Stein aufkam und sich ruckartig das Knie verdrehte und es zum Meniskusriß kam, war dieses Ereignis unabdingbar conditio sine qua non für den Meniskusriß. Der Arbeitsunfall mußte anerkannt wer- den. Dies ist auch der Beweis des er- sten Anscheins!

Es können hier nicht alle Aspek- te erörtert werden. Bei der Frage des Arbeitsunfalls müssen alle Gesichts- punkte, die für den Körperschaden relevant sind, in die Gesamtbeurtei- lung einbezogen werden. Dank ge- bührt dem DEUTSCHEN ARZTE- BLATT für die Übernahme des Arti- kels und die Gelegenheit zur Diskus- sion! Diese erscheint immer wieder erforderlich.

Dr. med. Hans Händel Medizinaldirektor a. D.

Martin-Luther-Platz 2 W-8800 Ansbach

I 2 Neutralität der Gutachter

Dt. Ärztebl. 87, Heft 45, 8. November 1990 (81) A-3553

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