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Archiv "Wie offen kann die Psychiatrie sein? Zwangseinweisungen in zwei innerstädtischen Berliner Bezirken" (04.05.2007)

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or 2 Jahren wurde im Deutschen Ärzteblatt ein Artikel publiziert, der Zahlen zur Zunahme von Zwangseinweisungen in der deutschen Psychiatrie vorlegte und eine heftige Debatte über die Bedeutung dieser Entwicklungen auslöste (1). Der Beitrag er- wähnte verschiedene Faktoren, die möglicherweise zur Zunahme von Zwangseinweisungen beigetragen haben könnten, darunter eine geringere Risikobereit- schaft bei Ärzten, veränderte gesetzliche Anforderun- gen und einen neuen Zeitgeist mit verstärktem Sicher- heitsbedürfnis. Die Debatte wirft 2 zentrale Fragen auf: Sind die Zahlen zur Zunahme von Zwangseinwei- sungen wirklich eindeutig, und wie sind Zwangsein- weisungen in der Praxis zu bewerten?

Zunächst zu den Zahlen: In verschiedenen europäi- schen Ländern mit unterschiedlichen Traditionen, Rechtsvorschriften und Versorgungssystemen ist seit 1990 die Zahl von Plätzen in der forensischen Psy-

chiatrie und in Einrichtungen des Betreuten Wohnens substanziell gestiegen. Diese Entwicklung wurde auch als „Re Institutionalisierung“ bezeichnet. Sie ist vor dem Hintergrund einer ebenfalls in allen Ländern deutlich gestiegenen Zahl der Gefängnisinsassen zu sehen. Es scheint somit in der Tat einen allgemeinen gesellschaftlichen Trend zu geringerer Risikobereit- schaft und zur institutionellen Ausgliederung stören- der Menschen zu geben, der auch die Psychiatrie er- fasst (2). Da sich dieser Trend in verschiedenen Län- dern zeigt, ist er wahrscheinlich unabhängig von na- tionalen Änderungen der Gesetzgebung oder den Ver- sorgungsbedingungen (3).

Speziell für die Zwangseinweisungen ist die Daten- lage aber weniger eindeutig. Ein einheitlicher interna- tionaler Trend findet sich nicht. Bezogen auf Deutsch- land hat eine kürzlich veröffentlichte Debatte die Schwierigkeiten einer eindeutigen Interpretation auf-

ORIGINALARBEIT

Wie offen kann die Psychiatrie sein?

Zwangseinweisungen in zwei innerstädtischen Berliner Bezirken Dorothea von Haebler, Heinrich Beuscher, Erdmann Fähndrich, Dieter Kunz, Stefan Priebe, Andreas Heinz

ZUSAMMENFASSUNG

Einleitung: In den letzten Jahren wurde in Deutschland eine Zunahme der Zwangseinweisungen beschrieben.

Dies könnte auf eine Zunahme des kustodialen Charak- ters der Psychiatrie mit erhöhter Unterbringung auf „ge- schlossenen“ Stationen hinweisen. Methoden: Die Autoren diskutieren die vorliegenden Zahlen und vergleichen sie mit Angaben zur Zahl und zum Umgang mit Zwangseinwei- sungen in 2 großen Berliner Bezirken in den letzten 30 Jahren. Zudem wurde geprüft, ob die Halbierung der sta- tionären Behandlungsplätze, die in den 1990er-Jahren in Berlin stattfand, von einer Änderung der Zahl der Zwangseinweisungen begleitet wurde. Ergebnisse: Ein Bezirk zeigt Hinweise auf eine Zunahme der Zwangsein- weisungen, die sich im Wesentlichen durch eine Zunah- me der Patientenzahlen bei verkürzten Liegezeiten er- klärt. Eine therapeutisch motivierte Öffnung der Aufnah- mestationen erfolgte in beiden bezirklich zuständigen psychiatrischen Kliniken unabhängig von dieser Entwick- lung. Diskussion: Die Zahl der Zwangseinweisungen stieg parallel zu einer Zunahme der Fallzahlen an, die durch verkürzte Liegezeiten bei Bettenabbau bedingt war. Die in den 1960er-Jahren initiierte Öffnung der Psychiatrie konnte sich bisher unabhängig davon weiter etablieren.

Dtsch Arztebl 2007; 104(18): A 1232–6.

Schlüsselwörter: Zwangseinweisungen, Zeitverlauf, offene Tür, psychiatrische Versorgung, Sozialpsychiatrie

SUMMARY

COMPULSORY PSYCHIATRIC ADMISSIONS IN TWO DISTRICTS OF BERLIN – HOW OPEN ARE THE PSYCHIATRIC SERVICES?

Introduction: There has been an increase in compulsory psychiatric hospital admissions in Germany. This could in- dicate a tendency towards a more custodial approach in psychiatry. Methods: The number and nature of involuntary admissions in 2 Berlin districts over the past 30 years is discussed against the background of available data, and in the context of the reduction in psychiatric hospital beds in the 1990s. Results: One district showed an increase in compulsory admissions which is largely accounted for by an increase in overall patient numbers and a reduction in length of stay, attributable to higher numbers patients with shorter lengths of stay. However, over the same period, ad- mission wards in both districts were turned into open wards. These changes were initiated and maintained on therapeutic grounds. Discussion: The number of compul- sory admissions in psychiatry has increased, in parallel with the increase of admissions in general, reflecting a higher patient turnover with shorter lengths of stay at a time of bed reductions. Independently of this, the opening of inpatient wards – initiated through major reforms since the 1960s – has been further implemented.

Dtsch Arztebl 2007; 104(18): A 1232–6.

Key words: compulsory admissions, time course, open door, psychiatric medical care, social psychiatry Klinik für Psychiatrie

und Psychotherapie, Charité Universitäts- medizin Berlin, Campus Mitte: Dr.

med. von Haebler, Prof. Dr. med. Heinz Landesbeauftrager für Psychiatrie, Berlin:

Dipl.-Pol. Beuscher Vivantes Klinikum Neukölln, Berlin: Prof.

Dr. med. Fähndrich em.

Unit for Social & Community Psychiatry, Queen Mary, University of London, Academic Unit, Newham Centre for Mental Healt:

Prof. Priebe St. Hedwig Krankenhaus Berlin GmbH, Psychiatrische Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig Krankenhaus Moabit, Versorgungsregion Wedding, Berlin:

Dr. med. Kunz

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gezeigt (4). Zwar sind die Zahlen zur Zunahme von Zwangseinweisungen eindrucksvoll, aber diese Zah- len sind nur bedingt verlässlich und müssten ange- sichts allgemein steigender Häufigkeiten stationärer Behandlungen relativiert werden. Wenn die Zahl sta- tionärer Behandlungen aufgrund einer veränderten Versorgungspraxis mit kürzeren Aufenthaltsdauern insgesamt ansteigt, müssen dann nicht auch Zwangs- einweisungen entsprechend zunehmen, ohne dass dies notwendigerweise eine größere Bereitschaft von Ärz- ten zur Zwangsbehandlung belegt? Zur Klärung die- ser Frage wären ein Vergleich verlässlicher und detail- lierter Daten aus unterschiedlichen Regionen und eine genaue Analyse eventueller Unterschiede hilfreich.

Solche Daten und Vergleiche liegen aber leider bisher nicht vor.

Spengler (5) hat die Unterbringungen nach Lan- desunterbringungsgesetz (PsychKG) und Betreuungs- recht (BGB) in Deutschland in den Jahren 1992 bis 2003 mit den Gesamtfallzahlen verglichen und kam unter Berücksichtigung methodischer Einschränkun- gen und systematischer Fehlerquellen zu dem Ergeb- nis, dass die meisten Regionen einen stabilen Verlauf der Zwangseinweisungen nach PsychKG aufweisen.

Ausgenommen sind die neuen Bundesländer: hier kommt es seit der Wiedervereinigung zu einem deutli- chen Anstieg. Demgegenüber zeigten Unterbringun- gen nach BGB in den Jahren 1992 bis 2003 in ganz Deutschland eine Zunahme von 38 %. Allerdings sind in diesen Zahlen auch die Unterbringung außerhalb psychiatrischer Einrichtungen, Doppelzählungen nach Verfahrenswechsel (PsychKG in BGB) und so- genannte zwangsweise Zurückhaltungen (Verlänge- rungsverfahren) enthalten, sodass der tatsächliche An- stieg geringer ausfallen dürfte.

Die Zunahme der Unterbringungsverfahren nach BGB geht offenbar auch auf die wachsende Zahl be- treuter Demenzkranker, auf Tendenzen zur Verrechtli- chung und methodische Probleme bei der Erhebung der Daten zurück (5). Weitere Probleme ergeben sich durch die beschränkte nationale und internationale Vergleichbarkeit von Unterbringungszahlen aufgrund zum Teil erheblicher Unterschiede in der entsprechen- den Gesetzgebung, Definition oder Prozedur. Dies be- dingt die heterogenen und zum Teil widersprüchli- chen Forschungsergebnisse (6, 7). Es bleibt also der Schluss, dass die Zahlen nicht eindeutig sind, was aber kein Grund sein kann, sie zu ignorieren.

Erfahrungen in zwei Berliner Bezirken mit ausgeprägten sozialen Problemen

Die zweite Frage ist, wie sich Zwangsbehandlungen in der Praxis gestalten und wie sie entsprechend zu bewerten sind. Das Titelbild des Ärzteblatts zeigte eine Patientin hinter verschlossener Tür und erweck- te so den Eindruck, dass die Zwangseinweisungen

„zwangsläufig“ zur Aufnahme auf geschlossenen Sta- tionen führen. Diese Implikation steht im Wider- spruch zu den eigenen Erfahrungen der Autoren bei der Versorgung von Patienten in den Berliner Bezir-

ken Mitte und Neukölln. Die Berliner Bezirke Neukölln und der im Bezirk Mitte gelegene Stadtteil Wedding sind soziale Brennpunkte mit einer gegenü- ber dem Durchschnitt Berlins geringeren Einkom- mensstruktur, höheren Arbeitslosigkeit und einer er- höhten Zahl an Sozialhilfeempfängern (8) (Grafik 1).

Der Stadtteil Wedding hat einen sehr hohen Anteil tür- kischer Migranten.

Methodische Schwierigkeiten bei der Datenerhebung

Die Forschung zu Zwangsmaßnahmen in der Psychia- trie besteht zum Großteil aus epidemiologischen Stu- dien, die die quantitativen Aspekte von Zwangsmaß- nahmen zu erfassen versuchen. Hier dominieren Stu- dien zu prädiktiven Faktoren, Häufigkeiten und quan- titativ fassbaren Ergebnis-Parametern im Rahmen von Zwangsmaßnahmen (9, 10, 11). Bereits auf dieser Ebene ergeben sich methodische Probleme. Die Zeit- verläufe, wenn vorhanden beziehungsweise offiziell registriert, zeigen starke Schwankungen, die unter- schiedliche Einflussfaktoren vermuten lassen. So ist in Deutschland und 4 weiteren EU-Ländern keine offi- zielle Institution verantwortlich für die Registrierung von Zwangsmaßnahmen (6, 12). Noch komplexer und fehleranfälliger werden die Versuche der Begründung und Interpretation unterschiedlicher Zeitverläufe von Zwangsmaßnahmen. Hier vermischen sich:

> gesundheitsökonomische Aspekte wie zum Bei- spiel das Verhalten von Krankenkassen

Sozialindex für die Berliner Bezirke – alte Bezirksstruktur (23 Bezirke) (Datenquelle/Berech- nung und Darstellung: SenGesSozV-IIA-)

GRAFIK 1

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> rechtliche Faktoren wie etwa die Auswirkungen von Gesetzesänderungen

> medizinische Einflüsse wie beispielsweise die Modifikation der therapeutischen Möglichkeiten und Effektivität und

> methodische Aspekte wie Studiendesign und Va- lidität (5).

In Berlin erfolgen Zwangsunterbringungen wegen akuter Fremd- oder Selbstgefährdung entsprechend dem Psychiatrischen Krankengesetz (PsychKG) unter obligatorischer Beteiligung des Sozialpsychiatrischen Dienstes (SpD). Das heißt, dass der Sozialpsychiatri- sche Dienst bei jedem Verfahren der Zwangseinwei- sung eines Patienten, bei der eine Unterbringung nach PsychKG erfolgen muss, anwesend ist. Dieses Verfah- ren findet in der Klinik statt, in die der Patient einge- wiesen wurde.

Im Stadtteil Wedding, einem Teil des Regierungsbe- zirks Berlin Mitte, hat der Sozialpsychiatrische Dienst die Zahl der Zwangseinweisungen unter seiner Betei- ligung in den Jahren 1974 bis 2004 dokumentiert. Ent- sprechend der regelhaften Beteiligung des SpD ist nicht davon auszugehen, dass eine relevante Zahl von Patienten aus Wedding zwangseingewiesen wur- de, ohne dass der SpD beteiligt war. Denkbar wäre ein solcher Fall, wenn ein Patient des Bezirkes bei- spielsweise im Urlaub andernorts dekompensiert.

Ebenfalls nicht erfasst sind solche Einweisungen, die außerhalb der Dienstzeiten des SpD stattfinden und innerhalb der nächsten 24 h auf freiwilliger Basis weitergeführt werden, sodass der SpD nicht infor-

miert wird. Erfasst wurde auch die Zahl der Einwei- sungen, an denen der Sozialpsychiatrische Dienst beteiligt war, beispielsweise im Rahmen eines Haus- besuchs, die aber nicht mit einer Zwangseinweisung endeten.

Im Bezirk Neukölln liegen keine vergleichbaren Zahlen des SpD vor. Auswertbar ist hier eine Statistik des Krankenhauses Neukölln, die aus der Basisdoku- mentation des Krankenhauses erstellt wurde. Deren Aussagekraft ist dadurch eingeschränkt, dass nicht je- de Zwangseinweisung eines Patienten aus Neukölln im Krankenhaus Neukölln stattfinden muss, dies je- doch der Regelfall ist.

Zwangseinweisungen unter der Bedingung des Abbaus stationärer Psychiatrieversorgung

In Berlin erfolgte zwischen 1990 und 2000 eine mas- sive Reduktion der Betten psychiatrischer Stationen von 6 600 auf 2 847 Betten, das heißt auf jetzt 0,7 pro 1 000 Einwohner (13), die zur verkürzten stationären Behandlung und zur Zunahme von Notfallaufnahmen führen könnte. Die ambulante psychiatrische Versor- gungsdichte ist in Berlin besser als die der Flächen- länder und schlechter als die anderer Stadtstaaten so- wie die Sachsens und Nordrhein-Westfalens. Durch die gewünschte Verlagerung der psychiatrischen Ver- sorgung in die Wohnortnähe gewann zudem der Sozi- alpsychiatrische Dienst (SpD) an Bedeutung, der in Berlin durch seine regelhafte Beteiligung an allen Un- terbringungsverfahren und an der fallbezogenen Steuerung bei chronisch psychisch Kranken direkt bei Zwangseinweisungen beteiligt ist. Die Versorgungs- dichte im Ballungsraum Berlin – 150 000 Einwohner pro Mitarbeiter im SpD – ist dabei schlechter als in den neuen Bundesländern. In Brandenburg kommen beispielsweise auf einen Mitarbeiter im SpD 62 000 Einwohner (14).

Die Zahlen des SpD Wedding wurden vom jeweils zuständigen SpD-Mitarbeiter dokumentiert und zei- gen eine Abnahme der Zwangseinweisungen zu Be- ginn der 1980er-Jahre. Danach blieb die Zahl der Zwangseinweisungen konstant, auch zu Zeiten des massiven Bettenabbaus in Berlin (Grafik 2). Die Statis- tik der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Krankenhauses Neukölln wurde vom ärztlichen Di- rektor Erdmann Fähndrich erstellt; sie zeigt im Ge- gensatz zum Wedding eine Steigerung der Zwangsein- weisungen sowohl nach PsychKG wie nach dem Be- treuungsgesetz. Allerdings stiegen in demselben Zeit- raum deutlich die Fallzahlen, sodass der prozentuale Anteil der zwangsuntergebrachten Patienten konstant blieb (Tabelle).

Aus beiden Berliner Stadtteilen liegen Zahlen vor, die gegen eine Verschiebung von psychiatrischen Pa- tienten in den Maßregelvollzug sprechen: Im Kran- kenhaus Neukölln wurden im Jahre 2000 von insge- samt 52 Patienten, die nach Straftaten wie zum Bei- spiel Brandstiftung zunächst nach dem Psychiatri- schen Krankengesetz untergebracht waren, lediglich 2 Patienten per Gerichtsbeschluss (gemäss § 126 a Zahlen vom Sozial-Psychiatrischen Dienst (SpD) Wedding. Gezeigt wird der Anteil von

Zwangseinweisungen (PsychKG und BGB) an den gesamten Einweisungen durch den SpD.

Die Anzahl aller Einweisungen über den SpD nahm Anfang der 1980er-Jahre genauso ab wie die Zwangseinweisungen selbst. Der prozentuale Anteil der Zwangseinweisungen ist gleich- geblieben.

GRAFIK 2

(4)

StPO) in den Maßregelvollzug verlegt. Aus der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St.

Hedwigs Krankenhaus und Campus Mitte, die den Stadtteil Wedding versorgt, wurde in den letzten 3 Jahren kein Patient in den Maßregelvollzug verlegt.

Auswirkungen auf die Gestaltung der stationären Versorgung

In beiden Berliner Bezirken sind Zwangseinweisun- gen nicht mit einer zwangsläufigen Unterbringung auf einer geschlossenen Station verbunden. Im Kranken- haus Neukölln gibt es keine geschlossenen Stationen.

Die Türen sind offen, sie können aber von einer Kan- zel aus überwacht und im Bedarfsfall elektronisch verschlossen werden.

In der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité am Campus Mitte konnten die Türen auch auf den Aufnahmestationen in den letzten Jahren weit- gehend geöffnet werden, sodass sie jetzt nur noch im Bedarfsfall verschlossen sind. Diese Änderung der Stationskonzepte erfolgte ohne Änderung der Zahl oder formalen Qualifikation der Mitarbeiter. Baulich erscheint es dabei sehr vorteilhaft, dass auf einer Sta- tion das Schwesternzimmer am Ausgang liegt. Dem- gegenüber führte die Platzierung des Schwesternzim- mers in der Mitte der Station – ohne Sicht auf die Tür – zum häufigeren Verschluss der Tür. Die offene Tür scheint zur Deeskalation von Spannungen auf der Sta- tion beizutragen. In der Charité halbierte sich nach Umgestaltung der Station die Zahl der Fixierungen um mehr als die Hälfte. Es ereigneten sich seit Öff- nung der Türen keine Suizide im Rahmen der sta- tionären Behandlung.

Diskussion

Im Krankenhaus Neukölln war im Verlauf der letzten 20 Jahre eine Zunahme der Fallzahlen zu verzeichnen, die dem bundesweiten Trend entspricht, nach dem in dem Zeitraum von 1992 bis 2003 die Fallzahlen er- heblich anstiegen (5). Aus diesem Anstieg der Fall- zahlen ist die Zunahme der Unterbringungen nach PsychKG und BGB im Krankenhaus Neukölln erklär- bar: Prozentual wurde eine gleichbleibende Zahl von Patienten untergebracht, die bei verkürzten Liegezei- ten – der Berliner Durchschnitt liegt derzeit bei circa 19 Tagen – ansteigende Fallzahl führte in Neukölln aber zu einer höheren Zahl gesetzlicher Zwangsein- weisungen.

Im Bezirk Wedding nahm dagegen auch die absolu- te Zahl der Unterbringungen nach dem Psychiatri- schen Krankengesetz nicht zu. Die Frage, ob Beson- derheiten der Berliner Versorgungslandschaft – wie die fallbezogene Koordination und Steuerung von Be- treuungsleistungen im System der regionalisierten Pflichtversorgung oder die Zunahme der ambulanten Leistungen – an diesen Entwicklungen beteiligt sind, sollte in weiteren Studien untersucht werden. Aller- dings ist durch den Ausbau der ambulanten Versor- gungsstrukturen eine Zunahme der Aufnahmen zu er- warten, die indirekt auch in der Statistik des Kranken-

hauses Neukölln erkennbar ist: In Neukölln haben seit Anfang der 1990er-Jahre die außerklinischen Leis- tungsangebote für die Versorgung von psychisch und suchtkranken Menschen erheblich zugenommen. Im Jahre 1994 beispielsweise begannen erste Enthospita- lisierungsprojekte mit ihren Betreuungsleistungen, es entstanden Tageskliniken und bestehende Einrichtun- gen für chronisch Kranke änderten ihre Profile, indem sie sich zunehmend mehr auf psychisch Kranke ein- stellten.

In England wurden in den letzten Jahren sogenann- te Case-Manager ins Gesundheitssystem eingeführt.

Interessanterweise folgte dieser Maßnahme eine deut- liche Zunahme der Unterbringungen (15). Die trotz verbesserter ambulanter Betreuung erhöhte Zahl von Unterbringungen ist vermutlich kein Hinweis auf eine konzeptuelle Schwäche des Case-Managements.

Wahrscheinlich ist, dass eine vorbestehende Unterver- sorgung mit mangelnder Erkennung behandlungsbe- dürftiger psychischer Erkrankungen durch die ambu- lante Fallsteuerung korrigiert wurde (16). Vor diesem Hintergrund ist die abschließende Beurteilung des Case-Management-Systems hinsichtlich der Häufig- keit von Unterbringungen vorerst nur schwer möglich (17), die Gefahr einer möglichen Re-Institutionalisie- rung (3) jedoch zu beachten.

Aus diesen Überlegungen wird deutlich, dass eine Unterbringung psychisch Kranker gegen ihren Willen nicht allein als ordnungsstaatliche Maßnahme zum Schutz der Allgemeinheit verstanden werden kann. Es gibt einen fürsorglichen Aspekt, unter dem eine Un- terbringung wegen krankheitsbedingter Eigengefähr- dung erfolgt. Hier übernimmt die Psychiatrie Aufga- ben, die die Gesellschaft nicht mehr adäquat bewäl- tigt, zum Beispiel – gemeinsam mit den Alten- und Pflegeheimen – die Versorgung der steigenden Zahl dementer Patienten, die zunehmend unter Betreuung stehen (5, 14).

Die Erfahrungen aus Berlin sprechen gegen die An- nahme, dass es unter der Bedingung finanziell knap- per Ressourcen und eines massiven Bettenabbaus not- wendigerweise zu einer Zunahme der Zwangseinwei- sungen auf geschlossenen Stationen kommen muss.

Vielmehr war eine Öffnung der bezirklich sektorisier- ten Aufnahmestationen möglich, obwohl sich in ei-

(modifiziert nach Fähndrich, Eichler 1995, Fähndrich 2005) PsychKG, Pychiatrisches Krankengesetz; BGB, Bundesgesetzbuch TABELLE

Unterbringung nach PsychKG und BGB in Berlin-Neukölln

1984 1988 1995 1999 2003

PsychKG 197 259 292

BGB 80 137 161

Summe 255 146 277 396 453

% aller 28,6 % 13,1 % 12,0 % 13,2 % 12,9 %

Aufnahmen

(5)

nem Bezirk (Neukölln) sogar Hinweise auf steigende Zwangseinweisungen fanden. Für den Versorgungs- alltag der Patienten unter der Bedingung des Betten- abbaus ist weiterhin auf die Bedeutung des Netzwerks der ambulanten Versorgungseinrichtungen zu verwei- sen (18).

In Zeiten knapper Kassen scheint es besonders wichtig zu sein, sich der Stigmatisierung bewusst zu werden, die immer noch bei Patienten und ihren An- gehörigen, aber auch bei im Gesundheitssystem Be- schäftigten gegenüber psychischen Erkrankungen be- steht und die dazu führen kann, dass psychische Er- krankungen verspätet, falsch (im Sinne der Fehlbele- gung) oder gar nicht behandelt werden. Ein niedriger Grad von Zwangseinweisungen ist daher nicht auto- matisch ein Zeichen für eine hohe Toleranz und Inte- gration psychisch Kranker, er kann auch Ausdruck der Vernachlässigung dieser Patienten und ihres Leidens sein.

Aus Sicht der Therapeuten hat dies Finzen (1988) klar formuliert: „Es wäre unethisch und unmensch- lich, diejenigen Kranken ihrem Schicksal zu überlas- sen, die nicht nach Hilfe suchen können, weil sie die Fähigkeit dazu durch ihre Krankheit verloren haben.

Das Dilemma ist unausweichlich. Die Anwendung von Zwangsmaßnahmen kann brutal sein, der Verzicht auf sie dennoch nicht menschlich“ (19).

Angesichts der Stigmatisierung von psychisch Kranken kann der Versuch, die Türen zu öffnen und die stationäre Behandlung nur als Glied einer Kette von Behandlungs- und Rehabilitationsmaßnahmen zu sehen, dazu beitragen, den Alltag auf der Station so normal wie möglich zu gestalten. Psychische Erkran- kungen sind dabei von besonderem medizinischem und ökonomischem Interesse, weil psychiatrische Er- krankungen nach der World Health Organization (WHO) an führender Stelle der „burden of disease“

stehen (20).

Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.

Manuskriptdaten

eingereicht: 7. 6. 2005, revidierte Fassung angenommen: 21. 12. 2006

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Anschrift für die Verfasser Prof. Dr. med. Andreas Heinz Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Charité Universitätsmedizin Berlin Campus Mitte

Schumannstraße 20–21 10117 Berlin

The English version of this article is available online:

www.aerzteblatt.de/english

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