A3118 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 46⏐⏐17. November 2006
M E D I Z I N
Sehr bedenklich ist auch die Beobachtung, dass die Be- reitschaft für die zweite Impfung bedeutend niedriger ist (Deutschland durchschnittlich 51 Prozent; Schwan- kungsbreite von 13 Prozent bis 77 Prozent). Diese Zah- len verdeutlichen, dass die Eradikation der Masern ge- genwärtig vor allem von einer intensiven Aufklärung der Bevölkerung abhängt. Dazu gehört beispielsweise, dass Ärzte und Patienten über die Bedeutung einer Grundim- munisierung aufgeklärt werden. Es genügt nicht, in den Impfempfehlungen lediglich zwei Dosen zu erwähnen, es muss gleichzeitig darauf hingewiesen werden, dass ein belastbarer Impfschutz erst drei bis vier Wochen nach der zweiten Impfung erwartet werden kann. Unter diesen Gesichtspunkten sollte die Einführung der globa- len Pflichtimpfung gegen Masern diskutiert werden.
Der dringlichen Forderung der Infektionsmediziner, Schutzimpfungen zur Bekämpfung und Tilgung von Infektionskrankheiten gezielt einzusetzen, steht die Angst eines großen Teiles der Bevölkerung vor Impfri- siken und Impfkomplikationen gegenüber. Sie wird manchmal durch die Warnungen von Ärzten verstärkt.
Neben medizinischen Bedenken spielen hierbei sicher zwei wichtige Gründe eine nicht geringe Rolle. Bei Impfungen müssen zum einen umfangreiche Vorschrif- ten (wie Information der Impflinge, Anamnese zur Impffähigkeit und Dokumentation) beachtet werden, die zeitlich einen Aufwand erfordern, der durch die ak- tuelle Gesundheitsreform kaum abgedeckt wird. Zum anderen ist die rechtliche Lage des Impfarztes beim Auftreten von Schäden schwierig.
Die verfügbaren Impfstoffe in der Human- wie in der Tiermedizin sind sehr gut verträglich. Das Impfrisi- ko steht deshalb in keinem Verhältnis zu dem Nutzen für den Einzelnen, aber vor allem auch für die Allge- meinheit (Empfehlungen der STIKO, regelmäßige Ak- tualisierungen). Durch die Abschaffung der Impfpflicht in der Humanmedizin ist weitgehend in Vergessenheit geraten, dass Schutzimpfungen erst nicht in erster Linie dem individuellen Schutz dienen. Im Vordergrund stand und steht der Schutz der Allgemeinheit. Man spricht in diesem Zusammenhang vom „Aufopferungs- anspruch“ der Gemeinschaft an den Einzelnen. Um die
Impfmüdigkeit der Ärzte einzuschränken, sollte dabei aber auch an eine „Aufopferungspflicht der Gemein- schaft für den Einzelnen (Arzt)“, also eine Erleichte- rung der Arbeitsbedingungen und eine rechtliche Absi- cherung der Ärzte, gedacht werden.
Eine weitere Verbesserung der Impfprophylaxe im Sinne einer Senkung oder Vermeidung von Nebenwir- kungen und Erhöhung des Immunschutzes kann durch ei- ne Paramunisierung (Stimulierung des paraspezifischen Immunsystem im Sinne einer Regulierung), wie sie in der Tiermedizin seit circa zwei Jahrzehnten bekannt ist, er- zielt werden. Geeignete Paramunitätsinducer sind gegen- wärtig in der Zulassung für die Humanmedizin.
Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 25. 10. 2005, revidierte Fassung angenommen: 6. 5. 2006
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Anschrift des Verfassers
Prof. Dr. med. vet. Dr. h. c. mult. Anton Mayr Weilheimer Straße 1
82319 Starnberg
E-Mail: mayr@starnberg-mail.de
REFERIERT
Homocystein-Senkung bessert nicht kognitive Leistungsfähigkeit
Bei älteren Menschen gehen hohe Homocystein-Spiegel mit einer Ein- schränkung der kognitiven Leistungsfähigkeit einher. In einer zweijähri- gen doppelblinden placebokontrollierten randomisierten Studie mit 276 gesunden über 60-Jährigen mit einem Homocystein-Spiegel von über 13 mmol/L erfolgte eine Homocystein senkende Behandlung. Diese bestand
aus der täglichen Gabe von 1 000 mg Folsäure, 500 mg Vitamin B12 und 10 mg Vitamin B6 beziehunsgsweise Placebo. Die Probanden ab- solvierten Kognitionstests zu Beginn der Studie sowie nach ein und zwei Jahren. Obwohl durch die Vitaminsupplementierung der Homocystein- Spiegel in der Verumgruppe signifikant abnahm, stellten die Autoren kei- ne signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen beim Abschneiden
der Kognitionstests fest. w
McMahon JA, Green TJ, Skeaff CM et al.: A controlled trial of homocysteine lowering and cognitive performance. N Engl J Med 2006; 354: 2764–72.
E-Mail: murray.skeaff@stonebow.ac.nz