Peter Netz: Psychisch kranke alte Menschen und soziale Unterstützung. Vom Bürger zum Heimbewohner oder warum psychisch kranke alte Menschen in ein Heim übersiedeln, Mabuse-Verlag, Frankfurt/Main, 1996, 230 Seiten, 38 DM
Angesichts der Tatsache, daß Heimversorgung die fi- nanziell aufwendigste Form sozialer und pflegerischer Ver- sorgungen darstellt, leistet die im Rahmen eines größeren Forschungsprojektes zur Eva- luation des Gerontopsychia- trischen Zentrums in Güters- loh als Dissertation entstande- ne Arbeit von Netz einen Bei- trag zur Diskussion um den vernünftigen und angemesse- nen Einsatz von Ressourcen.
Soziale Netzwerke
Nach Darstellung aller Be- funde vertritt Netz die An- nahme, „nicht die krankheits-
bedingten Beeinträchtigun- gen, sondern unzureichende Unterstützungsmöglichkeiten des sozialen Netzwerkes führen zu einem Heimein- tritt“. Dabei kann anhand von Beispielen gezeigt werden, daß Heimunterbringungen nicht etwa durch die Zahl der zur Verfügung stehenden An- gehörigen und Bezugsperso- nen und auch nicht unbedingt durch das Zusammenleben mit der hilfsbedürftigen Per- son in einem Haushalt vermie- den werden. Vielmehr können stützende soziale Netzwerke auch für pflegebedürftige und psychisch erheblich veränder- te Personen geschaffen wer- den, die allein leben, sofern zuverlässige Bezugspersonen auf ein bedarfsorientiertes Angebot qualifizierter Hilfen zurückgreifen können.
Es ist jedoch nicht allein die strukturelle Qualität der pro- fessionellen Netzwerke, die die informellen sozialen Hilfen unterstützt, sondern auch die inhaltliche Ausrichtung der therapeutischen und pflegeri-
schen Angebote. Der beson- dere Wert des Buches liegt darin, daß es die Bedeutung ei- ner vorangegangenen Kran- kenhausbehandlung als Fak- tor für die Einweisung in ein Heim identifizieren konnte.
Netz spricht von einer „offen- kundigen Katalysatorfunkti- on“ des Krankenhauses bei der Heimübersiedlung. Er ver- mutet dahinter ein „stationär ausgerichtetes Denken“.
Gegenwärtige Mängel
Die Diskussion um die Öff- nung der stationären Behand- lung auch in den ambulanten Raum hinein, die vor allem in der Vergangenheit fast aus- schließlich mit gesundheits- ökonomischen Argumenten geführt wurde, hat also auch eine inhaltliche Dimension. Es ist eine Diskussion über die in- haltliche Qualität der Kran- kenhausbehandlung, die durch ihre strukturelle Beschrän- kung auf den stationären Be- reich auch einer „Ideologie des Stationären“ anheimfällt. Das hat für die Betroffenen meist fatale Konsequenzen. Eine
Diskussion über die Ausrich- tung der Ziele einer sta- tionären Behandlung ist so- wohl in den psychiatrischen Krankenhäusern als auch in den Allgemeinkrankenhäu- sern noch zu führen. Sie kann von den Untersuchungsergeb- nissen profitieren.
Offenbar ist nicht nur im stationären, sondern auch im außerstationären Bereich ne- ben der fachlichen Qualität der angebotenen Hilfe auch immer deren Ausrichtung auf ein bestimmtes Hilfesystem hin von entscheidender Be- deutung für die Ergebnisse einer Behandlung. Wer sich nur das Heim als Ort für die Behandlung und pflegerische Versorgung chronisch kran- ker Menschen vorstellen kann, der wird auch keine In- itiative für ambulante Alter- nativen aufbringen.
Es ist das besondere Ver- dienst von Netz, diesen Zu- sammenhang in den Feldern Behandlung, Prävention und Rehabilitation zu diskutieren und aus der Darstellung der gegenwärtigen Mängel in der Versorgung für psychisch kranke Ältere Vorschläge zu deren Behebung zu machen.
Friedrich Leidinger, Köln
A-2906 (14) Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 45, 8. November 1996
S P E K T R U M BÜCHER