Von links nach rechts: Otto Boehringer, Ingelheim; Altabt Ohlmeyer mit dem Faksimile in Händen; Prof. Gundolf Keil, Medizinhistoriker in Würzburg; Ludwig Brunnengräber, Bürgermeister von Lorsch
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Das älteste Kompendium der Medizin auf deutschem Boden wurde jetzt in Lorsch der Öffentlichkeit vorgestellt.
Im Rahmen eines medizin- historischen Symposions, ei- nem der Höhepunkte der 1225-Jahr-Feier der Stadt Lorsch, wurde das „Lorscher Arzneibuch" in einer faksimi- lierten und in einer populär- wissenschaftlichen Ausgabe präsentiert.
Unter der Bezeichnung
„Bamberger Codex" ist diese Handschrift aus dem achten Jahrhundert, die zu den älte- sten des Abendlandes über- haupt gehört, in der Wissen- schaftsgeschichte schon seit langem bekannt. Erst vor vier Jahren jedoch erahnten Ex- perten die außerordentli- che Bedeutung des Werkes aus der Benediktiner-Abtei Lorsch: Nach intensiver Er- forschung stellte nun der Würzburger Medizinhistori- ker Prof. Dr. Gundolf Keil fest, daß das Lorscher Arz- neibuch an der „Spitze des modernen medizinisch-natur- wissenschaftlichen Neuan- fangs" steht.
Daß dem Lorscher Arz- neibuch jetzt der Stellenwert zugewiesen wird, der ihm ge- bührt, ist nicht zuletzt auf die Bemühungen einer engagier- ten Lorscher Bürgerin zu- rückzuführen. Zuerst war es das Interesse an Pflanzen, doch bald entdeckte Adel- heid Platte aus Lorsch, daß sie mit der alten Handschrift, in der sie Ende 1984 nach ei- nem Hinweis auf Pfingstrosen suchte, auf etwas Besonderes gestoßen war.
Gut ein Jahrtausend ruhte das Werk als „Codex Bamb.
Med. 1" in Bamberger Biblio- theken, bevor deutlich wurde, daß es sich um ein wesent- liches Dokument der Medi- zin- und Pharmaziegeschichte handelt, welches den Neube- ginn der Heilkunde im frühen
Mittelalter dokumentiert.
Frau Platte stieß nämlich bei der beschwerlichen Lektüre einer Kopie der lateinischen Schrift in karolingischer Mi- nuskel auf einen deutschen Pflanzennamen, der ihr zu denken gab. Der Medizinhi- storiker Prof. Dr. Gundolf Keil von der Universität Würzburg schließlich identifi- zierte die Bezeichnung
„uuizebluomon" als eine Ka- millenart und lokalisierte sie anhand von Kriterien rhein- fränkischer Mundart zusam- men mit weiteren deutschen Glossen in die Oberrhein- ebene.
Damit wurde aber auch klar, daß der „Bamberger Co- dex" nicht — wie lange vermu- tet — romanischen Ursprunges ist, sondern seine Heimat in der Stadt Lorsch findet. Wei- tere Forschungen am Institut für Medizingeschichte an der Universität Würzburg, die durch die Unterstützung des Pharmaunternehmens Boeh- ringer Ingelheim und der Stadt Lorsch möglich wurden, ergaben also, daß dieses nun neu als „Lorscher Arznei- buch" betitelte Schriftstück das 764 gegründete Benedik- tinerkloster in Lorsch als ein Zentrum früher Heilkunde in Europa ausweist. Offensicht-
lich ist zudem, daß die nicht illustrierte Handschrift mit 75 Pergamentblättern ein ganz wichtiges Bindeglied zwi- schen antiker und wissen- schaftlicher Medizin darstellt.
Im Jahre 795 namenlos verfaßt, enthält das Werk, wahrscheinlich erstellt durch einen der weltlichen Gelehr- ten oder einen der studierten Mönche aus der sogenannten Hofakademie Karls des Gro- ßen, zunächst einen Beitrag zur Rechtfertigung der Heil- kunde. Dieser Text macht das Lorscher Arzneibuch zu einer regelrechten Kampfschrift gegen medizinfeindliche Ten- denzen des Christentums, das eher auf Wunder als auf Wis- senselemente setzte.
Aber eben die Christen, genauer gesagt der Orden der Benediktiner, setzten Ende des achten Jahrhunderts ei- nen Neuanfang in der Heil- kunde. Auf die Etablierung einer neuen Ethik — der Eid des Hippokrates war zu die- ser Zeit im abendländischen Westen nicht verfügbar — folgt unter anderem auch ei- ne Propagierung der „Ko- stendämpfung": anstelle kost- spieliger Spezereien preist der Lorscher Klosterarzt hei- mische Wiesenkräuter an.
Diesem Motto folgt schließ-
lich auch die Zusammenstel- lung späterer Rezepte.
Doch zuvor wird in die Medizin eingeführt. Es be- ginnt mit einer groben Dar- stellung der Anatomie (etwa:
„Der ganze Körper des Men- schen besteht aus 229 Kno- chen") und vermittelt medizi- nisch-naturwissenschaftliche Grundlagen in einem Frage- Antwort-Spiel: „Warum wer- den Menschen rot vor Wut und blaß vor Angst? Weil in der Wut das Pneuma den ganzen Körper durchdringt und so die Menschen rot wer- den läßt. Wenn sie sich aber fürchten, werden sie blaß, weil das Blut ins Innere flieht;
wo es sich nämlich entzieht, hinterläßt es Blässe und Kälte."
Mit über 200 Heilpflanzen führt das Lorscher Arznei- buch schließlich in eine ganz neue Ara der Heilkunde ein.
Beschrieben werden sowohl Kosmopoliten als auch Pflan- zen, die nur in mediterranen Ländern vorkommen, vor al- lem aber andere, die in südli- chen Gefilden heimisch sind, in gärtnerischer Pflege aber auch bei uns wachsen kön- nen, sowie urwüchsige einhei- mische Kräuter.
Interessant ist zu guter Letzt noch die Auflistung von mehr als 400 Rezepturen, die im Lorscher Arzneibuch zu finden sind. Manche regen heute freilich zum Schmun- zeln an, andere aber lassen durchaus an gültige Vor- schriften erinnern: Gegen Kopfschmerz wird beispiels- weise empfohlen, „frische Minze und Laudanum mit Es- sig" auf die Stirn zu reiben —
„es heilt wunderbar". Und
„damit die Mahlzähne und al- le Zähne unversehrt und un- empfindlich bleiben und nicht wackeln"? — „Man läßt jeden Morgen nüchtern ein Salz- körnlein unter der Zunge zer- gehen!" hem
Das Lorscher Arzneibuch ist in der Wissenschaftlichen Verlagsgesellschaft Stuttgart in zwei Bänden (Faksimile und Übersetzung) neu aufgelegt worden; Subskriptionspreis bis 31. Dezember 1989: 348 DM, danach 420 DM
Wie aus dem Bamberger Codex das Lorscher Arzneibuch wurde
Das älteste deutsche
Medizinkompendium hat heimgefunden
A-3316 (76) Dt. Ärztebl. 86, Heft 44, 2. November 1989