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Archiv "Warum Diskussion der aktiven und der passiven Euthanasie auch in Deutschland unvermeidlich ist: Nur Minderheit dafür" (13.09.1990)

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baren und Behinderten geführt hat.

Das Denkschema ist immer dassel- be: Die Prämisse ist die Selbstbe- stimmung des Menschen, die erst ab- solut gilt, wenn der Mensch auch das Recht auf den eigenen Tod hat. Dar- aus wird rationalistisch abgeleitet, daß dies um so mehr für Leute gel- ten müsse, die nicht selbstbestimmt sind und nicht für sich selbst spre- chen können: Hier müßten Dritte — etwa der Staat — das Recht auf den eigenen Tod gewähren. Der lebens- fremde Rationalismus dieser Argu- mentation führt zwangsläufig dazu, daß auch nur ein Schritt auf diesem Wege alle anderen Schritte nach sich zieht. Zumindest gibt es dann keine Existenzberechtigung mehr für die meisten altersverwirrten, psychisch kranken und geistig behinderten Menschen. Dieses Schema hat schon Jost 1895 vorgeschlagen. Binding und Hoche haben es 1920 ausgear- beitet. Und die Nazis haben 1941 ein Euthanasiegesetz entworfen, das nach dem Krieg Gültigkeit haben sollte und das in allen Einzelheiten

Nur Minderheit dafür

Die Redaktion des Deutschen Ärzteblattes hätte dem nicht einge- weihten Leser deutlich machen müs- sen, um wen es sich bei der Verfasse- rin handelt: nämlich um die engste Mitarbeiterin jenes australischen Bio-Ethikers Peter Singer, der seine Euthanasie-Thesen im Frühjahr 1989 auch in der BRD einem ausge- wählten Publikum zur Kenntnis brin- gen sollte und der nach massiven öf- fentlichen Protesten ausgeladen wer- den mußte.

Frau Kuhse tut in ihrer Ausein- andersetzung mit dem „absoluten Lebensprinzip" — das sie den Geg- nern der Singerschen Thesen unter- stellt — so, als ob es im anglo-ameri- kanischen Sprachraum eine breite Basis für diese Auffassungen gebe.

So zitiert sie eine australische Studie von Singer, Kuhse und eine amerika- nische Studie von Shaw und Mitar- beitern in diesem Sinne. Tatsächlich spricht sich in Singers eigener Arbeit nur eine absolute Minderheit von zwischen 5 und 10 Prozent befragter australischer Geburtshelfer und Kin-

der Vorstellung von Frau Kuhse ent- spricht.

Um noch einmal auf meine an- fangs gestellte Frage zurückzukom- men: So viele Denkfehler kann man nur machen, wenn man aus Mitleid, das in Wirklichkeit Selbstmitleid ist, es nicht wahr haben will, daß zur Verfassung des Menschen als Mög- lichkeit Leiden, Unheilbarkeit, Be- hinderung und Sterben dazugehö- ren, gleichwohl aber jeder Mensch seinen Wert in sich selbst hat, nicht aber erst über bestimmte Qualitäts- kriterien erwerben muß.

Ich bin mit Frau Kuhse einver- standen, daß diese Fragen diskutiert werden müssen, solange wir Men- schen sind — aber nicht so selektiv, voreingenommen und damit falsch, wie Frau Kuhse und ihre Freunde es tun. Aber — wie gesagt — um den gan- zen Menschen geht es Frau Kuhse

auch gar nicht.

Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner, Westf. Klinik für Psychiatrie, Her- mann-Simon-Straße 7, 4830 Güters- loh

derärzte für eine „aktive Euthana- sie" bei schwersten angeborenen Krankheitsbildern wie Anencepha- lie, Spina bifida oder Down-Syndrom mit zusätzlichen Fehlbildungen aus.

In der amerikanischen Arbeit von Shaw mit den Ergebnissen einer Umfrage unter Kinderchirurgen und Pädiatern (1977) werden die Singer- Kuhseschen Thesen ebenfalls nicht unterstützt. Vielmehr heißt es in der Zusammenfassung, daß die „Ent- scheidung über die Behandlung oder Nicht-Behandlung (nicht Tötung, der Verfasser) von schwer fehlgebil- deten Neugeborenen nur in einer in- dividuellen Abwägung in der Einzel- situation in enger Zusammenarbeit mit den Eltern" getroffen werden könne.

Es ist deshalb auch unsinnig, wenn Frau Kuhse behauptet, „das stillschweigende Sterbenlassen von schwerstgeschädigten Neugebore- nen" sei in Deutschland „seit langem die Norm". Zu dieser „Norm" möch- ten uns Singer-Kuhse erst noch brin- gen!

Ich betreue seit vielen Jahren gemeinsam mit Eltern, Schwestern

und ärztlichen Kollegen Neugebore- ne mit Spina bifida (und anderen schweren Fehlbildungen) und ver- wahre mich entschieden dagegen, daß die Singerschen Normen in die- ser Betreuung Anwendung finden könnten.

In seinem auch in deutscher Sprache erschienenen Buch „Prakti- sche Ethik" (Stuttgart 1984) schreibt Singer über diese Kinder: „Einige Arzte, die an schwerer Spina bifida leidende Kinder behandeln, sind der Meinung, das Leben mancher dieser Kinder sei so elend, daß es falsch wä- re, eine Operation vorzunehmen, um sie am Leben zu erhalten. Das be- deutet, daß ihr Leben nicht lebens- wert ist . . . Wenn das stimmt, dann legen utilitaristische Prinzipien den Schluß nahe, daß es richtig ist, solche Kinder zu töten" (181).

Bei dieser Auffassung stützte sich Singer vor allem auf die Arbei- ten und Ansichten von Lorber (Shef- field), der seit 1957 für eine strenge Selektion von Neugeborenen mit Spina bifida eintrat. Singer behaup- tet in der „Praktischen Ethik", dieses Selektions-Verfahren sei „heute fast überall akzeptiert". Tatsächlich hat sich dieses Verfahren außerhalb Englands kaum in größerem Umfang durchsetzen können. Denn bei Licht betrachtet haftet dem Versuch der

„Selektion" bei einem schwer kran- ken Neugeborenen eine gehörige Portion Hybris an: eine Prognose ist zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht möglich, so daß Kinder mit Spi- na bifida heute in der Regel am er- sten Lebenstag operiert werden (Verschluß der Meningocele). Erst danach ist überhaupt die Zeit und Gelegenheit gegeben, mit den Eltern ausführlich über das Krankheitsbild, mögliche Entwicklungen und Behin- derungen und das weitere Vorgehen zu sprechen. Diese aus der Erfah- rung gewonnene, pragmatische Auf- fassung wird auch in neueren wissen- schaftlichen Arbeiten unterstützt. So hat David McLone 1986 in seiner Ar- beit „Treatment of Myelomeningo- cele: Arguments against Selection"

auch in einer vergleichenden Aus- einandersetzung mit den Lorber- schen Ergebnissen nach Selektion herausgefunden, daß „Kinder aus se- lektierten Populationen nicht besse- Dt. Ärztebl. 87, Heft 37, 13. September 1990 (31) A-2699

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re Spätergebnisse aufweisen als sol- che, die selektiert wurden" (Clinical Neurosurgery 33 [1986] 359-370).

Dem Deutschen Ärzteblatt und seinen Lesern wünsche ich, daß die- se Debatte nicht auf der Schiene der Singer-Kuhseschen „Euthanasie"- Vorstellungen fortgesetzt wird. Da- für sprechen nicht nur wissenschaft- liche und ethische Gründe, sondern auch die seriöse Praxis der Betreu- ung schwer fehlgebildeter und unrei- fer Früh- und Neugeborener.

In einer ernsthaften Diskussion braucht der Hinweis auf die Eutha- nasie-Praxis der deutschen Faschis- mus nicht als Totschlag-Argument benutzt zu werden — wie Frau Kuhse meint —, sondern wird ein stets ernst- genommener historischer Hinter- grund und ein Vermächtnis sein und bleiben.

Dr. med. Matthias Albrecht, Am Kuhlenweg 22, 4600 Dortmund 50

Kulturelle Diskrepanz

. . . Ihr Hinweis, daß auch die Akzeptanz der sogenannten passiven Euthanasie implizit eine Unterschei- dung von lebenswertem und nicht le- benswertem Leben enthält, ist si- cherlich richtig. Doch wie jedes handlungleitende Gebot hat auch das Verbot der Unterscheidung von Lebenswertem und nicht Lebenswer- tem seine innere Grenzziehung. So ist die im Entwurf der Gesellschaft für Medizinrecht ausgesprochene Ablehnung einer Abstufung des Schutzes des Lebens kein bloßes Handlungsgebot, sondern eingebet- tet in Prinzipien, deren Kohärenz durch ein nur transzendent zugängli- ches Gebot der Bewahrung der Men- schenwürde gegeben ist.

Hierzu sind — in aller Kürze — ei- nige Unterscheidungen notwendig, bei denen man auch die „Anstren- gung des Begriffes" nicht scheuen sollte.

Ein den Ausführungen von Frau Kuhse zugrunde liegender Präfe- renz-Utilitarismus kennt ein solches, die Kohärenz mehrerernormativer Prinzipien herstellendes, Korrelat, wie es die Rede von der Menschen- würde darstellt, nicht. Sie kann da- her die Frage, warum wir überhaupt

Interessen anderer berücksichtigen sollen, das heißt in der vorliegenden Fragestellung: warum wir nicht töten dürfen, nicht beantworten (warum sollen wir eigentlich nicht Gesunde auch töten). Dafür gibt es offenbar keinen rationalen Grund. Wer Peter Singers Schrift „Praktische Ethik" zu Ende gelesen hat, dem kann die Un- sicherheit des Autors bei der Beant- wortung dieser Frage nicht unbe- merkt bleiben, ist dies doch das grundlegende Problem jeder analyti- schen Ethik.

Im Gegensatz dazu ermöglicht ein die Rationalität übersteigendes Konzept der Menschenwürde ein die Natürlichkeit der Lebensbedingun- gen berücksichtigendes Bild vom Menschen. Dies ist nicht nur in die- sem Zusammenhang, sondern auch bei der Behandlung von ökologi- schen Problemen von Bedeutung.

Unter diesem Gesichtspunkt sind das Verbot der Aufstellung von Kriteri- en zur Beurteilung des Wertes des Lebens (mit der inneren Grenzzie- hung) als auch Unterscheidungen von aktiver und passiver Euthanasie leicht einsichtig zu machen. Bei der letztgenannten Unterscheidung ist auch zu bedenken, daß die Frage nicht lautet, ob es erlaubt ist zu tö- ten, sondern ob wir verpflichtet sind, Leben um jeden Preis zu erhalten.

Im Falle der passiven Euthanasie kann leicht verständlich gemacht werden, daß die physische Ursache des Todes die zugrunde liegende Krankheit ist. Dies setzt jedch einen der Menschenwürde entsprechen- den Naturbegriff voraus. Nicht ohne Grund erleben wir in unserer Zeit allenthalben eine Erneuerung des naturphilosophischen Denkens.

Ob eine Diskussion der Fragen aktiver und passiver Euthanasie wirklich erneuert werden muß, mag dahingestellt bleiben, wird sie doch auch hierzulande seit langer Zeit — jedoch mit weniger Medienaufwand

— geführt. Das Vorhandensein unter- schiedlicher Ausprägungen und ge- sellschaftlichen Engagements bei Behandlung dieser Fragen weist eher auf eine kulturelle Diskrepanz innerhalb der Länder der westlichen Zivilisation hin, über die sich treff- lich spekulieren ließe. Diese Unter- schiede sind jedoch nicht zu bekla-

gen, wobei die weitere Entwicklung eher eine Angleichung zur Folge ha- ben wird.

Dr. med. Stephan Sahm, Städti- sche Kliniken Offenbach, Starken- burgring 66, 6050 Offenbach

Besseres Vorbild

. . . Als Mitarbeiterin von P. Sin- ger, der die Ansicht vertritt, daß die Tötung von schwer mißgebildeten Kindern und Menschen kein Un- recht sei, die nicht „Personen" oder

„selbstbewußte Entitäten" sind, ist Frau Kuhse der Meinung, daß der Begriff der „Heiligkeit des Lebens"

fallengelassen werden sollte, weil er so viel Leiden über die Menschen ge- bracht hat, die durch aktive Eutha- nasie vermieden werden könnten.

Ein Unterschied zwischen aktiver und passiver Euthanasie ist für sie nicht gegeben. Der gedankliche Ver- such, die Summe des Glücks durch Töten der Leidenden zu vermehren, wird zu einer menschlichen Haltung führen, die nur das berechnende und durchsetzungsfähige Leben schätzt.

Hilfsbereitschaft und Hingabe auch an aussichtslose menschliche Situa- tionen werden verkümmern. Unter- schätzen wir nicht die Erfahrungen aus der nationalsozialistischen Zeit, die zeigen, wozu Menschen schließ- lich fähig sind, wenn sie nach Idealen erzogen werden, die nur dem Star- ken und Funktionsfähigen eine Zu- kunft geben wollten.

Wenn Frau Kuhse abschließend die ostafrikanischen Nuer zitiert, die ihr Gewissen damit entlasten, daß sie ein mißgebildetes Kind dem Tod durch Nilpferde überantworten, weil es ein versehentlich bei Menschen geborenes Nilpferd sei, dann hat dies Ubereinstimmung damit, daß auch im Singerschen Denkansatz das Neugeborene ausgegrenzt wird, weil es keine selbstbewußte Person ist, seiner Zukunft und Vergangenheit bewußt, und somit getötet werden kann. Humaner scheint mir der au- stralische Daleburastamm zu han- deln, von dem berichtet wird, daß dort eine Frau, seit der Geburt ein Krüppel, 66 Jahre bis zu ihrem Tod umhergetragen wurde. „Sie lassen die Kranken nie im Stich" heißt es A-2700 (32) Dt. Ärztebl. 87, Heft 37, 13. September 1990

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