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Archiv "Bielefelder Rückenmodell: Stärkere Berücksichtigung personaler und sozialer Faktoren" (17.08.2007)

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D

ie Entstehung von Krankhei- ten ebenso wie die Aufrecht- erhaltung der Gesundheit sind nicht nur von körperlichen, sondern auch von identifizier- und beeinflussbaren psychosozialen Faktoren abhängig.

Diese wissenschaftliche Erkenntnis hat sich in der Struktur und Organisa- tion des deutschen Sozial- und Ge- sundheitssystems noch nicht in an- gemessener Weise niedergeschlagen.

Das gilt vor allem für den kurativen medizinischen Sektor und den noch unterentwickelten Bereich vorbeu- genden Versorgungshandelns insge- samt. Die Folge sind jene bedenkli- chen Tatbestände von Über-, Unter- und Fehlversorgung, auf die der Sachverständigenrat für die Konzer- tierte Aktion im Gesundheitswesen

stellvertretend (heute: Sachverstän- digenrat zur Begutachtung der Ent- wicklung im Gesundheitswesen) 2001/2002 hingewiesen hat (1).

Umso bemerkenswerter ist es, dass die Weltgesundheitsorganisa- tion (WHO) in ihrer zur Jahrhundert- wende entwickelten „International Classification of Function, Disability and Health“ (ICF) den psychosozia- len Faktoren eine ihrer tatsächlichen diagnostischen und therapeutischen Bedeutung entsprechende Rolle ein- räumt. Mit der ICF wird die in den 80er-Jahren des vergangenen Jahr- hunderts entwickelte „International Classification of Impairments, Dis- abilities and Handicaps“ (ICIDH) weitergeschrieben, mit der man zur Modernisierung und Vereinheitli-

chung des Umgangs mit den neuen Massenkrankheiten in den Kranken- häusern und Praxen beitragen wollte (2). Die Autoren des ICF-Schemas bemühen sich zum einen darum, Pro- bleme einer weiter gefassten, rehabi- litative und präventive Aspekte ein- beziehenden Versorgungspraxis in den neuen Kategorien von relativer Funktionsfähigkeit und Gesundheit zu erfassen. Zum anderen legen sie den Anwendern nahe (Grafik), sich nicht ausschließlich auf die Verhin- derung und Behandlung von Krank- heiten und deren Ursachen zu kon- zentrieren, sondern sich mehr um die Entdeckung und Förderung der Res- sourcen kranker beziehungsweise mehr oder weniger gesunder Men- schen zu kümmern.

BIELEFELDER RÜCKENMODELL

Stärkere Berücksichtigung

personaler und sozialer Faktoren

Mit einem neuen Behandlungsansatz unter Anwendung der „International Classification of Function, Disability and Health“ (ICF) soll der Chronifizierung von Rückenschmerz entgegengewirkt werden.

Carla Bonnemann, Detlef Bonnemann, Dirk Hoffmann, Roland Lindig, Franz-Josef Linnenbaum, Peter-Ernst Schnabel, Karl Stadtmann

Niedergelassene Ärztin in Bielefeld, Fachbereich Internisti- sche Rheumatologie (Dr. med. Bonnemann, MPH) Niedergelassener Arzt in Bielefeld, Fach- bereich Orthopädie (Dr. med. Bonnemann) Niedergelassener Arzt in Bielefeld, Fachbereich Allgemeinmedizin (Dr. med. Hoffmann) Medizinischer Dienst der Krankenver- sicherung Westfalen- Lippe, Münster (Dr. med. Lindig) Niedergelassener Arzt in Bielefeld, Fach- bereich Orthopädie (Dr. med. Linnenbaum)

Fakultät für Gesund- heitswissenschaften, Universität Bielefeld, Gesundheitsförderung, Prävention (Prof.

Dr. phil. Schnabel) Niedergelassener Arzt in Bielefeld, Fach- bereich Orthopädie (Dr. med. Stadtmann)

Fotos:Superbild

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Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 104⏐⏐Heft 33⏐⏐17. August 2007 A2249 Konzeptionell wurde der multi-

modale (somato-psycho-soziale) An- satz der ICF in Deutschland im Jahr 2001 mit dem Buch IX (Rehabilitati- on und Teilhabe behinderter Men- schen) in das Sozialgesetz aufge- nommen. 2003 fand dieser Ansatz mit neuen Heilmittelrichtlinien Ein- gang in den Bereich der ambulanten medizinischen Versorgung gesetz- lich Krankenversicherter, aktuell in die Neufassung der Rahmenverein- barung über den Rehabilitationssport und das Funktionstraining nach

§ 44 SGB IX.

Im Jahr 2004 beschloss in Bie- lefeld eine Gruppe niedergelasse- ner Ärzte zusammen mit ortsansäs- sigen Wissenschaftlern und anderen Dienstleistern (9), die in diesen maßgeblichen Regelwerken bereits verankerten neuen Erkenntnisse in der Praxis umzusetzen – und zwar in Form eines multimodal konzipierten ambulanten Programms (Managed- Care-Konzepts) zur Vermeidung der Chronifizierung von Rückenschmer- zen. Dieses „Bielefelder Rückenmo- dell“ soll im Folgenden dargestellt werden. Gleichzeitig wird der Frage nachgegangen, inwieweit dieses Mo- dell für die Beteiligten im Versor- gungsalltag wirklich hilfreich ist oder ob es den bürokratischen Mons- trositäten, die den Alltag in Klinik und Praxis zunehmend beherrschen, nur eine weitere hinzufügt.

In der westlichen Welt ist das un- spezifische Symptom Rückenschmerz ausgesprochen weit verbreitet (3, 4).

Nach der ICD-10 (2) mit M54 codier- te Rückenschmerzen machten 2005 in allgemeinärztlichen Praxen in Nordrhein-Westfalen 14 Prozent, in orthopädischen Praxen 40 Prozent aller behandelten Fälle aus (18).

Beim erstmaligen Auftreten von Rückenschmerzen sind innerhalb ei- ner Woche 60 Prozent, nach sechs Wochen 90 Prozent der Betroffenen wieder arbeitsfähig; nur zehn Pro- zent sind länger als sechs Wochen beeinträchtigt (26). Bei 70 Prozent der erstmalig Betroffenen kommt es zu Rezidiven mit der Tendenz zu län- geren und intensiveren Schmerzperi- oden (24). Diese chronisch rezidivie- renden Fälle verursachten zusam- men mit den chronischen Fällen (cir- ca zehn Prozent aller Fälle) etwa 80

Prozent der diagnosebezogenen Be- handlungskosten (25).

Während es früher vor allem wichtig erschien – und dies wird von vielen Patienten noch immer erwar- tet (4) –, als Ursache für Rücken- schmerzen nach somatischen Struk- turveränderungen zu suchen, häufig mit bildgebenden Verfahren, gilt es heute nach Ausschluss spezifischer Ursachen (red flags), Chronifizie- rungsrisiken rechtzeitig zu identifi- zieren und differenziert zu behan- deln. Dass psychosoziale Probleme, wie zum Beispiel ein schlechtes Ar- beitsklima und Arbeitsunzufrieden- heit, zu Chronifizierung führen kön- nen, ist längst bekannt (15), ebenso die Korrelation zwischen der Dauer der Arbeitsunfähigkeit und der Nicht- rückkehr an den Arbeitsplatz als

negativer personenbezogener Faktor (8). Psychosoziale Faktoren als Prä- diktoren für eine Chronifizierung ha- ben den Evidenzgrad A, Depression, frühere Episoden relevanter Rücken- schmerzen, radikuläre Beschwerden, stark schmerzhafte funktionelle Be- einträchtigung und psychologischer Disstress den Evidenzgrad B (15).

Eine traditionelle Anamnese- und Befunderhebung mit monokausalem und überwiegend physiologischem Design kann die heute bekannten Zusammenhänge zwischen Rücken- beschwerden und Kontext nicht voll abbilden. Die systematische und chronologisch exakte Exploration der sozialen und personalen Faktoren und deren Dokumentation ist aber ei- ne wesentliche Voraussetzung für ei- ne erfolgreiche Therapie, für eine

VERSORGUNGSOPTIMIERUNG DURCH VERNETZUNG

Die ICF führt ihren Anwendern systematisch und gleichzeitig alle derzeit bekannten Aspekte von Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit sowie darauf einwirkende Faktoren vor Augen und versetzt sie so in die Lage beziehungsweise fordert dazu auf, im eigenen Fachbereich wenig oder gar nicht verwendete Indikatoren oder Ansätze in das Diagnose- und Behandlungsgeschehen einzube- ziehen. Im Fall „Rücken“ sehen sich so auch über- wiegend somatisch orientierte Mediziner mit dem Anspruch konfrontiert, die Existenz psychosozialer Indikatoren wahrzunehmen, umgekehrt haben sich auch wenig „somatisch“ eingestellte Behandler und Sachbearbeiter mit körperbezogenen Kompo- nenten auseinanderzusetzen. Die ICF berücksich- tigt Aspekte des körperlichen (einschließlich des geistigen und seelischen) Funktionierens, Aspekte der gesellschaftlichen Aufgabenerfüllung und Teil-

habe sowie empirisch evidente Umwelt- und Per- sönlichkeitsvariablen, die sowohl an der Entstehung von Krankheiten als auch an der Herstellung und Aufrechterhaltung von Gesundheit beteiligt sind.

Zur Einführung in die Logik der ICF wird in der Regel ein Schema benutzt, das aus der Logik des konventionellen ärztlichen Eingreifhandelns heraus konzipiert ist. „Gesundheitsprobleme“ (Störungen/

Krankheiten) stehen als tonangebender Faktor im Zentrum des Feststellungsgeschehens, auf das der Anwender mit mehr als 1 600 Kategorisierungs- möglichkeiten reagieren kann (2). Die Kategorien sind in vier mit „Körperfunktionen und -strukturen“,

„Aktivitäten und Partizipation/soziale Teilhabe“,

„Umweltfaktoren“ und „personenbezogene Fakto- ren“ bezeichnete Komponenten untergebracht und dem Gesundheitsproblem oder Krankheitsereignis in völlig gleichwertiger Weise zugeordnet.

GRAFIK

Komponenten der ICF in modifizierter (problementstehungs- und verlaufs- logischer) Ordnung

Umweltfaktoren personenbezogene

Faktoren

soziale Partizi- pation/Teilhabe personale

Aktivitäten Körperfunktionen

und -strukturen

Funktionsbeeinträchtigungen/-fähigkeit Gesundheitsprobleme/Gesundheit

t

(3)

gute Führung der Patienten und für eine wirklichkeitsnahe Einschätzung der Prognose – nicht nur im Fall von Rückenschmerzen.

Bekannt ist, dass (unspezifische) Rückenschmerzen, heute als somato- psychosozialer Symptomenkomplex aufgefasst, durch die Verbesserung motorisch-funktioneller Fähigkeiten gut zu beeinflussen sind. Auch bei starkem Schmerz besteht für die güns- tige Wirkung aktivierender Übungen eine starke Evidenz (14), wohingegen für den spezifischen Rückenschmerz medikamentös-physikalische Inter- ventionen anerkannt sind (6).

Entwicklung mit Praxisbezug Nach § 295 SGB V sind die an der vertragsärztlichen Versorgung teil- nehmenden Ärzte und ärztlich gelei- tete Einrichtungen verpflichtet, Dia- gnosen zur Begründung von Arbeits- unfähigkeit und zur Abrechnung durchgeführter Leistungen nach der ICD zu verschlüsseln. Unspezifi- scher Rückenschmerz wird mit M54 codiert. Psychosoziale Faktoren nach Lebensbereichen lassen sich dem Diagnose- und Behandlungsgesche- hen nach der ICD kaum, nach Sche-

ma der ICF genau zuordnen. Auch motorisch-funktionelle Fähigkeiten und andere Funktionen lassen sich mit der ICD nicht genau abbilden, können aber mit der ICF klassifiziert werden. So wird in der ICD-10 Schmerz als Gesundheitsstörung mit R52.9, segmentale und somati- sche Funktionsstörungen werden mit M99.0, anhaltende somatoforme Schmerzstörungen mit F45.4 codiert.

Die ICF gibt differenziertere Be- zeichnungen motorischer, psychomo- torischer, psychischer und anderer Funktionen vor und lässt Klassifizie- rungen zu, zum Beispiel Muskelkraft mit b730, Muskeltonus mit b735, Muskelausdauer mit b740, Schmerz mit b280, emotionale Funktionen mit b152. Die ICF bietet die Chance, neben den Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Partizi- pation, erstmalig auch Umweltfakto- ren und personenbezogene Faktoren und ihren Einfluss auf die Funktions- fähigkeit beziehungsweise Behin- derung abzubilden und in diagnosti- sche und therapeutische Überlegun- gen einzubringen.

Als niedergelassene Orthopäden in Bielefeld in ihrem Qualitätszir-

kel beschlossen hatten, das bekann- te und in SGB IX und Heilmittel- Richtlinien bereits verankerte Wis- sen um die Bedeutung psychoso- zialer Faktoren für die Entstehung und Chronifizierung von Krankheit und die (Wieder-)Herstellung von Gesundheit künftig bei der Ver- sorgung von Patienten mit Rü- ckenschmerzen umzusetzen, gab es noch kein in der vertragsärztlichen Versorgung bewährtes Programm zur systematischen Identifizierung der bekannten Risiko- und Schutz- faktoren (11), Chronifizierungs- und Behandlungspotenziale. Auch ein Programm zur multimodalen ambu- lanten Frühbehandlung stand nicht zur Verfügung. So wurde beschlos- sen, ein eigenes Konzept zu erar- beiten. Dem Risiko einer einseiti- gen Betrachtungsweise und damit dem Risiko der Einleitung wohlge- meinter, aber dennoch nicht ziel- führender Weichenstellungen und Behandlungen sollte vorgebeugt werden. Angestrebt wurde zudem (analog zum Verfahren in aner- kannten Rehabilitationskliniken) ei- ne fachübergreifende Perspektive und ein multimodal konzipiertes, praxistaugliches Behandlungsver- fahren, deshalb schlossen die Or- thopäden sich mit Experten ande- rer Fachgebiete (Allgemeinmedizin, Gesundheitswissenschaften, Psycho- logie, Physiotherapie, Sportpäda- gogik und anderen) zusammen. In diesem Kreis wurde ein fach- und trägerübergreifendes Modell, das

„Bielefelder Rückenmodell“ (9) entworfen und seit 2005 in die Pra- xis eingeführt.

Hierbei werden zusätzlich zur üblichen Basisuntersuchung der Wir- belsäule (Untersuchungstechniken der manuellen Medizin) die in der Tabelle zusammengefassten Para- meter erhoben.

Zur rechtzeitigen Erfassung von Chronifizierungsrisiken werden bei Patienten mit undifferenzierten Rü- ckenschmerzen, die noch nach ein bis zwei Wochen Behandlung „an Aktivitäten des täglichen Lebens nur mit Mühe, mithilfe von Medikamen- ten oder fremder Hilfe teilhaben können“, die bekannten Chronifizie- rungsprädiktoren (11) mittels einer Checkliste erhoben. Hierbei werden TABELLE

Im Rückenmodell erhobene Daten, Diagnosen und sonstige Parameter Zeitkriterien für Rücken- Schmerzdauer schmerzfreie Zeit schmerz (19, 23)

„akut“ < 4 Wochen > 6 Monate

„akut persistierend“ 4–12 Wochen > 6 Monate

„chronisch rezidivierend“ < 4 Wochen < 6 Monate

„chronisch“ > 3 Monate –

Räumliche Kriterien Spezifizierung und Dokumentation

Lokalisierung mono-, multiokulär

Ausstrahlung radikulär, pseudoradikulär

Spezifizierung und Dokumentation von Diagnosen

Differenzierung der spezifischen bzw. Differenzierung der unspezifischen, komplizierten Rückenschmerzen undifferenzierten bzw. unkomplizierten („red flags“) nach ICD-10 Rückenschmerzen (und „yellow flags“) nach Schema der ICF (deutsche Fassung) z. B. Tumor, Ent- Komorbidität: Ebene der Körper- Personen- und zündung, Fraktur, z. B. Diabetes, funktion und andere Kontext- Osteoporose, Band- Depression -struktur: faktoren:

scheibenvorfall, z. B. Schmerz, z. B. Berufstätig-

Radikulopathie, Emotion, Muskel- keit, Familie

schwere degene- kraft

rative Verände- rungen

(4)

Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 104⏐⏐Heft 33⏐⏐17. August 2007 A2251 neben Schmerzdauer und Schmerz-

charakter die personen- und umwelt- bezogenen Faktoren, wie Angst- und Vermeidungsverhalten, Krankheits- konzept und soziale Komponenten, systematisch erfasst. Ergänzend wer- den evaluierte Befragungsinstrumen- te eingesetzt. Die Schmerzstärke wird mit einer visuellen Analog- skala gemessen. Bei Hinweisen auf eine Störung werden die Körper- funktionen Muskelkraft, -tonus und -ausdauer unter ärztlicher Leitung EDV-unterstützt untersucht (21, 22).

Die Untersuchungsergebnisse sind Grundlage für die Auswahl gezielter Aufbaumaßnahmen und Behand- lungspfade im Rahmen eines inter- disziplinären und methodisch inte- grierten Versorgungskonzepts, das folgende Optionen für das therapeu- tische Vorgehen enthält (9):

> Bei akutem Rückenschmerz Motivierung und Anleitung, aktiv zu bleiben.

> Bei chronischem und von Chronifizierung bedrohtem Rücken- schmerz erfolgt ein aktivierendes multidisziplinäres Behandlungspro- gramm in der Gruppe.

> Bei sozialen Problemen werden geeignete städtische Dienstleistungs- zentren und Sozialleistungsträger eingeschaltet (Kranken-und Renten- versicherung, Betriebsarzt, Schul- denberatung, Versorgungsamt, Ar- beitsagentur).

> Bei erkennbar schweren Kon- flikten wird eine psychologische Be- ratung angeboten, von dort erfolgt gegebenenfalls eine Weiterleitung an Psychotherapeuten zur Abklärung oder eine Intervention.

> Bei nachgewiesen schwerer Dekonditionierung der tiefen Rü- ckenstreckmuskulatur erfolgt eine leitliniengerechte medizinische Kräf- tigungstherapie (20) mit dem LE- Sequenztrainingsgerät (MedX) ein- schließlich eines Ergänzungspro- gramms mit einem progressiv dyna- mischen Muskeltraining.

> Bei Hinweisen auf eine Fehl- und Überbelastung am Arbeitsplatz erfolgt ein zusätzliches berufsspezi- fisches Training bisher vermiedener Bewegungsabläufe, der Abbau spe- zieller Bewegungsangst (Fear Avoid- ance) und die Wiedereingliederung in Beruf und Alltag.

Außer wenn schwere Konflikt- situationen oder muskuläre Dekondi- tionierung der tiefen Rückenstrecker separate Maßnahmen erfordern, neh- men die Patienten an einem mul- timodal konzipierten „Grundkurs Rücken“ teil. Hier werden somato- psychosoziale Aspekte in Theorie und Praxis behandelt. Sechs Wochen lang werden zweimal wöchentlich psychoedukative Verfahren, Entspan- nung, Verhaltenstherapie, Schmerz- bewältigung als psychologische Schmerztherapie und medizinische Kräftigungstherapie angeboten, ge- rätegestützt und ohne Geräte, mit Hinweisen auf organisierte und nicht organisierte rückengesunde Bewe- gungsmöglichkeiten vor Ort und in Kooperation mit Sportverbänden der Stadt. In der modifizierten Form (Grafik) dient die ICF dem Versor- gungsteam bei der Bemühung, Pati- enten zu aktiver Teilnahme, sicherer Selbsteinschätzung und Befähigung zur Nutzung eigener Ressourcen zu motivieren als praktisches Gerüst.

Ziel ist das Erlernen von Verhaltens- mustern zur Stärkung der Rücken- gesundheit, die auch zu einem ver- besserten Gesamtbefinden führt. Das Risiko einer Somatisierung oder Neurotisierung des Patienten – je nach Perspektive des jeweiligen Be- handlers – wird durch interdiszi-

plinären Erfahrungsaustausch und multimodales Vorgehen minimiert.

Im Bielefelder Rückenmodell wird das Konzept, Tendenzen zur Chronifizierung von Rückenschmer- zen schon im Rahmen der ambu- lanten Versorgung gesetzlich Kran- kenversicherter durch multimodale Ansätze besser und rechtzeitiger als bisher zu identifizieren, ihnen ent- gegenzuwirken und einer Fehlver- sorgung gegenzusteuern, unter Pra- xisbedingungen modellhaft erprobt.

Hierbei hat es sich bereits jetzt als praktikabel und nützlich erwiesen, das von der WHO entwickelte und 2004 ins Deutsche übersetzte Ge- dankengut der ICF als Orientie- rungs-, Konstruktions-, Formulie- rungs- und Argumentationshilfe zu benutzen. Dies ist bisher nur bei der Einleitung und Durchführung sta- tionärer Rehabilitationsverfahren in Deutschland Standard, nicht jedoch am Anfang der Versorgungskette, auf den allerdings § 3 SGB IX besonders hinweist (Vorrang von Prävention).

Sich aber darauf zu beschränken, die ICF lediglich experimentell oder als Hilfsinstrumentarium spezieller Versorgungssektoren zu betrachten, hieße, sie wichtiger Potenziale zu be- rauben. Die Praxis ist über alle Sek- toren der Sozialversicherung hinweg gefordert, sich möglichst früh ein umfassendes Bild vom Krankheits- geschehen zu machen, welches dem Stand der aktuellen Gesundheits- und Versorgungsforschung entspricht. An diesem sollte sie nicht nur ihr dia- gnostisches und therapeutisches Ver- halten, sondern im Interesse einer nachhaltig wirkenden und an den verschiedenen, im Lebenslauf auf- tretenden Bedürfnissen orientierten Versorgung, auch ihr auf primär-, se- kundär- und tertiärpräventive (reha- bilitative) Effekte zielendes Verhal- ten ausrichten.

❚Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2007; 104(33): A 2248–51

Anschrift für die Verfasser Dr. med. Detlef Bonnemann Sprecher der AG „Rückenschmerz“

im Qualitätszirkel der Bielefelder Orthopäden Breedenstraße 26

33649 Bielefeld Eine erfolgreiche

Therapie setzt die systematische und chronologisch exak- te Exploration der sozialen und per- sonalen Faktoren voraus.

Literatur im Internet:

www.aerzteblatt.de/lit3307

@

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12. MedX Utilisation Steering Committee: Con- sensus Guidelines for the Utilisation of Me- dX Medical Testing and Exercise Machines in Spinal Rehabilitation Programs, Appro- ved for Adoption September 1995.

13. Nelson BW et al.: The clinical effects of intensive specific exercise on chronic low back pain: A controlled study of 895 consecutve patients with 1 year follow up.

Low Back Pain, 1995; 18 (14): 971–81.

Hayden JA, van Tulder MW et al.: Syste- matic review: strategies for using exercise therapy to improve outcomes in chronic low back pain. Ann Intern Med 2005;

142(9): 776–85.

15. EU-COST-Action (B13) von 1999 –2004 zur Entwicklung von Leitlinien in der Dia- gnostik und Therapie von Rückenschmer- zen.

16. Mannion AF, Müntener M, Taimela S, Dvorak J: A Randimized Clinical Trial of three Active Therapies for Chronic Low Back Pain. Spine 1999; 23: 2435–48.

17. Waddell G, Newton M, Henderson I, Soer- ville D, Main CJ: A Fear-Avoidance Beliefs Questionnaire (FABQ) and the role of fear avoidance beliefs in chronic low back pain and disability. Pain 1993; 52: 157–658.

18. Ministerium für Arbeit, Gesundheit und So- ziales des Landes NRW, Landesinstitut für den öffentlichen Gesundheitsdienst (siehe Gesundheitsindikatoren L3.19 und L3.22).

19. Ärztliche Zentralstelle für Qualitätssiche- rung (Hrsg.): Leitlinien-Clearing-Bericht

„Akuter Rückenschmerz“. Schriftenreihe der Ärztlichen Zentralstelle für Qualitätssi- cherung. München: Zuckschwerdt 2001.

20. Leitlinie der Gesellschaft für Medizinische Kräftigungstherapie. www.gmkt.org/Datei en/pdf/Leitlinien/Leitlinie.pdf.

21. Bundesärztekammer (Hrsg.): Bekanntma- chungen: Beschlüsse des Gebührenord- nungsausschusses der Bundesärztekam- mer. Dtsch Arztebl 2002; 99(3): A 144.

22. Graves U, Fix C, Pollock M, Leggett S, For- ster D. Carpenter D: Comparison of two Restraint Systems for Pelvic Stabilization

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23. Von Korff M: Studying the natural history of back pain. Spine 1994; 19: 2041–6.

24. Greitemann B, Dibbelt S: Integriertes Or- thopädisch-Psychosomatisches Konzept zur medizinischen Rehabilitation von Pati- enten mit chronischen Schmerzen des Be- wegungsapparates und der Notwendigkeit einer beruflichen Neu- beziehungsweise Umoriertierung (Iopko) – Ergebnisbericht.

Herausgeber: LVA 2004.

25. Fordyce WE (eds.): Back pain in the work place. Management of disability in non- specific conditions. Seattle: IASP Press 1995.

26. Waddell G: The back pain revolution. Se- cond Edition. Edinburgh: Churchill Living- stone 2004.

LITERATUR

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Bonn: Eigenverlag 2001/2002.

2. Deutsches Institut für Medizinische Doku- mentation und Information (DIMDI): ICF – Internationale Klassifikation der Funktions- fähigkeit, Behinderung und Gesundheit.

Deutsches Institut für Medizinische Doku- mentation und Information 2005.

3. Pfingsten M: Angstvermeidungsüber- zeugungen bei Rückenschmerzen. Der Schmerz 2004; 18: 17–27.

4. Göbel H: Epidemiologie und Kosten chro- nischer Schmerzen. Spezifische und unspezifische Rückenschmerzen. Der Schmerz 2001; 15: 92–8.

5. Hirschberg M: Ambivalenzen in der Klassi- fizierung von Behinderung 2003.

6. AWMF Leitlinien: Leitlinien, Rehabilitation bei Bandscheibenvorfall mit radikulärer Symptomatik und nach Bandscheibenope- ration.

7. van Tulder MW: Die Behandlung von Rückenschmerz. Mythen ujnd Fakten. Der Schmerz 2001; 15: 499–503.

8. Pfingsten M, Hildebrand J, Sauer P, Franz D, Seeger D: Das Göttinger Rücken Inten- siv Programm (GRIP). Ein multimodales Behandlungsprogramm für Patienten mit chronischen Rückenschmerzen. Teil 4. Der Schmerz 1997; 11: 30–41.

9. Schnabel PE: Integrierte Versorgung für Patienten mit Rückenschmerz – das

„Bielefelder Rückenmoddell“. www.versor gungsforschung.nrw.de/content/e67/e106 /e659/e660/referenzbox698/object699/Pr of.Schnabel.

10. 2 AWMF, S1 Leitlinie, Chronisch unspezifi- scher Rückenschmerz 1997.

11. Egle UT: Biographische Anamnese. In:

Egle, Hoffmann, Lehrmann, Nix (Hrsg.):

Handbuch Chronischer Schmerz. Schat- tauer 2003.

LITERATURVERZEICHNIS HEFT 33/2007

BIELEFELDER RÜCKENMODELL

Stärkere Berücksichtigung

personaler und sozialer Faktoren

Mit einem neuen Behandlungsansatz unter Anwendung der „International Classification of Function, Disability and Health“ (ICF) soll der Chronifizierung von Rückenschmerz entgegengewirkt werden.

Carla Bonnemann, Detlef Bonnemann, Dirk Hoffmann, Roland Lindig,

Franz-Josef Linnenbaum, Peter-Ernst Schnabel, Karl Stadtmann

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