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Archiv "Atomtechnologie - Ursache sozialer Krankheit?" (21.05.1987)

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Atomtechnologie

Ursache sozialer Krankheit?

„Gesundes Leben nach Tscher- nobyl?" war das Thema einer Podi- umsdiskussion, zu der die Ärzte- kammer Berlin für den 26. April, den Jahrestag der Katastrophe aus der Ukraine, eingeladen hatte.

Der Präsident der Ärztekammer Berlin, Dr. Ellis E. Huber, einlei- tend: „Jeder hat im vergangenen Jahr sinnlich direkt und schmerzhaft erfahren, was es im Lebensalltag heißt, mit der atomaren Bedrohung zu leben." Die durch den Unfall freigesetzte Strahlung sei nicht un- bekannt, sondern mit der zu verglei- chen, die in den 50er Jahren durch die Atomwaffenversuche in der At- mosphäre ausgelöst worden sei. Da- mals habe es einen weltweiten Auf- schrei der Wissenschaftler und Ärzte gegeben, der schließlich zum Atom- teststop-Abkommen von 1963 ge- führt habe. Heute dagegen zwinge der Primat der Politik die Wissen- schaftler zur Zurückhaltung, die Freiheit zur ärztlichen Wahrheitssu- che werde eingeschränkt Die glei- che Gefahr wie damals werde heute als harmlos bezeichnet und herun- tergespielt. Auch das bisherige Po- stulat des Strahlenschutzes, künst- liche Strahlenbelastung so gering wie möglich zu halten, werde beisei- te gewischt.

Dr. Huber wies darauf hin, daß das Risiko der Atomenergie mit an- deren Zivilisationsgefahren nicht vergleichbar sei, weil die Übernah- me dieser Risiken immer das Ergeb- nis einer freien Entscheidung des Menschen sei. Die Risiken der Kernenergie würden dem Menschen demgegenüber von außen auferlegt.

Die Freiheit zur Selbstbestimmung sei ihm genommen Diese fremdbe- stimmte Abhängigkeit, die Ohn- macht gegenüber der Gefahr, bedro- he die Gesundheit der Menschen.

Daher führten auch nicht nur die physikalischen Strahlenfolgen zu Krankheiten. Auch die Erlebnisver- arbeitung des Unglücks setze ge- sundheitliche Schäden. Viel bedeut-

samer und folgenschwerer als die Strahlung sei die „Erlebniskatastro- phe Tschernobyl" (Alexander Mit- scherlich). Die atomare Bedrohung durch Atomkraftwerke führe zu Er- lebniskatastrophen. In den Bezie- hungen der Menschen untereinan- der entstehen Konfliktfelder, die keine symptomfreie Verarbeitung mehr zuließen: Die Menschen wür- den krank. Eine Technologie, die Erlebniskatastrophen der Bevölke- rung zwangsweise mit sich bringe, sei sozialmedizinisch und ärztlich nicht zu verantworten.

Die Berliner Ärzteschaft verste- he den gesetzlichen Auftrag, der Gesundheit des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes zu dienen, in einem radikalen Sinne. Ihr gehe es darum, die Ursachen der Krank- heiten zu erkennen und sie zu be- kämpfen. Unter großem Beifall ap- pellierte Dr. Huber an den Verant- wortlichen, auf die Atomtechnolo- gie zu verzichten, denn diese schade der Gesundheit.

Beifall und Buh-Rufe

Tschernobyl müsse nachdenk- lich machen, meinte auch Prof. Dr.

Jürgen Starnick, Berliner Senator für Stadtentwicklung und Umwelt- schutz. Die Katastrophe vor einem Jahr habe gezeigt, daß große Entfer- nungen von Kernkraftwerken kei- nen verläßlichen Schutz bieten und daß auch ein geringes Restrisiko kei- ne Aussage über den Zeitpunkt ei- nes Unfalls zulasse. Die Prognose, daß ein gleichartiger Unfall wie in Tschernobyl in der Bundesrepublik wegen des höheren Sicherheitsstan- dards wesentlich unwahrscheinlicher sei, quittierte das Publikum mit Un- ruhe und ersten Pfiffen. Der Bericht Starnicks über die Strahlenmeßpro- gramme der Berliner Behörden im Jahr nach Tschernobyl und seine ab- schließende Feststellung, hierdurch sei es gelungen, die Berliner Bevöl-

kerung vor hochbelasteten Lebens- mitteln wirksam zu schützen, wurde mit Gelächter und mit Buh-Rufen beantwortet.

Beifall erhielt dagegen der Mo- derator für eine Bemerkung zu Be- ginn der Podiumsdiskussion, daß es nicht so sehr auf die Zahlen der Meßergebnisse als auf deren Bewer- tung ankomme Die Teilnehmer auf dem Podium zogen eine „Bilanz"

des Jahres nach Tschernobyl. Prof.

Dr. Oberhausen erinnerte daran, daß die Bundesrepublik Deutsch- land bereits am 2. Mai 1986 als er- stes Land Empfehlungen für das Verhalten der Bevölkerung heraus- gegeben habe. Seine Einschätzung, daß es aus dem Grund des Ereignis- ses von Tschernobyl im Augenblick und in nächster Zukunft keinen Grund zu weiteren Vorsichtsmaß- nahmen gäbe, wurde mit Pfiffen und Buh-Rufen bedacht. Das andere Mitglied der Strahlenschutzkommis- sion auf dem Podium, Prof. Dr. Au- rand, zeigte sich beeindruckt von der Angst, die das Ereignis von Tschernobyl in der Bevölkerung ausgelöst hat. Auch er betonte, daß Angst krank machen könne und lei- tete daraus die Pflicht der Ärzte ab, unnütze psychische Belastungen der Bevölkerung zu vermeiden. Vor- sichtsmaßnahmen bei der Nahrungs- aufnahme hielt auch er nicht für not- wendig, da die jetzt gemessenen Strahlendosen im Hinblick auf son- stige Belastungen zu vernachlässigen seien.

Kritischer äußerte sich Prof. Dr.

Edmund Lengfelder. Er meinte, die Behörden seien nach Tschernobyl überfordert gewesen und hätten nicht den Mut gefunden, dies auch zuzugeben. Sein Institut sei zuerst aus Italien um Hilfe gebeten wor- den, und dort habe man die Bevöl- kerung so umfassend informiert, daß das Vertrauen in amtliche Verlaut- barungen gestärkt worden sei. Für Schwangere, kleine Kinder und alte Menschen hielt er Vorsichtsmaßnah- men bei der Nahrungsaufnahme weiterhin für angebracht, jedenfall in Bayern, das andere Meßergebnis- se habe als die für Berlin dargestell- ten.

Dr. Klaus Lischka, Radiologe, Mitglied der Internationalen Ärzte- A-1492 (68) Dt. Ärztebl. 84, Heft 21, 21. Mai 1987

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vereinigung zur Verhütung eines Atomkriegs (IPPNW), warf den Be- hörden vor, sie hätten nach Tscher- nobyl die Anforderungen des § 45 der Strahlenschutzverordnung miß- achtet, die sachgerechte Aufklärung der Bevölkerung sei daher nur durch Privatinitiative und in Selbsthilfe- gruppen möglich gewesen. Auch nach einem Jahr seien weitere Vor- sichtsmaßnahmen bei der Nahrungs- aufnahme insbesondere für Risiko- gruppen erforderlich. Der Einwurf von Prof. Dr. Oberhausen und Prof.

Dr. Aurand, § 45 der Strahlen- schutzverordnung beziehe sich auf den Normalbetrieb von Kernkraft- werken und die dort festgelegten Grenzwerte seien nicht aufgrund konkreter Gefahrenpotentiale, son- dern mit dem Ziel einer Minimalisie- rung festgelegt worden, stieß auf Mißfallen der Zuhörer.

Unterschiedlich bewertete das Panel die Frage, welche Wirkungen die zusätzlichen Belastungen nach Tschernobyl haben und ob zur Zeit ein signifikantes Ansteigen von Tri- somie festzustellen sei.

Als das Publikum in die Diskus- sion einbezogen wurde, fand die Forderung eines älteren Besuchers nach Kennzeichnung aller Lebens- mittel auf Radioaktivität großen Beifall. Die Darlegung von Ober- hausen, daß die natürliche Strahlung in Berlin über 150 millirem betra- gen, die zusätzliche Strahlenbela- stung durch die Nahrungsaufnahme aber voraussichtlich nur 1 millirem ausmachen werde und daß daher der Aufwand einer Kennzeichnung nicht gerechtfertigt sei, wurde vom Audi- torium nicht akzeptiert. -

Der Strahlenschutzkommission wurde vorgeworfen, daß sie mit der Gesundheit der Bevölkerung

„leichtfertig umgegangen" sei.

Auch wurde unterstellt, daß alle Mitglieder der Kommission Atom- kraft-Befürworter seien. Prof. Ober- hausen stellte fest, daß er sich gegen die Unterstellungen und Diffamie- rungen verwahre. Das Publikum blieb jedoch unerbittlich: Der Vor- schlag einer jungen Frau, die derzei- tigen Mitglieder der Strahlenschutz- kommission sollten ihren Platz „jun- gen kritischen Wissenschaftlern"

überlassen, erhielt viel Beifall. JK

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n Holland stand das Buch mona- telang auf der Bestseller-Liste:

„Das falsche Urteil über den Suizid". Darin wird analysiert, ob Selbsttötung in jedem Fall eine mo- ralisch verwerfliche Handlung ist, ob so etwas wie eine Pflicht zu leben existiert — oder ob es verstehbare Gründe für eine Selbsttötung geben kann.

Der Autor, Dr. Harry M. Kui- tert, evangelischer Professor für Systematische Theologie in Amster- dam, hat etliche Bücher zu religi- ösen und ethischen Fragen verfaßt, die in den Niederlanden viel Zustim- mung gefunden haben. In der Bun- desrepublik hingegen rechnet man offenbar eher damit, daß seine sorg- fältig begründeten Ansichten auf Kritik und Ablehnung stoßen könn- ten: Für sein Buch „Ein gewünsch- ter Tod — Euthanasie und Selbstbe- stimmung als moralisches und religi- öses Problem" fand sich bisher noch kein Verleger.

Am Rande eines Kölner Kon- gresses zum Thema „Palliative Krebstherapie" war Zeit, mit Harry M. Kuitert über sein Buch zum The- ma Suizid zu sprechen. Dem Ge- spräch sind Passagen aus diesem Buch beigefügt (in folgenden als Kursivsatz erkenntlich).

„In Deutschland ist es leichter, über Suizid zu reden als über Eutha- nasie", so empfindet es Harry M.

Kuitert nach einem Kongreßtag. Er erinnert sich an eine frühere Erfah- rung: Damals sei er immer ein paar Mal im Jahr zu Gesprächen in Kran- kenhäuser aufs Land gefahren, „in die Provinz: Da war eine große Be- reitschaft, etwas zum Thema „Eu- thanasie" zu hören, mitzureden — kein böses Wort, keine Ausflüchte.

Da hat man das Problem sehr gut ge- spürt. "

Nicht so hier. Beim Thema

„Euthanasie" würde sofort eine Verbindung zu den Praktiken der Nazis gezogen — damit sei das The- ma erledigt.

Selbst Ärzte verdrängten das Thema oft und wiesen darauf hin, daß von ihren Patienten noch keiner um aktive Sterbehilfe gebeten habe.

„Ärzte vergessen, welch große Au- torität sie haben", glaubt Kuitert.

Wenn der Patient keine Chance se-

he , schweige er lieber. Selbsttötung und Euthanasie — zwei problemati- sche Themen, deren Diskussion man zwar trennen sollte, die aber in letz- ter Konsequenz zusammengehören, weil sie zur Auseinandersetzung mit Sterben und Tod zwingen. Kuitert glaubt, daß sie in der moralischen Diskussion um die Erlaubtheit im Kern zusammengehören, weil sie beide um die Fragen nach der Auto- nomie des Menschen kreisen — die wiederum Anlaß zu heftigen Aus- einandersetzungen ist.

Ich wiederhole dies hier, weil es erklärt, warum die Diskussion über die moralische Erlaubtheit von Sui-

DAS BESONDERE BUCH

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Kann der Christ Selbsttötung akzeptieren?

zid das Opfer einer ganz anderen Diskussion werden konnte — und noch immer wird —, nämlich der Dis- kussion zwischen kirchlicher Tradi- tion und Erneuerungsbewegung. Sui- zid wird, wie viele andere Themen — Schwangerschaftsabbruch, Euthana- sie, Zusammenleben Unverheirateter usw. — Beginn eines Emanzipations- kampfes.

Die Kämpfer teilen sich in die Lager „Gegner" und „Befürwor- ter", stereotype Stellungnahmen, die Kuitert ablehnt. Das Stereotype entlarvt er schon in dem Begriff

„Selbstmord": „Selbstmord", sagt er, „das ist ein einziger Tatbestand, das ist ein Alles-über-einen-Kamm- Scheren." Was also sagen? „Selbst- tötung, das ist ein neutralerer, viel- schichtigerer Begriff". So wie Sui- zid. — Die Intention des Buches?

„Meine Intention war es zu ent- krampfen", erläutert Kuitert. „Man kann nichts mit Suizid anfangen, wenn man noch an die unaufgebbare Pflicht zu leben glaubt."

Ein moralisches Urteil kann man fällen — Kuitert fordert jedoch, Dt. Ärztebl. 84, Heft 21, 21. Mai 1987 (71) A-1495

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