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Archiv "150 Jahre Revolution 1848/49: Die demokratische Krankheit" (09.04.1999)

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er die medizinischen, insbesondere die psy- chiatrischen Fach- zeitschriften und Bücher aus den Revolutionsjahren 1848/49 aufschlägt, ist über- wältigt von der Vielzahl der Abhandlungen über die Aus- wirkung der bürgerlichen Re- volution 1848/49 auf das See- lenleben: Mediziner schrie- ben über „den Einfluß der großen politischen und sozia- len Umwälzungen auf Gei- stesstörungen“ oder über „die politische Aufregung in ihrer ätiologischen Beziehung zu den Geistesstörungen“. Die Gegner der Revolution haben scheinbar die Ursache für den

„Wahnsinn“, der sich Demo- kratie nennt, erkannt: „Die Mehrheit der Wahnsinnigen von neuem Datum haben den Wahnsinn im Schooss der (politischen, L. O.) Clubs gezeitigt. Dieser Clubisten- hochmuthswahn ist der Wahn- sinn der Persönlichkeit, die Anbetung des Ichs in seiner höchsten Gestalt. Er weiss al- les, Alles zu machen, Alles zu zerstören“, ist da zu lesen.

„ Freiheit und Wohlstand“

Aber es gab auch Fürspre- cher der Revolution, sogar recht viele Ärzte, die sich an der Bewegung aktiv beteilig- ten. Der Berliner Arzt, Dr.

med. Rudolf Virchow (1821 bis 1902) war der Meinung:

„Gegen Elend und Seuche kann nur der Umsturz helfen,

der zu Freiheit und Wohl- stand führt.“ Und: „ . . . wer kann sich darüber wundern, daß die Demokratie und der Sozialismus nirgends mehr Anhänger fand als unter den Ärzten, daß überall an der äußersten Linken, zum Teil an der Spitze der Bewegung, Ärzte stehen? Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und

die Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen.“ Dr.

Virchow, ein „demokratisch Wahnsinniger“?

Der Bonner Arzt Dr. med.

Franz Richarz (1812 bis 1889), der den Komponisten Dr.

Robert Schumann von 1854 bis zu seinem Tod 1856 in sei- ner Bonner Privat-Irrenan- stalt behandelte, sagte 1848:

„Allerdings muß die Staatsge- sellschaft auch für die Aufhe- bung des Proletariats und für manches Andere noch sor-

gen; auch ist dies für die Ir- renärzte von Wichtigkeit als Maßregel zur Verhütung von Seelenstörung.“ Dr. med.

Richarz, ein „politisch Wahn- sinniger“?

Das Reformbestreben der Ärzte im Bereich der öffentli- chen Gesundheitspflege war in der Tat beachtlich und für viele Mediziner Grund genug,

sich an den politischen und so- zialen Umwälzungen um 1848 aktiv zu beteiligen. Es bedurf- te auch dringend einer Re- formbewegung, die zuneh- mend in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts an Boden gewann. Denn der Gesund- heitsstand der Bevölkerung war erschreckend und die öf- fentliche Gesundheitsversor- gung, die Ausbildungsbedin- gungen für Ärzte, die Arbeits- und Lohnverhältnisse für das Pflegepersonal katastrophal.

Die deutsche Bevölkerung war damals medizinisch völlig unterversorgt. Pro Kopf der Bevölkerung gab es rund fünfmal weniger Ärzte als heute. Trotzdem waren die Ärzte, besonders die auf dem Land arbeitenden, nicht aus- gelastet: Der Arztbesuch war teuer, für die meisten uner- schwinglich. Eine Kranken- versicherung gab es nicht.

Man ging eher zum Kurpfu- scher; der war billiger. Viele glaubten, ein Arzt könne so- wieso nicht helfen. Wie auch, wenn zum einen die Ursache für etliche Erkrankungen un- bekannt war oder in der sozia- len Armut lag und zum an- dern die Ärzte diese Ursa- chen nicht aus eigenem An- trieb beheben konnten?

Stark christlich geprägte Ärzte sahen noch im frühen 19. Jahrhundert in der psychi- schen, geistigen und körperli- chen Erkrankung eine Folge von Erbsünden, eine Strafe Gottes, Folge einer gestörten Beziehung zwischen Gott und Mensch. Handauflegen und Beten schienen wichtige Heil- mittel, und solange die Ein- sicht in das Wesen der Krank- heit fehlte, konnte es kaum wirklich nützliche Heilmittel geben. Die neue Medizin der 40er Jahre hatte es sehr schwer, gegen die staatliche Unfähigkeit zur Gesundheits- pflege anzukämpfen, beson- ders in bezug auf die Behand- lung von psychisch Erkrank- ten: Das Feudalsystem fühlte sich durch die Erkrankten A-936

V A R I A GESCHICHTE DER MEDIZIN

(60) Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 14, 9. April 1999

150 Jahre Revolution 1848/49

Die

demokratische Krankheit

Das Reformbestreben der Ärzte im Bereich der

öffentlichen Gesundheitspflege war beachtlich.

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belästigt und durch den Staat bedroht. Ein notwendi- ger Schritt war es, ärztliche Vereinigungen und Foren mit eigenen Zeitungen und Zeit- schriften zu gründen. Die For- derungen nach Presse- und Versammlungsfreiheit wur- den laut. Die Fragen der öf- fentlichen Gesundheitspflege, die Fragen von dem täglichen Brot und der gesundheits- gemäßen Existenz sollten in Versammlungen und in das Volk hineingetragen werden.

Die bürgerliche Revolution sahen etliche Ärzte als Aus- weg aus den wirtschafts- und sozialpolitischen Mißständen, um medizinischen Fortschritt zu erlangen.

In den meisten deutschen Städten existierten bis in die fünfziger Jahre des 19. Jahr- hunderts keine funktionieren- den Wasserleitungen, keine sanitären Anlagen, geschwei- ge denn eine Kanalisation.

Das Trinkwasser war verun- reinigt. Besonders in den Ar- beitervierteln benutzten Be- wohner und Bewohnerinnen aus vier bis fünf Häusern eine einzige Toilette.

Beispiel Bonn In Bonn gab es zwar fünf Privatanstalten für „Ge- müthskranke“, die jedoch nur von gut situierten und zum Teil auch berühmten Patien- ten aufgesucht wurden. Auch hier, im reichen Bonn, gab es Elend und Armut und soge- nannte arme Irre, und es gab eine Reformbewegung der Ärzte. Dr. Andreas Gott- schalk, Präsident des demo- kratischen Vereins in Köln, Dr. Josef Neunzig, Dr.

D'Ester und viele andere ehe- malige Bonner Medizinstu- denten mußten wegen ihres Engagements vor der Fest- nahme ins Ausland fliehen oder wurden verhaftet, verur- teilt und kamen für Monate und Jahre in Festungshaft.

Das enorme sozialpolitische Engagement auch der Bonner Ärzte war keineswegs grund- los, im Gegenteil. In der Nähe der heutigen Beethovenhalle betreute Dr. med. Carl Hertz (1817 bis 1897) in den Bonner

Stadtmauerzellen die dort eingekerkerten psychisch, gei- stig und körperlich Kranken.

Zu der Zeit existierte noch keine provinzielle „Irrenan- stalt“ in Bonn (erst seit 1882). „Heilbare Irre“ ka- men nach Siegburg in die dortige Irrenanstalt, die 1825 unter Dr. Maximilian Jacobi eröffnet wurde.

Der Bonner Mediziner Dr.

Hertz beklagte die „übelrie- chenden Ünterkünfte“ dieser Eingesperrten, „wo es selbst dem Arzte, der an Man- cherlei sich gewohnt hat, vor Gitterwerke und Halbdunkel bei übelrie- chenden Geruche, der gehemmten Sonnen- oder Ofenwärme, den traurig verunstalteten Menschen- bildern in den engen Räumen unheimlich wird.

Vorraum und Zellen sind käfigartig durch Gestän- ge von Holz voneinander abgetrennt, so daß, was auf dem Vorraume pas- siert, geradezu und un- verhüllt vor den Augen der Kranken passiert und so auch umgekehrt, und der Schall der vom Treiben des Nachbarn herkommt, kaum eine Dämpfung erleidet. Nur spärliches Licht fällt durch verglaste Schieß- scharten.“

Weil die Anzahl der psychisch Kranken in den Zellen der Stadtmauern „im Verhältnis zu anderen Kran- ken und Notleidenden klein ist, (. . .) so ist das öffentliche und municipale Interesse dafür selten sehr wachgewe- sen (. . .) um so mehr empfin- den die davon enger Berühr- ten, wie sehr es damit bei uns im argen liegt.“ Diese, „ohne alle Übertreibung“ genann- ten Tatsachen, so äußert sich der Bonner Arzt, „berechti- gen zu dem Ausspruche, daß für jene unglücklichste Klasse von Menschen in unserer Stadt auf eine überaus dürfti- ge, nachtheilige (. . .) Weise gesorgt ist, was die Lokalität anbetrifft“. Unerträgliche Ar- beits- und Lebensbedingun- gen am Beispiel der Bonner Baumwollspinnerei Weerth

beschreibt der Revolutionär Georg Weerth (1822 bis 1856), übrigens ein Neffe des Fabrikanten. Er nennt „auf der untersten Stufe der Elendsskale“ 60 bis 70 Kinder unter 14 Jahren, die die Hälfte der Beschäftigten in der Spin- nerei ausmachten, eine für die Frühindustrialisierung ty- pische Altersstrukturierung.

Die sechstägige Arbeitswo- che mit täglich 12 bis 13 Ar- beitsstunden und bei Frauen mit vorhergehender und

anschließender Hausarbeit.

Georg Weerth spricht von blutarmen zerfolterten Ge- spenstern und von der „mör- derischen Beschäftigungsart“.

Georg Weerth schreibt weiter: „Verlassen wir die prächtige Wohnung des Fa- brikanten, um in die niedrigen Hütten seiner Arbeiter zu tre- ten, hinunter zum Rhein bis an die Stadtmauern. Die Häu- ser werden immer kleiner und unansehnlicher, die Fenster sind teils mit Lappen und

Stroh verstopft, der Regen hat die Straße in Morast verwan- delt, die stinkende, schmutzi- ge Gasse wird so eng, daß wir mit ausgestreckten Armen rechts die Stadtmauer, links die Häuser berühren kön- nen.“ Die Hungersnot 1845/

46 kam noch hinzu. Dr. med.

Virchow war klar: „Es genügt nicht, daß der Staat jedem Staatsbürger die Mittel zur Existenz überhaupt gewährt, der Staat muß mehr tun, er muß jedem so weit beistehen, daß er eine gesundheits- gemäße Existenz habe.“

Früchte der Revolution

Die Revolution von 1848 hat Früchte getra- gen. Die medizinische Re- formbewegung, beson- ders auch im Rheinland, hörte mit 1849 nicht auf.

Die Siegburger Irrenan- stalt war lange Zeit eine der fortschrittlichsten psychiatrischen Einrich- tungen im deutschen Reich, weil die rheinische Provinzialverwaltung Re- formvorschläge vor, aber auch nach 1849 genutzt hat, Forderungen umsetz- te, die 1848 noch keine ge- sellschaftliche Anerken- nung fanden, ja sogar Grund zur politischen Verfolgung waren. Etliche Ärzte zählten mit ihren Sozi- alreformvorschlägen 1848 zu den „politisch“, „demokra- tisch“, ja, zu den „sozial Wahnsinnigen“.

Anschrift derVerfasserin Linda Orth

Arbeitskreis zur Psychiatriegeschichte Bonn-Rheinprovinz Oppenhoffstraße 14 53111 Bonn

A-937 Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 14, 9. April 1999 (61)

V A R I A GESCHICHTE DER MEDIZIN

Im Dezember 1998 zeigte der APG-Bonn-Rheinprovinz in den Rheinischen Kliniken Bonn die Ausstellung mit dem Titel

„Die demokratische Krankheit, eine neue Wahnsinnsform“.

Begleitend dazu wurden zwei Vorträge über die Psychiatriege- schichte des 19. Jahrhunderts gehalten. Die Stellwände stellt der Arbeitskreis gern für weitere Ausstellungen zur Verfü- gung. Informationen: Tel 02 28/5 51-21 92 oder 24 25.

„Der Staat muß jedem so weit bei- stehen, daß er eine gesundheitsgemäße

Existenz habe.“

Rudolf Virchow (1821 bis 1902)

Abbildungen : APG

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