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Archiv "Arzneimittelbudgets: Massive Ärzteproteste zeigen Wirkung" (06.12.1996)

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V

ier Jahre nach dem Inkrafttre- ten des Gesundheitsstruktur- gesetzes ist ein „politisches Pa- tentrezept“ entzaubert: Die Budgetierung der Ausgaben erweist sich mehr und mehr als sozialpoliti- scher Sprengsatz. Deutlich wird dies jetzt am Beispiel der Arznei- und Heilmittelbudgets, die es in dieser Form seit dem Gesundheitsstruktur- gesetz (GSG) von 1993 gibt. Mit dem Paragraphen 84 werden die Kas- senärztlichen Vereinigungen und die Krankenkassen verpflichtet, „ein Budget als Obergrenze für die insge- samt von den Vertragsärzten veran- laßten Ausgaben für Arznei-, Ver- band- und Heilmittel“ zu vereinba- ren. Für die Ärzteschaft werde damit

„ein Anreiz zu einer wirtschaftlichen, an der medizinischen Notwendigkeit ausgerichteten Verordnungsweise ge- schaffen“, heißt es in der Begründung zu dem Paragraphen.

Um den „Anreiz“ zu verstärken, legte der Gesetzgeber außerdem fest, daß eventuelle Überschreitungen des Budgets in den Folgejahren ausgegli- chen werden müssen. Für das erste Budgetjahr (1993) galt noch eine ge- teilte Haftung. Die Kassenärzte hät- ten einen Überschreitungsbetrag von bis zu 280 Millionen DM ausgleichen müssen, darüber hinausgehende Defi- zite bis zu einer Höchstgrenze von 560 Millionen DM wären zu Lasten der pharmazeutischen Industrie gegan- gen. Seit 1994 haften allein die Ärzte für die Überschreitung der Budgets,

und zwar unbegrenzt. Die Drohung wirkte. Obwohl der Bundesgesund- heitsminister das Ausgangsbudget mit rund 27,5 Milliarden DM (nur Arzneimittel) um nahezu sieben Mil- liarden unter den tatsächlichen Aus- gaben des Jahres 1992 angesetzt hat- te, blieben die Kassenärzte mit ihrem Verordnungsvolumen unterhalb die- ser Grenze. Die Politik und die Kran- kenkassen werteten dies als Beweis für die Wirksamkeit des Budgetge- dankens.

Regreßforderungen trotz Einsparungen Auch 1994 gelang die Einhaltung des Budgets, obwohl sich Mitte des Jahres eine gewaltige Überschreitung abgezeichnet hatte. Nachdrückliche Appelle der KBV, die Verordnungen drastisch zu reduzieren, brachten die Wende. Derselbe Kraftakt war 1995 notwendig. Wiederum drohten in fast allen Kassenärztlichen Vereinigungen erhebliche Überschreitungen; erst- mals war von existenzgefährdenden Regreßforderungen der Krankenkas- sen die Rede. Am Ende des Jahres waren die Kassenärzte mit 1,8 Milliar- den DM unter dem Budget geblieben – allerdings „nur“ bundesweit gese- hen. Neun von 23 KVen, drei davon aus den neuen Bundesländern, hatten überzogen. Trotz der bundesweiten Einsparung von 1,8 Milliarden DM forderten die Krankenkassen bei die-

sen KVen die regionalen Überschrei- tungsbeträge in Höhe von insgesamt 870 Millionen DM ein.

Im laufenden Jahr spitzte sich die Entwicklung nochmals zu. Rein rech- nerisch werden wiederum alle KVen ihre Budgets überschreiten, alles in allem um mindestens 3,5 Milliarden DM, wie das Bundesgesundheitsmini- sterium prognostizierte. Käme es tat- sächlich zu Überschreitungen und Ausgleichsverpflichtungen in dieser Größenordnung, stünden viele tau- send Praxen vor dem finanziellen Ruin. So ergaben Hochrechnungen beispielsweise für Mecklenburg-Vor- pommern eine Rückzahlungsver- pflichtung von rund 90 000 DM je Kassenarzt. Rückzahlung heißt in die- sem Falle: Abzug von der Gesamtver- gütung.

Im November griff die Kas- senärztliche Bundesvereinigung des- halb zu einem drastischen Mittel. Sie legte ein „Vorläufiges Notprogramm zur Verhinderung existenzbedrohen- der Regresse aus der Überschreitung der Arznei- und Heilmittelbudgets“

mit vier zentralen Punkten auf:

c Verzicht auf alle medizinisch nicht zwingend erforderlichen Heil- mittelverordnungen, insbesondere bei Massagen und medizinischen Bädern;

c Verzicht auf die Verordnung sogenannter „umstrittener“ Arznei- mittel;

c Einschränkung der Verord- nung von hochpreisigen sogenannten

„Me-Too“-Präparaten; !

A-3235

P O L I T I K LEITARTIKEL

Deutsches Ärzteblatt 93,Heft 49, 6. Dezember 1996 (19)

Arzneimittelbudgets

Massive Ärzteproteste zeigen Wirkung

Am Buß- und Bettag hatte der Streit um das Arzneimittelbud- get seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht: Bundesweit gin- gen viele tausend Ärzte auf die Straße und protestierten wü- tend gegen die drohenden Ausgleichszahlungen in Milliar- denhöhe. Die niedergelassenen Ärzte sind den jahrelangen Druck leid und geben ihn jetzt massiv weiter. Jetzt kommt Be-

wegung in die festgefahrene Situation – auch nachdem die

Kassenärztliche Bundesvereinigung ein vorläufiges Notpro-

gramm zur Vermeidung von Arzneimittelregressen herausge-

geben hat. Politik und Krankenkassen horchen auf, doch das

Problem ist noch lange nicht vom Tisch. Immerhin sind die

ersten Budgeterhöhungen inzwischen unter Dach und Fach.

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cweitgehende Ausschöpfung des Preiswettbewerbs bei generikafähi- gen Wirkstoffen.

Die KBV zieht damit aus ihrer Sicht die Konsequenzen aus der Ar- gumentation der Krankenkassen, die bei den Verhandlungen über die Fortschreibung der Budgets stereo- typ behaupten, es gäbe Wirtschaft- lichkeitsreserven von rund sieben Milliarden DM bei den sogenannten

„umstrittenen“ Arzneimitteln. Da- her müßten die Budgets nicht an- gehoben werden. Nach Auffassung der Kassenärztlichen Bundesverei- nigung bedeutet dies: Die Kassen lehnen die Finanz-

verantwortung für die „umstrittenen“

Arzneimittel ab, mithin können die Kassenärzte diese auch nicht mehr auf Kassenrezept ver- schreiben, wenn sie nicht jede einzelne Verordnung aus ei- gener Tasche zah- len wollen.

Noch grotesker wird die Zwangs- lage der Kassen- ärzte im Hinblick auf die Einhaltung des Arzneimittel- budgets, wenn man weiß, daß die Kran- kenkassen nach wie vor jene Daten nicht

rechtzeitig liefern können, die zur Kontrolle der Budgetausschöpfung notwendig sind. Beispiel: Die Mittei- lung über die Arzneimittelausgaben des Jahres 1993 kam Ende 1994. Für das jetzt laufende Jahr können die Kassen frühestens im März 1997 ent- sprechende Angaben machen. Aktu- elle Informationen über den Stand der Arzneimittelausgaben an die Kassenärzte sind den KVen nicht möglich.

Für die Ärzte selbst scheint das Maß des Erträglichen jetzt voll zu sein. Unterstützt von verschiedenen Berufsverbänden kam es am Buß- und Bettag zu Massenkundgebungen gegen die Arzneimittelbudgetierung und die damit verbundene Haftungs- regelung. Allein in Thüringen waren es rund 8 000 Ärzte, die ihrem Un-

mut Luft machten. Auch die Patien- ten zeigen sich zunehmend verunsi- chert.

BMG: Versorgung auf hohem Niveau möglich Unterdessen unternimmt das Bundesgesundheitsministerium einen

„politischen Eiertanz“. In einem Argumentationspapier behauptet die Parlamentarische Staatssekretärin im BMG, Dr. Sabine Bergmann-Pohl, daß „die in der gesetzlichen Kranken- versicherung zur Verfügung stehen-

den Mittel auch im Jahr 1996 wie bisher eine Arznei- und Heilmittel- versorgung auf hohem Niveau“ er- möglichen. Daher sei und bleibe es richtig, daß jeder Versicherte An- spruch auf Versorgung mit medizi- nisch notwendigen Medikamenten habe. Eine Beschränkung auf eine so- genannte „Notfallversorgung“ sei nicht zulässig. Aber: „Gleichwohl gilt, daß überzogene Erwartungen von Versicherten auf das medizinisch Not- wendige zurückgeführt werden müs- sen. Die Anstrengungen der Selbst- verwaltung, die Wirtschaftlichkeit der Arznei- und Heilmittelversorgung zu erhöhen, werden daher voll und ganz unterstützt.“

Mit anderen Worten: Die Politik will eine Versorgung auf hohem Ni- veau unddie Einhaltung der Budgets.

Wie das zu bewerkstelligen ist, sollen Ärzte und Krankenkassen selbst re- geln. Bemerkenswert ist in diesem Zu- sammenhang ein Brief von Dr. Man- fred Zipperer, dem Abteilungsleiter Krankenversicherung im Bundesge- sundheitministerium, an die Kas- senärztliche Bundesvereinigung. Zip- perer stellt darin (im September die- ses Jahres) unmißverständlich klar:

„Das Bundesministerium für Gesund- heit wird gegenüber den Aufsichts- behörden darauf dringen, daß Über- schreitungen des Arznei- und Heilmit- telbudgets entsprechend den gesetzli- chen Vorgaben ausgeglichen werden, auch wenn mit gra- vierenden Auswir- kungen auf die Höhe der Gesamt- vergütung in den einzelnen Kas- senärztlichen Ver- einigungen gerech- net werden muß.“

Das Beharren auf gesetzlichen Vorgaben macht freilich wenig Sinn, wenn die Rege- lungen in der Pra- xis entweder zu ei- ner (unerwünsch- ten?) Rationie- rung von Arz- neimitteln oder aber zu existenzge- fährdenden Aus- gleichszahlungen der Kassenärzte führen. Die ersten pragmatischen Lösungen zeichnen sich inzwischen jedoch schon ab. So haben die Kassenärztlichen Vereini- gungen Bayerns und Nordrhein mit den Krankenkassen die Fortschrei- bung des Arzneimittelbudgets erfolg- reich verhandelt. Die Budgets wurden erhöht, Ausgleichszahlungen fallen im Augenblick nicht an, eventuelle Über- schreitungen können in den Folgejah- ren durch entsprechende Einsparun- gen wettgemacht werden.

Ob derartige Vereinbarungen al- len KVen, insbesondere in den neuen Bundesländern, gelingen werden, ist fraglich. Mindestens sollte aber eine Neubestimmung der Arzneimittel- budgets auf der (realistischen) Basis der tatsächlichen Ausgaben des Jah- res 1996 erreicht werden. Josef Maus A-3236

P O L I T I K LEITARTIKEL

(20) Deutsches Ärzteblatt 93,Heft 49, 6. Dezember 1996

Das Maß ist voll: Vor dem brandenburgischen Gesundheitsministerium demonstrierten rund 2 500 Ärzte.

Staatssekretär Herwig Schirmer stellt sich den Demonstranten. Foto: Johannes Aevermann, Berlin

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