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Archiv "Behandlungsabbruch: Spannender Rechtsvergleich" (29.04.2005)

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konkret bestimmte – nicht unbedingt schriftliche – Patientenverfügung ge- bunden sein. Ein Gericht solle sodann eine solche Verfügung nur noch in Grenz- und Streitfragen über den Wil- len des Betroffenen oder über die me- dizinische Indikation überprüfen dür- fen. Unter Juristen ist gerade diese Forderung heftig umstritten, läuft sie doch darauf hinaus, die Vormund- schaftsgerichte außen vor zu lassen, wenn Arzt und Angehöriger oder Be- treuer sich einig sind.

Wachkomapatienten

Das Verbot der Sterbehilfe solle zwar grundsätzlich weiter bestehen bleiben, konstatiert die Kommission, sie lässt aber erkennen, dass sie indirekte und passive akzeptiert und die Tötung auf Verlangen toleriert. In diesen Zusam- menhang stellt die Kommission auch das Problem „Wachkoma“. Behand- lungsabbruch bei Wachkomapatienten bedürfe zwar „grundsätzlich“ einer vor- herigen ausdrücklichen Erklärung des Patienten, so die rheinland-pfälzischen Liberalen.Aber: Notfalls reiche der mut- maßliche Wille. Wenn der ermittelt sei und nach Stellungnahmen des behan- delnden und eines weiteren, unabhängi- gen Arztes keine Chance auf Besserung bestehe, sei eine unbedingte und unbe- grenzte Lebenserhaltung nicht zwin- gend geboten. Nach Aussage von Mertin auf einer Veranstaltung der Landesver- tretung Rheinland-Pfalz in Berlin haben er und die von ihm geleitete Kommis- sion bei ihrer Forderung nach strenger Beachtung des Patientenwillens gerade das Wachkoma vor Augen gehabt (dazu auch DÄ, Heft 50/2004).

Kompliziert wird die Gesetzesdiskus- sion eben auch deshalb, weil Betreuungs- recht und Patientenverfügung unlösbar verquickt erscheinen mit Sterbehilfe, ak- tiv wie passiv, und den dazu gegensätzli- chen Auffassungen in Deutschland.

Eine Umfrage unter Vormundschafts- richtern, die im Dezember letzten Jah- res vorgestellt wurde, förderte zwei we- sentliche Erkenntnisse zutage:

1. Entscheidungen für einen Behand- lungsabbruch werden erheblich davon beeinflusst, ob eine Vorsorgevollmacht vorliegt oder nicht.

2. Die Entscheidung der Richter wird merklich davon bestimmt, ob sie per- sönlich der Ansicht sind, Wachkomapa- tienten seien Hirntote oder Behinderte.

Die Befragung, durchgeführt von der Forschungsstelle für das Recht des Gesundheitswesens der Universität Köln, richtete sich an die 1 562 Vor- mundschaftsrichter der ersten Instanz.

54 Prozent – eine ausgezeichnete Teil- nahmequote – beantworteten einen Fragebogen, ausgehend von der folgen- den konstruierten, aber praxisnahen Situation: Eine 82-jährige Frau liegt seit drei Jahren im Wachkoma, akut tritt eine Lungenentzündung hinzu. Sie wird nunmehr künstlich beatmet. Soll die Beatmung abgebrochen werden?

Angenommen wird alternativ, dass eine Vorsorgevollmacht vorliegt oder nicht. Die gleiche Situation wird für eine 33-jährige Mutter angenommen.

Ohne Vollmacht würden 6,3 Prozent der befragten Vormundschaftsrichter

den Behandlungsabbruch bei der 82- Jährigen genehmigen, mit Vollmacht und auf Antrag des Vorsorgeberechtig- ten 22 Prozent. Bei der jungen Mutter sind es 3,6 Prozent beziehungsweise 15 Prozent der Vormundschaftsrichter.

Richter und Richterinnen, die persön- lich der Ansicht sind, dass Wachkomapa- tienten Hirntote sind, entscheiden anders als solche, die sie für Behinderte halten.

Im Fall der 82-Jährigen (zum Beispiel), die keinen Bevollmächtigten bestellt hat, steigt damit die Wahrscheinlichkeit, dass die Beatmungseinstellung genehmigt wird, um das 9,6fache! Hat die 82-Jährige einen Bevollmächtigten selbst bestellt, steigt die Wahrscheinlichkeit um das Dreifache.

Diskutiert wird über die Bedeutung von Patientenverfügungen, Betreu- ungsvollmachten und Vorsorgevoll- machten bereits seit Ende der 70er-Jah- re. Im Rahmen des so genannten Kemp- tener Urteils hatte der erste Strafsenat T H E M E N D E R Z E I T

A

A1196 Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 1729. April 2005

Behandlungsabbruch

Spannender Rechtsvergleich

Von drei wegweisenden Gerichtsentscheidun- gen zu Selbstbestimmungsrecht, Einwilligungs- fähigkeit, Ersatz der Einwilligung durch die Zu- stimmung Dritter und schließlich Abbruch der Therapie bei Patienten im Wachkoma (vegetative state) handelt ein auf den ersten Blick unschein- bares Buch des Journalisten und Juristen Oliver Tolmein. Er analysiert den so genannten Kempte- ner Fall, der in Deutschland für Aufsehen und schließlich zu einer höchstrichterlichen Entschei- dung führte, sowie die Fälle Nancy Cruzan (USA) und Anthony Bland (Großbritannien). In allen Fällen wurde letztlich auf Behandlungsabbruch entschieden beziehungsweise ein solcher als rechtlich vertretbar gewertet.

Aufschlussreich sind die Entscheidungen aus je unterschiedlichen Gründen: im Kemptener Fall geht es um die mutmaßliche Einwilligung, im Fall Cruzan um die Abwägung des Rechtes auf Her- beiführung des eigenen Todes versus die Pflicht des Staates, Leben zu schützen, im Fall Bland um die pragmatische Frage, was für den Patienten wohl das Beste gewesen sei.

Tolmein analysiert die Fälle sorgfältig: Sach- verhalt, Interessenlagen der Angehörigen, Qua- lität der Zeugenaussagen, die (höchst unter- schiedliche) rechtliche Bewertung in den ver-

schiedenen Gerichtsinstanzen. Unverkennbar ist die Skepsis des Autors gegenüber der Feststel- lung des mutmaßlichen Willens, deutlich sind die Vorwürfe wegen unzulänglicher Ermittlungen.

Unmissverständlich ist die Kritik an den ökonomi- schen Zwängen, unter denen Pflege leidet: „Viele Menschen im vegetative state werden . . . nur deswegen künstlich ernährt, weil die Fütterung mit dem Löffel zwar möglich wäre, aber pflege- risch erheblich aufwendiger und damit teuer ist.“

Der Autor schlägt einen „bedürfnisorien- tierten Ansatz“ zur Ermittlung des Patienten- willens vor. Die Ablehnung von Therapie oder Nahrungszufuhr ist danach durch verständige Beobachtung des Patienten zu ermitteln. Der könne sich zwar nicht artikulieren, wohl aber Maßnahmen körperlich ablehnen. Hinter dieser Idee steht letztlich die Überzeugung von Tolmein, dass Patienten im vegetative state lebende Men- schen sind, die sich zudem nicht in einem Zustand befinden, der irreversibel zum Tode führt.

Für behandelnde Ärzte und Pflegepersonal führt ein solcher Vorschlag, sollte er durchge- setzt werden, zu erhöhter Verantwortung. Ihr

„Job“ wird dadurch nicht erleichtert. Doch Tol- meins Ansatz ist „ärztlich“!

Wie immer man zu ihm steht, das Buch vermit- telt eine gute Einführung in die Problematik. Der Autor hat mit dieser juristischen Arbeit promoviert, nachdem er sich als Journalist schon einen Namen gemacht hatte. Die journalistische Erfahrung kommt dem Buch zugute: es ist spannend. NJ Oliver Tolmein: Selbstbestimmungsrecht und Einwilligungsfähigkeit. Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main, 2004, 311 Seiten, 32 A

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