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Archiv "Linsen-Auslesen: Erfahrungen in einem Krankenhaus" (03.09.1982)

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Academic year: 2022

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Laienmedizin

Ein Blick in die Geschichte zeigt im übrigen, daß die Laienmedizin keineswegs eine neue Erschei- nung ist. Der Medizinhistoriker Prof. Dr. Heinrich Schipperges (Heidelberg) erinnert daran, daß die Ausweitung des professionel- len Systems auf nahezu die ge- samte Bevölkerung in der Ge- schichte ein Ausnahmefall ist. Die untere und mittlere Ebene der Ge- sellschaft sei bis vor gar nicht lan- ger Zeit von Laienmedizin be- stimmt gewesen.

Erinnern wir schließlich daran, daß die Vorläufer unserer heuti- gen Krankenkassen ursprünglich Selbsthilfegruppen der Arbeiter- schaft gewesen sind. Bei ihnen läßt sich paradigmatisch studie- ren, wie sich ein Laiensystem schließlich zum Profisystem wan- delte: Ein geradezu zwangsläufi- ger Prozeß von der Basisbewe- gung zum etablierten, ja bürokrati- schen Apparat? Demnach hätte das, was in der Laienmedizin von heute Bestand hat, die besten Chancen, demnächst tragender Bestandteil des „Systems" zu wer- den. Norbert Jachertz

DR. FLEISS' BLÜTENLESE

Resozialisierung

1831 hegte Ludwig Tieck große Hoffnungen:

„Möglich — und der Gedanke ist erfreulich —, daß die Menschheit so hoch steigt, daß man in Zukunft einen Verbrecher oder gottlosen Zweifler nur in das Gatter- thor eines Gartens schiebt, um ihn nach zwei, drei Stun- den jenseits als gläubigen Überzeugten und Tugend- haften wieder rauszu- lassen."

(Nun, bis zum Mond ist die Menschheit hochgestiegen, dann sollte sich auch das Tugendhafte endlich ein- stellen.)

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

„Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen" — so heißt es im Märchen vom Aschen- puttel. Wer aber glaubt an Mär- chensprüche? Der Clevere dreht ihn um; dann wird ein Schuh dar- aus, ein stabiler sogar und ange- paßt-wasserfest: Die schlechten ins Töpfchen und die guten ins Kröpfchen. Na also!

Manche argwöhnen, „soviel am- bulant wie möglich, so wenig sta- tionär wie nötig" sei eine moderne Variation des Aschenputtel-Spru- ches. Eigentlich ist ja dieser neue unter den Sprüchen nichts ande- res als eine der sinnvollen Grund- lagen der bald 100 Jahre alten Pflichtkrankenversicherung. Hätte man ihn nur nicht über Jahrzehnte vergessen, dann wäre auch der Bedarf an immer mehr und immer größeren Krankenhäusern gar nicht erst entstanden. Es gäbe kei- nen Bettenberg, dieses vor kur- zem noch bestaunte Symbol so- zialen und medizinischen Fort- schritts, jetzt aber ein Ärgernis für alle, die an seiner Errichtung ebenso gedankenlos wie munter mitgeschaufelt haben. Gestraft mit historischem Erinnerungsvermö- gen findet man unter den Schuldi- gen auch manche erlauchte Ge- stalt der hippokratischen Zunft.

Besser lassen wir das aber. Wer mag schon gerne an frühere Feh- ler erinnert werden ..

Hier und heute muß gehandelt werden, die Linsen müssen ins rechte Gefäß! Dies scheint auch erfolgreich zu gelingen, wie erste Berichte über den Bayernvertrag erhoffen lassen. Das Gebot der

Stunde begreifen die frei praktizie- renden Ärzte mehr und mehr. Die Quote der Krankenhauseinwei- sungen sinkt. Damit werden Ein- sparungen möglich in dem Be- reich der Krankenversicherung, der in allzu schlichter Vereinfa- chung und Verallgemeinerung als der teuerste angeprangert wird.

Dennoch will so rechte Freude nicht aufkommen, weil Ärgerli- ches erkennbar wird. Die Kranken- häuser (gemeint sind ihre Ärzte!) konterkarieren die ersehnte Wen- de zum Besseren, zu größerer Sparsamkeit durch schlaue Tricks.

Sie betreiben Schändliches: die Selbst-Einweisung! Damit unter- laufen sie die redlichsten Absich- ten, füllen die sonst leer bleiben- den Betten und schaffen sich so Arbeit und Existenzberechtigung.

Diese schnöden Kollegen schei- nen sich nun auch im Linsenausle- sen zu üben, drehen den Spruch wohl einfach um?

Alles dies hat mich als Kranken- hausarzt tief erschüttert und mei- ne Berufsehre attackiert. Ich woll- te es wissen, wie es im eigenen Arbeitsbereich steht, welche Sün- den hier im Verborgenen blühen, wo und inwieweit ich selber schul- dig geworden bin.

Da kam es ans Licht: In der Tat, im eigenen Krankenhaus waren rund 30 Prozent der stationär Behan- delten ohne eine ordentliche Ein- weisung durch einen Kassenarzt in ein vorher leeres Bett gekom- men; in der unfallchirurgischen Klinik einige Prozente mehr, in den inneren Kliniken weniger.>

THEMEN DER ZEIT

Linsen-Auslesen

Erfahrungen in einem Krankenhaus

Ulrich Kanzow

68 Heft 35 vom 3. September 1982 79. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe B

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12.7.1982 81 20 Tabelle 1: In stationärer Behandlung befanden sich:

Patien- ten mit Ein- weisung

Patien- ten ohne

Ein- weisung am

29. 6. 1982 90 19

27. 7. 1982 88 24

Tabelle 2: Medizinische Be- gründung der Aufnahmen ohne Einweisungsformular:

Verdacht auf Herzinfarkt und Infarkt 11mal Herzinsuffizienz,

Rhythmusstörungen 12mal synkopale/Krampf-

Anfälle 4mal

Hypertone Krise,

zerebrale Insulte 18mal

Atemnot 6mal

Magenblutung 4mal Coma diabeticum 1mal bewußtlos

aufgefunden 2mal Depression,

Tabletten-Intoxikation 4mal Alkohol-Intoxikation,

Delir 7mal

unreifzellige Leukämie akute Facialisparese inkarzerierte Hernie je Plasmozytom-Kachexie 1mal hochgradiger

Erregungszustand

Bei manchen Patienten wa- ren mehrere Gründe maßgeb- lich.

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

„Selbsteinweisungen"

Aber immerhin waren es in der ei- genen inneren Klinik auch noch rund 20 Prozent, wie Stichproben ergaben. Daß darüber auch die örtlichen Krankenkassen in Erre- gung geraten mußten, wen kann das wundern. Da hatte man ja die Krankenhaus-Selbsteinweisung klar auf der Hand. Sehr peinlich.

Versuchen wir, Ordnung in die Dinge zu bringen: Da ist zunächst einmal zu klären, was „Selbstein- weisungen" sind? Natürlich und scheinbar völlig sinnvoll werden alle die Aufnahmen darunter ver- standen, die ohne kassenärztli- ches Einweisungsformular erfol- gen. In unserem Falle sind das rund 30 von 100 Patienten. Die tie- fer schürfende Überprüfung zeigt, daß nur ganz wenige von diesen 30 Prozent auf Veranlassung eines diensttuenden Krankenhaus-Arz- tes zum stationären Behandlungs- fall wurden. Vielmehr machten Einlieferungen durch Rettungs- dienste und Polizei, auch auf tele- fonische Veranlassung durch Hausärzte oder Ärzte im organi- sierten Notfalldienst mehr als 90 Prozent dieser sogenannten Selbsteinweisungen aus. Es waren Unfälle, Intoxikationen, Herzin- farkte, Ateminsuffizienzen, Stoff- wechselentgleisungen und ähnli- ches, Aufnahmen also in einer Notsituation. Zwangsläufig fehlte

bei diesen der offenbar gesund- heitspolitisch legitimierende Ein- weisungsschein. Die Aufnahme- gründe der eigenen Patienten be- legen das. An mehreren Tagen wurde in der eigenen Klinik ermit- telt, wieviele der jeweils stationär Behandelten ohne ordnungsge- mäßes Einweisungsformular auf- genommen waren (Tabelle 1) und warum die Aufnahme erforderlich wurde (Tabelle 2).

Von den insgesamt 63 Kranken ohne Einweisungsformular waren mit dem Notarztwagen 17,

mit dem Krankenwagen 33, mit einem Taxi 2 und durch Angehörige 11

zum Krankenhaus gebracht worden.

Aus der Tag und Nacht von der Bevölkerung in Anspruch genom- menen und offiziell gar nicht exi- stierenden internistischen „Kran- kenhausambulanz", die 1981 von rund 1500 Personen in Anspruch genommen worden ist, sind statio- näre Aufnahmen selten erfolgt. Sie liegen unter 10 Prozent der vor allem nächtlichen „Ambulanz-Pa- tienten". Im Verhältnis zur Ge- samtzahl aller internistischen Auf- nahmen des Krankenhauses (1981 waren es 4899) machten diese nun tatsächlich als „Selbsteinweisun- gen" zu bezeichnenden Aufnah- men nicht einmal 2,5 Prozent aus.

An den drei für den statistischen Überblick ausgewählten Tagen (siehe oben) war keiner der Pa- tienten an der Krankenhauspforte

„eingefangen" worden. Dies mag Zufall sein.

Wenn die hier getroffenen Fest- stellungen allerorten ähnlich zu machen sind, dann sind es zu we- nige Prozente an sogenannten Selbsteinweisungen, als daß sich deshalb ein Streit innerhalb der Ärzteschaft lohnen würde. Vertei- lungskämpfe lassen sich damit

ebensowenig anheizen, wie sich Scheinargumente für das eventu- elle Mißlingen intendierter Spar- maßnahmen daraus gewinnen las- sen. Die bisherigen Sparmaßnah- men sind häufig zu vordergründig angelegt und leider nicht frei von dem Verdacht . . . na ja, Sie wissen schon: „Aschenputtel"!

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Ulrich Kanzow Gotenstraße 1

5650 Solingen 1

Ausgabe B DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 79. Jahrgang Heft 35 vom 3. September 1982 69

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