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Archiv "Pflegeheime: Schlechte Noten für die ärztliche Versorgung" (14.10.2005)

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ie Brille ist zu schwach, die Zahn- prothese passt nicht, das Hörgerät liegt im Nachtschränkchen, weil es nicht funktioniert. Grund genug, ei- nen Augen-, Ohren- und Zahnarzt zu konsultieren, sollte man meinen. Die Realität in Alten- und Pflegeheimen aber sieht anders aus. Zu dieser Ein- schätzung kommt die „Studie zur ärztli- chen Versorgung in Pflegeheimen“

(SÄVIP)*, die Prof. Dr. phil. Dr. h. c.

Ursula Lehr vom Deutschen Zentrum für Alternsforschung in Heidelberg und Dr. med. Johannes Hallauer von der AG Gesundheitssystemanalyse am Campus Charité-Mitte am 20. Septem-

ber in Berlin vorstellten. Auch demente oder depressive Heimbewohner kön- nen demnach in der Regel nicht mit einer adäquaten medizinischen Versor- gung rechnen.

Erhebliche Defizite

Die ärztliche Betreuung von Heimbe- wohnern leisten der SÄVIP zufolge in erster Linie Allgemeinmediziner. Die medizinische Versorgung sei in Heimen zwar grundsätzlich sichergestellt, es gebe jedoch erhebliche Defizite, so die Autoren. Während internistische Erkrankungen angemessen therapiert würden, sei die Behandlung neurolo- gisch-psychiatrischer Leiden mangel- haft. Nur ein Drittel der Heimbewoh- ner werde laut der Studie von einem Neurologen oder Psychiater erreicht.

Obwohl 53 Prozent der erfassten Pati- enten an einer Demenz litten, erhielten weniger als 20 Prozent ein Antidemen- tivum. In etwa 50 Prozent der Heime

wurden weniger als 15 Prozent der Bewohner antidementiv behandelt.

Rund 30 Prozent der Heime gaben an, im vergangenen Jahr kein einziges Mal von einem Augenarzt aufgesucht wor- den zu sein, 36 Prozent wurden von kei- nem HNO-Arzt versorgt. Auch in den Einrichtungen, die von entsprechenden Fachärzten aufgesucht wurden, ist die angegebene Zahl der Konsultationen oftmals gering. Die Autoren gehen hier von einem gravierenden Versorgungsde- fizit aus. Sie weisen auf die Bedeutung des Hör- und Sehvermögens für die Sturzprophylaxe hin. Nach Ansicht der Autoren ist auch eine zahnärztliche Ver- sorgung in den meisten Fällen nicht si- chergestellt. Sie betonen, dass ein funkti- onsfähiges Gebiss zur Nahrungsaufnah- me unentbehrlich sei. Eine gynäkologi- sche Behandlung oder Vorsorge ist der Erhebung zufolge eine Rarität; dabei sind rund 78 Prozent der Heimbewohner Frauen. Auch eine orthopädische oder urologische Betreuung ist selten.

„Diese Studie muss aufrütteln“, be- tonte Mitautorin Lehr. Die Gerontolo- gin kritisierte, im Alter würden gesund- heitliche Einschränkungen immer noch als naturgegeben in Kauf genommen. Sie forderte, den Grundsatz „Prävention und Therapie vor Pflege“ stärker in die medizinische Versorgung in Heimen zu integrieren. „Schon kleine Verbesserun- gen sind für die Betroffenen ein Riesen- gewinn“, sagte Lehr. Studienautor Hal- lauer erklärte, dass die Bedeutung de- menzieller Erkrankungen noch immer nicht erkannt worden sei. Der Anteil der Demenzkranken liege in der Untersu- chung mit 53 Prozent unter der tatsächli- chen Prävalenz in Pflegeheimen von 60 bis 65 Prozent. Er schließt daraus, dass die Pflegedienstleitungen das Problem unterschätzen. Die Ursache für die Un- terversorgung mit Antidementiva sieht er in einer mangelhaften fachärztlichen Versorgung. Die Vergütung ärztlicher Leistungen in Heimen sei auch nach dem EBM 2000plus unattraktiv.

Doch es gibt noch weitere Gründe für die mangelhafte ärztliche Betreuung. Die meisten Heimbewohner sind auf Haus- besuche angewiesen. Diese werden in der Regel vom Pflegepersonal veranlasst.

Die medizinische Kompetenz der Pfle- genden ist daher entscheidend. Dass es hier Weiterbildungsbedarf gibt, zeigt die P O L I T I K

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A2756 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 41⏐⏐14. Oktober 2005

Pflegeheime

Schlechte Noten für die ärztliche Versorgung

Eine Studie belegt, dass Demenzen bei Heimbewohnern nur unzureichend behandelt werden. Auch die HNO-, augen- und zahnärztliche Versorgung ist mangelhaft.

*Im Rahmen der SÄVIP wurden die Pflegedienstleitun- gen sämtlicher Heime in Deutschland angeschrieben und gebeten, einen Fragebogen auszufüllen. Die Untersu- chung erfasst mehr als zehn Prozent der Pflegeheimplät- ze und wird von den Autoren als repräsentativ eingestuft.

Herausgeber sind das Deutsche Zentrum für Alternsfor- schung in Heidelberg, die AG Gesundheitssystemanalyse am Campus Charité-Mitte in Berlin, das Institut für Pfle- gewissenschaft der Universität Witten/Herdecke und die Stiftung „Daheim im Heim“, Wiesbaden. SÄVIP, Verlag Vincentz, ISBN 3-87870-138-1.

Foto:dpa

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Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 41⏐⏐14. Oktober 2005 AA2757

SÄVIP ebenfalls. Ein Viertel der Heime gab einen großen Bedarf an Mitarbei- terfortbildung an. Besondere Defizite wurden in den Bereichen Demenz, De- pression, Schmerz und Sturzprophylaxe erkannt. „Die medizinischen Inhalte der Altenpflegeausbildung haben mit der zunehmenden Multimorbidität nicht Schritt gehalten“, folgerte Prof. Christel Bienstein, Leiterin des Institutes für Pfle- gewissenschaften der Universität Wit- ten/Herdecke. Es sei paradox, wenn alte Menschen in ein Heim zögen, weil sie krank und hilfsbedürftig seien, sich gera- de dort aber ihre medizinische Versor- gung verschlechtere. Gleichwohl forder- ten die Autoren, auch Angehörige und gesetzliche Betreuer müssten an ihre Verantwortung erinnert werden.

Zweifelsohne gibt es Schwachpunkte im Studiendesign: Der Fragebogen wur- de an die Pflegedienstleitungen gesen- det. Wer ihn aber tatsächlich ausgefüllt hat und wie fachkundig diese Person war, ist nicht nachvollziehbar. Die erfass- ten Demenzkranken sind weder nach Schweregrad noch nach Erkrankungs- typ unterteilt. Insofern bleibt offen, warum keine antidementive Medikati- on erfolgt. „Trotz aller Kritikpunkte zeigt die Studie eine deutliche Unter- versorgung Demenzkranker. Das ist be- sorgniserregend“, erklärte Priv.-Doz.

Dr. med. Martin Haupt, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Geron- topsychiatrie und -psychotherapie, ge- genüber dem Deutschen Ärzteblatt.

Dabei könne der Einsatz von Antide- mentiva gerade leichtgradige Verhal- tensstörungen verringern.

Auch für Prof. Dr. med. Ingo Füsgen ist klar, dass die Ergebnisse der Studie zutreffend sind. „Dass hier Handlungs- bedarf besteht, ist keine Frage“, betonte der Ärztliche Direktor der Geriatri- schen Kliniken der Kliniken St. Antoni- us, Wuppertal. Füsgen ist ebenfalls be- sorgt über die Unterversorgung von De- menzkranken. Vielfach werde man erst aktiv, wenn Demente verhaltensauffällig würden. Dann erfolge oftmals eine Ru- higstellung mit Neuroleptika. Füsgen hat allerdings seine Zweifel, ob das Problem einzig durch einen Ausbau der fachärzt- lich neurologisch-psychiatrischen Be- handlung zu lösen ist. Wichtig sei es, die Kompetenz von Hausärzten und Pflege- kräften zu stärken. Dr. med. Birgit Hibbeler

KOMMENTAR

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ernachlässigte, sedierte Bewoh- ner und erschöpfte, abgestumpfte Mitarbeiter: Menschenverachten- de Zustände sind in Alten- und Pflege- heimen längst Normalität. Zu diesem Schluss kommt zumindest Markus Breitscheidel in seinem Buch „Abge- zockt und totgepflegt“.Als Investigativ- journalist hat er ganz nach Günter- Wallraff-Manier „undercover“ einein- halb Jahre in fünf Heimen gearbeitet.

Seine Erfahrungen als Pflegekraft wa- ren entsetzlich: die Bewohner weder satt noch sauber, die unterbezahlten, oftmals ungelernten Angestellten im Einsatz wie „Pflegeroboter“. Alles un- terlag dem Diktat der Zeit-, Kosten-, und Personalein-

sparung. Kündigte die Aufsichtsbehör- de eine Begehung an, wurden Dienst- pläne und Pflege- dokumentation ge- fälscht: die Heim- aufsicht und Medi-

zinischer Dienst als Lachnummer. Le- diglich in einem der fünf Heime emp- fand der Autor die Zustände als men- schenwürdig.

Begrüßt wird seine Kritik vom Deut- schen Berufsverband für Pflegeberufe.

Breitscheidels Buch zeige, wie wichtig eine gute Qualifikation der Pflegenden sei. „Pflegen kann eben doch nicht jeder“, heißt es in einer Stellungnahme mit gewisser Genugtuung.Auch der Me- dizinische Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen (MDS) sieht Defizi- te in den Heimen, besonders in der De- kubitusprophylaxe und -therapie sowie der Nahrungs- und Flüssigkeitsversor- gung. Immerhin bei einem Drittel der Bewohner sei die geronto-psychiatri- sche Versorgung unzureichend. Trotz aller Mängel sei das Niveau der Pflege aber mehrheitlich angemessen. „Wir ha- ben in der Pflege Licht und Schatten.

Aber in der Öffentlichkeit wird nur über den nicht erfüllten Teil geredet“, kritisiert Dr. oec. Peter Pick, MDS- Geschäftsführer. Nach Meinung des Vorsitzenden des Bundesverbandes der kommunalen Senioren- und Behinder- teneinrichtungen, Otto Bernhard Lu-

dorff, sind Breitscheidels Feststellungen nicht zu verallgemeinern. „In kommu- nalen Einrichtungen haben wir solche Zustände nicht“, betont Ludorff.

Übertreibt Breitscheidel also? Sein

„Enthüllungsbericht“ jedenfalls lässt niemanden kalt. Keiner möchte irgend- wann alt und hilflos in einem Heim

„hinvegetieren“ oder Angehörige in dieser Situation sehen. Breitscheidels Kritik mag zum Teil berechtigt sein, aber seine Beschreibungen sind sub- jektive Momentaufnahmen, oftmals oberflächlich und undifferenziert. Dass er als neutraler Beobachter in den Heimen unterwegs war, ist schwer zu glauben. Nach positiven Eindrücken wird er dort nicht gesucht haben. Der Autor aber be- tont, es sei nicht ge- plant gewesen, dass aus seiner verdeck- ten Recherche ein- mal ein enthüllen- der Skandalbericht wird. „Ich bin sehr naiv an die Ge- schichte herangegangen“, sagte er bei der Buchpräsentation kürzlich in Ber- lin. Eine Vereinbarung mit einem Ver- lag habe er nicht gehabt. Tatsache ist:

Er gab seine Tätigkeit als Marke- tingleiter auf, um als ungelernte Kraft für wenig Geld im Altenheim zu arbei- ten. Die Idee zu dem Projekt entstand in Zusammenarbeit mit Günter Wall- raff – und der ist nicht dafür bekannt, seine Erlebnisse als „verdeckter Er- mittler“ für sich zu behalten, sei es als türkischer Arbeiter bei Thyssen oder Redakteur bei „Bild“.

Über den Pflegenotstand und Miss- stände in Heimen ist viel gesprochen worden, angemessen reagiert haben die Verantwortlichen nicht.Was sich ändern müsste, ist bekannt: eine bessere Alten- pflegeausbildung, weniger ungelernte Kräfte in den Heimen, ein ange- messener Personalschlüssel und über- schaubare Wohneinheiten. Weil dies Geld kostet, wird gewartet – so lange, bis der Karren noch tiefer im Dreck steckt.

Die Gesellschaft altert. Jeder weiß es.

Nichts geschieht. Das ist der eigentliche Skandal. Dr. med. Birgit Hibbeler

Pflegeheime

Skandale statt

Lösungen

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