• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Afghanistan: Mile 46 – Flüchtlinge brauchen Hilfe" (25.01.2002)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Afghanistan: Mile 46 – Flüchtlinge brauchen Hilfe" (25.01.2002)"

Copied!
3
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

T H E M E N D E R Z E I T

A

A176 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 4½½½½25. Januar 2002

M

ile 46 liegt mitten in der Wüste.

In dem Flüchtlingslager im Süd- westen Afghanistans an der Grenze zum Iran ist die Zahl der Flüchtlinge in den letzten Wochen von circa 800 auf 5 000 gestiegen, und täglich nimmt sie um 150 bis 250 zu. Das Lager aus 400 Zelten befindet sich in einer kargen, lebensfeindlichen Region. Ki- lometerweit nur Sand und Steine, kein Baum, kein grünes Fleckchen, kein Wasser. Die nächste afghanische Stadt liegt circa 90 Kilometer entfernt in Richtung Kandahar. Obwohl das Lager auf afghanischem Boden errichtet wur- de, versorgt der iranische Rote Halb- mond die Flüchtlinge täglich mit Le- bensmitteln, Wasser und sogar mit Strom. Allerdings gibt es nur 25 Latri- nen und eine Waschstelle. Das Areal um die Latrinen ist voll mit Kot und Urinlachen. Der beißende Gestank nimmt zu, je weiter man sich den Latri- nen nähert. Die Zelte sind mit Decken und einem Petroleum-Heizöfchen aus-

gestattet, wobei die durch das Heizen freigesetzten Kohlenmonoxidgase oh- ne besondere Abzugseinrichtung in das Zeltinnere strömen. Tagsüber steigen die Temperaturen in dieser Gegend bis auf 25 Grad Celsius, während sie in der Nacht bis nahe an den Gefrierpunkt sinken. Ohne Decken und Heizeinheit ist ein Überleben kaum möglich.

An diesem Tag verweigert der irani- sche Rote Halbmond plötzlich neu an- kommenden Flüchtlingen den Zutritt zum Lager. Sie müssen deshalb versu- chen, ungeschützt und ohne Versor- gung außerhalb des Camps zu über- leben. Mitarbeiter von „Ärzte ohne Grenzen“ kommen zu unserem kleinen Behandlungszelt, um die unerwartete Situation zu besprechen. Sie überlegen, ihre Arbeit vorübergehend einzustel- len, falls der iranische Halbmond sein repressives Vorgehen beibehält. Wir er- klären uns solidarisch und unterstützen das Vorhaben der französischen Ärzte –

„wir“, das sind eine Krankenschwester und zwei Ärzte der christlichen Hilfsor- ganisation „humedica“ aus Deutsch- land. Die Organisation leistet Akuthilfe in Krisenregionen, unter anderem mit

Ärzteteams, die sich nach jeweils zwei bis drei Wochen Tätigkeit überlappend ablösen. Entscheidend ist die schnelle Verfügbarkeit von Ärzten, die aufgrund der kurzen Einsatzdauer eher realisier- bar ist.

Die Bürokratie – eine Farce

Bevor wir im Flüchtlingslager Mile 46 mit der medizinischen Tätigkeit begin- nen konnten, galt es, einen bürokrati- schen Hürdenlauf zu bewältigen. Die Anreise führte über Teheran, wo entge- gen vorheriger Zusagen die angemelde- ten Medikamente doch vom Flughafen- zoll genehmigt werden mussten. Das bedeutete, eine Stunde lang ungefähr 20 offizielle Stellen zu kontaktieren, 15 Unterschriften und circa zehn Stempel einzuholen – eine Farce. Danach ging es unter anderem zur Zentrale des irani- schen Halbmondes, zur iranischen Flüchtlingshilfe, zum Flüchtlingshilfs- werk der Vereinten Nationen (UNHCR).

Ein ähnliches Procedere erwartete uns bei der nächsten Station in Zahedan, der Hauptstadt der Provinz Baluchistan an der pakistanischen Grenze; wieder- um dasselbe nach zweistündiger Auto- fahrt in der Grenzstadt Zabol. Nach- dem wir endlich alle Genehmigungen für den Grenzübertritt, die Rückkehr sowie eine Tätigkeitserlaubnis erhalten hatten, fanden wir mit viel Glück und

Afghanistan

Mile 46: Flüchtlinge brauchen Hilfe

Die deutsche Hilfsorganisa- tion „humedica“ versorgt Flüchtlinge in einem afghani- schen Lager nahe der Grenze zum Iran. Ein Ärzteteam berichtet über einen dreiwö- chigen Einsatz.

Die Hilfsorganisation „humedica“ entsendet Ärzte und medizinisches Personal in Krisengebiete. Kon- takt: humedica e.V., Am Riederloh 6, 87600 Kauf- beuren,Telefon: 0 83 41/98 84 47,Fax: 9 82 06, Spendenkonto: Sparkasse Kaufbeuren, BLZ:

734 500 00, Konto: 47 47.

(2)

Verhandlungsgeschick einen Dolmet- scher und einen Taxifahrer, der uns in einstündiger Fahrt ins Flüchtlingscamp brachte. Dabei passierten wir mehrere iranische Kontrollstationen. Die afgha- nische Grenze bestand aus einem Mud- schaheddin-Kontrollposten: zwei funk- tionsunfähige Lastwagen, ein von den Taliban eroberter Panzerspähwagen, eine von der ehemaligen Sowjetunion eroberte Artilleriestellung und Trüm- merteile eines abgeschossenen Hub- schraubers.

Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich am Horizont das Flüchtlingslager auf.

Wir stellten uns dem Leiter vor, einem Mitarbeiter des iranischen Roten Halb- mondes, und richteten unsere Sprech- stunde in einem vier mal vier Meter großen Zelt ein, das man uns zugeteilt

hatte. Unsere Ankunft sprach sich schnell herum, und schon warteten die ersten Patienten vor dem Zelt. An den folgenden Tagen behandelten wir täg- lich 80 bis 100 Patienten: Männer, Frau- en, Kinder, Mudschaheddin und Mitar- beiter des iranischen Halbmondes. Sie leiden hauptsächlich an parasitären Er- krankungen, vor allem Diarrhöen auf- grund von Wurminfektionen, an Infek- tionen des oberen Respirationstraktes, an Pneumonien und Tuberkulose, der- matologischen Erkrankungen (Scabies,

Tinea vulgaris, Impetigo, Psoriasis), Er- krankungen des Gastrointestinaltrak- tes (Gastritis, Ulcus pepticum), anschei- nend psychosomatischen und psych- iatrischen Erkrankungen, multiplen Schmerzen unklarer Genese, Otitis- media-Erkrankungen in allen Schwere- graden, dentistischen Beschwerden, an Hypertonie, aber auch an klassischen Tropenkrankheiten wie Malaria, kuta- ner Leishmaniose oder Trachom. Nach Anamnese durch den Dolmetscher in Farsi oder Baluchi und einer körperli- chen Untersuchung händigen wir die notwendigen Medikamente direkt aus.

Patienten mit nicht ambulant behandel- baren Erkrankungen werden in ein ira- nisches Krankenhaus eingewiesen, was häufig schwierig ist. Patienten mit chronischen oder kontrollbedürftigen

Krankheiten erhalten ein internationa- les Krankenblatt und werden wieder einbestellt. Notwendige diagnostische Maßnahmen leitet der iranische Arzt des Lagers ein. Er ist eine der drei me- dizinischen Anlaufstellen des Flücht- lingslagers – neben „Ärzte ohne Gren- zen“, die hauptsächlich Frauen und Kinder betreuen, und uns.

Es wird schnell deutlich, dass ständi- ge Kommunikation und Arbeitsteilung dringend erforderlich sind. Während

„Ärzte ohne Grenzen“ den Ernäh-

rungsstatus der Flüchtlinge bestimmen und eine Substitution sowie eine Impfaktion vorbereiten, dehnen wir in dieser Zeit unsere Sprechstunde aus.

Da unsere Patientenzahlen ständig stei- gen und auch Patienten zu uns kom- men, die primär unser iranischer Kolle- ge behandelt hat, wollen wir den Grund dafür erfahren. Die Antwort der Pati- enten lautet ausnahmslos, wir unter- suchten sie, was der iranische Arzt nicht tue. Ob dies der Realität entspricht, wissen wir nicht.

Viele Kinder sind in einem schlechten Zustand

Das Spektrum der Begegnungen mit den Patienten reicht von skurril bis er- schütternd und tragisch. Da ist der Chef der örtlichen Mudschaheddin, der mit einem bekannten Hypertonus zu uns kommt und über Potenzprobleme klagt. Da andere Ärzte ihm einen Beta- blocker verordnet hatten, setzen wir diesen ab und geben ihm stattdessen ei- nen ACE-Hemmer. Entweder wir ge- winnen jetzt vollends die Sympathie der Mudschaheddin oder . . .

Es ist auffällig, dass die Mudschahed- din, die zunehmend unsere Sprechstun- de aufsuchen, über Beschwerden kla- gen, die auf Gastritis beziehungsweise Ulcus pepticum deuten, und häufig auch an Hypertonie leiden. Krieg ist Stress!

Aber da ist auch der Flüchtling, der uns Röntgenbilder seiner Frau zeigt, auf der eindeutig eine Oberschenkel- fraktur zu erkennen ist. Da er unsere Nachfragen über die eingeleitete The- rapie nicht zufriedenstellend beantwor- ten kann, begleiten wir ihn in sein Zelt und finden seine Frau – im siebten Mo- nat schwanger – unbehandelt auf dem Boden liegend. Wir leiten umgehend ei- ne Schmerztherapie ein – soweit dies möglich ist – und veranlassen den sofor- tigen Transport in ein iranisches Kran- kenhaus. Welcher Arzt hat diese Frau untersucht, geröntgt und dann unbe- handelt wieder zurück ins Lager ge- schickt?

Am Abend erfahren wir bei einem Treffen der Nichtregierungsorganisa- tionen (NGOs) beim UNHCR, dass der Streit um die Kostenübernahme der T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 4½½½½25. Januar 2002 AA177

Ist das Flüchtlingslager überfüllt, müssen Neuankömmlinge die ersten Tage vor dem Camp aushar- ren. Die Kuhle dient der Familie als Schutz vor Sandstürmen. Fotos: humedica

(3)

Behandlung des Öfteren zu derartigen Situationen führt. Glücklicherweise kann mit den Mitarbeitern des irani- schen Halbmondes geklärt werden, dass es bereits seit Wochen eine Verein- barung mit dem UNHCR gibt, die die Kostenübernahme in solchen Fällen re- gelt.

Bemerkenswert sind die faszinieren- de ethnische Vielfalt der Patienten, aber auch die krassen Unterschiede, was den Gesundheits- und Ernährungs- zustand der Menschen angeht. Viele Kinder sind in einem außerordentlich schlechten Zustand. Besonders betrof- fen macht der apathische und depressi- ve Ausdruck der Mädchen und jungen Frauen. Sie wirken verloren, hilflos, oh- ne Hoffnung und Zukunft. Die Vergan- genheit, die fundamentalistische Ausle- gung des Islam den Frauen gegenüber, hat hier tiefe Wunden und Narben hin- terlassen, die durch keine medika- mentöse Therapie heilbar sind. Man kann nur ahnen, was sie erdulden muss- ten und vielleicht immer noch müssen.

Die medizinische Hilfe hat auch Symbolcharakter

Im Beisein der Ehemänner dürfen wir auch Frauen untersuchen. Zwar muss der Auskultationsbefund durch die dünne Kleidung erhoben werden, aber immerhin dürfen wir zumindest ansatz- weise so etwas wie eine körperliche Un-

tersuchung durchführen. Viele Frauen klagen über „whole body pain“, Ganz- körperschmerzen, die sicher in vielen Fällen auf eine psychosomatische Ge- nese hindeuten.

An unserem letzten Tag fegt ein mit- telschwerer Sandsturm über das Flücht- lingslager. Der Sand dringt durch jede Ritze im Behandlungszelt. Medika- mentendosen, Otoskop und Stethoskop sind mit einem feinen Sandschleier bedeckt. Auch am Körper spüren wir überall den Sand. Doch die Patienten harren unter schwierigsten Bedingun- gen vor dem Zelt aus, bis sie endlich an der Reihe sind.

Wir erfahren von den französischen Kol- legen von „Ärzte ohne Grenzen“, dass in der vergangenen Nacht im Lager zwei Kinder ge- storben sind. Ein weite- res Kind sei außerhalb des Camps erfroren. Sie wollen nun erneut mit der Lagerleitung und dem iranischen Halb- mond dringend not- wendige Verbesserun- gen erörtern und mas- siv einfordern. Wir wer- den die Kollegen in die- ser Zeit vertreten.

Was am Ende des Einsatzes bleibt, ist die Frage, ob unsere Tätig-

keit hier sinnvoll und nützlich war. Die Bilanz:

❃Die medizinische Versorgung dient in erster Linie der Existenzsicherung für einen gewissen Zeitraum in der Hoffnung, dass sich die grundlegenden Lebensumstände ändern werden. Vor Ort hat diese Form der ärztlichen Ver- sorgung nur Sinn, wenn parallel präven- tiv gearbeitet wird. Die Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln muss ge- währleistet sein. Verbessert werden müssen die hygienischen Verhältnisse.

Es muss ausreichend viele Latrinen und Waschmöglichkeiten geben. Die Men- schen müssen über hygienische Stan- dards aufgeklärt werden. Ein Gesamt- konzept notwendiger Maßnahmen muss erstellt und in Absprache mit den vor Ort tätigen Hilfsorganisationen um- gesetzt werden. Kommunikation und

Kooperation sind notwendig, Konkur- renz hat hier keinen Platz.

❃Der Symbolcharakter humanitärer Hilfe vor Ort, die persönlichen zwi- schenmenschlichen Begegnungen sind ebenfalls bedeutsam. Die Erfahrung, dass Menschen von sehr weit her ge- kommen sind, um den allzu oft zu schnell vergessenen Opfern von Krieg und Terrorismus in ihrer fast unerträgli- chen Lebenssituation zu helfen, hat für sich allein genommen schon einen Stel- lenwert.

❃Dass Christen nicht nur mit Gewalt assoziiert werden, sondern auch mit

dem Versuch, Muslimen in ihrer Not zu helfen, ist mehr als ein Symbol. Das wurde uns in vielen Gesprächen immer wieder bestätigt.

❃ Die Menschen in Europa und Nordamerika für die Lebenssituation der afghanischen Bevölkerung zu sensi- bilisieren ist immer wieder aufs Neue sinnvoll und notwendig.

Es bleibt die Frage, ob man mit Ste- thoskop (medizinischer Versorgung) und Kreidetafel (Bildung) nicht mehr gegen die Wurzeln des Terrorismus aus- richten kann als mit Gewehrkugeln und Bomben.

Prof. Dr. med. Gerhard Trabert Georg-Simon-Ohm-Fachhochschule Nürnberg University of Applied Sciences

Bahnhofstraße 87 90402 Nürnberg

E-Mail: gerhard.trabert@fh-nuernberg.de T H E M E N D E R Z E I T

A

A178 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 4½½½½25. Januar 2002

Ärzte unterstützen Wiederaufbau

Der Afghanisch-Deutsche Ärzteverein leistet seit 1997 humanitäre Hilfe in Afghanistan. Ziel ist es, vor allem die medizinische Versorgung der Frauen und Kinder zu verbessern. Seit 1999 unterstützt der Verein eine von ihm gegründete Mutter-Kind-Klinik in Jalal-Abad mit Geld und medizinischen Geräten und will sich jetzt auch beim Wiederaufbau des Ge- sundheitssystems in Afghanistan engagieren. Dafür benötigt der Verein die Hilfe der in Deutschland le- benden afghanischen Ärzte. Mit Unterstützung der deutschen Behörden soll medizinisches Fachperso- nal für begrenzte Zeit in Afghanistan eingesetzt werden. Der Verein ist für seine Arbeit dringend auf Spenden angewiesen. Kontakt: Afghanisch-Deut- scher Ärzteverein e.V., Kaiser-Joseph-Straße 205, 79098 Freiburg, Telefon: 07 61/27 27 12, Fax:

2 02 48 35, Internet: www.adav.de, Spendenkon- to: Sparkasse Freiburg, BLZ: 680 501 01, Konto:

2 308 638 EB

Der überwiegende Teil der Lagerflüchtlinge sind Kinder. Um ihre Versorgung kümmert sich hauptsächlich „Ärzte ohne Grenzen“.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Doch auch erfahre- ne Autofahrer kommen mit kritischen Situationen nicht immer klar.. Ein Fahrsicherheitstrai- ning hilft, abseits der Straße und unter Anleitung eines Trainers

Weiterhin versteht sich die Organisation als „Sprachrohr für Völker in Not“ – Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht werden öffentlich

Zur Förderung der Wissenschaft in Lehre und Forschung sowie des wis- senschaftlichen Nach- wuchses standen dem Stif- terverband für die Deut- sche Wissenschaft im letz- ten Jahr

Der Arzt, so Seehofer weiter, wisse dann wieder, dass es auf sein Können und seine Zuwendung gegen- über dem Patienten ankommt und nicht auf die staatliche Regulierung:

Darüber hin- aus sind Texte und Grafiken aus den Veröffentlichungen der GBE zugänglich, bei- spielsweise aus dem Gesund- heitsbericht für Deutschland, aus den Themenheften

schwört, daß bei Kupfa nichts hän- gen bleibt. Die Sachspenden könne man dank der Frachtvergünstigung direkt und ohne Aufwand zustellen, Geldspenden würden die Empfän-

Foto oben: Der Notfallrucksack von Care, der über die Grenze nach Afghanistan ge- tragen wird, enthält das Wichtigste für die medizinische Versorgung unter Kriegsbe- dingungen

Während Sozial- minister John Moore bereits äußerte, die Regierung wer- de diesen Empfehlungen fol- gen, hat Premierministerin Thatcher in den letzten Mo- naten im Unterhaus immer