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Archiv "Medikamenten-Kampagne: Spenden sind keine Lösung" (19.01.2001)

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ie jüdische Medizinethik basiert auf einer jahrtausendealten Tradi- tion und genießt in weiten Kreisen hohes Ansehen. Sie stellt ein System dar, das aus Perspektive der jüdischen Religion die anfallenden, vielschichti- gen Probleme zu lösen versucht.

Da in der jüdischen Religion keine klare Trennlinie zwischen Ethik und Gesetz existiert, erscheint es unum- gänglich, das jüdische Gesetz zu ken- nen, wenn man die jüdische Medizin- ethik verstehen will. Das schriftliche Gesetz, das im allgemeinen Sprachge- brauch auch als Bibel bezeichnet wird, setzt sich aus drei Teilen zusammen, der Tora, den Neviim und den Ketuvim, wobei die Tora die größte Bedeutung einnimmt. Sie ist die Grundlage des jü- dischen Glaubens und enthält in fünf Büchern die göttliche Lehre, die Moses am Berg Sinai erhalten hat. Die jüdi- sche Lehre besteht aber nicht nur aus dem schriftlichen Gesetz. Vielmehr kommt die mündliche Überlieferung hinzu, ohne die vieles des schriftlichen Gesetzes unverständlich bliebe.

Entscheidung von Fall zu Fall

Die mündliche Überlieferung wurde Moses und dem jüdischen Volk am Berge Sinai zur gleichen Zeit wie das schriftli- che Gesetz von Gott übergeben. In einer langen, beständigen Kette der Tradition konnte sie bis in die heutige Zeit erhalten werden. Im 2. Jahrhundert n. Chr. wurde damit begonnen, die Lehren der mündli- chen Überlieferung in einem Werk zu- sammenzustellen, das schließlich als so genannter Talmud Bekanntheit erlangen sollte. Der Talmud spielt in der jüdischen Tradition eine äußerst wichtige Rolle, stellt er doch eine Art Enzyklopädie des gesammelten jüdischen Wissens dar.

Jegliche Beschäftigung mit Proble- men im Rahmen des jüdischen Geset- zes, der so genannten Halacha, geht nur über ein Studium von Tora und Talmud sowie deren Kommentare.

Wenn rabbinische Autoritäten mit medizinethischen Fragen konfrontiert werden, halten sie sich an genau dassel- be Analyseverfahren, wie wenn sie ir- gendein anderes Problem im Rahmen des jüdischen Gesetzes zu lösen hätten.

Es ist somit gemäß der Denkweise der jüdischen Medizinethik nicht möglich, moralische Probleme der Medizin auf der Basis von persönlichen Gefühlen und Wertvorstellungen zu lösen, son- dern es bedarf der eingehenden hala- chischen Analyse durch eine rabbini- sche Autorität, deren Entscheidung dann zu respektieren ist. Dabei reicht eine schlichte Vertrautheit des Rabbi- ners mit den halachischen Quellen nicht aus. Vielmehr müssen in jedem spezifi- schen Fall die jeweiligen Umstände in die Überlegungen miteinbezogen wer- den, es muss also von Fall zu Fall ent- schieden werden.

Für die Problematik der Sterbehilfe aus jüdischer Sicht gelten folgende Grundprinzipien:

1. Tötungsverbot: Es ist gemäß der Tora verboten, einen Menschen umzu- bringen, außer wenn es sich um einen potenziellen Mörder handelt und nur durch dessen Tötung der eigene Tod oder der eines anderen Unschuldigen verhindert werden kann (Notwehr).

Das Umbringen eines Menschen, der nicht eine unmittelbare Lebensgefahr für andere darstellt, gilt als Mord, ob es sich dabei nun um ein Neugeborenes, einen gesunden Erwachsenen oder ei- nen Sterbenden handelt. Unter das Tö- tungsverbot fällt auch das Verbot der Selbsttötung (8). Der Suizid ist selbst unter der Absicht verboten, einem an-

deren Menschen durch diese Tat das Leben zu retten.

2. Leben als „Leihgabe“: Der Mensch besitzt nicht ein absolutes Anrecht auf seinen Körper. Gott hat jedem Men- schen einen Körper und eine Seele für eine bestimmte Zeit zur Verfügung ge- stellt, und jeder Mensch ist verantwort- lich dafür, für diese „Leihgabe“ Sorge zu tragen (10).

3. Unendlicher Wert menschlichen Lebens: Menschliches Leben besitzt aus jüdischer Sicht einen unantast- baren, unendlichen Wert, unabhängig davon, ob es sich dabei um ein Leben handelt, das nur noch einige Sekunden oder möglicherweise noch viele Jahre andauern wird.

Diskussion über passive Sterbehilfe

In Semachot, 1:1-4, heißt es (Überset- zung des Autors): „Jemand, der am Ster- ben ist, wird in jeder Beziehung wie ein Lebender betrachtet. Man soll ihm [dem Sterbenden] weder den Kiefer binden, noch seine Öffnungen zustopfen . . . Man darf ihn nicht bewegen . . . Man darf die Augen einer sterbenden Person nicht schließen. Derjenige, der ihn [den Ster- benden] berührt und bewegt, der ver- gießt Blut, wie Rabbi Meir zu sagen pflegte: Dies kann mit einer schwachen Flamme verglichen werden; sobald eine Person sie berührt, erlöscht sie. So auch hier: Wer die Augen eines Sterbenden schließt, wird so angesehen, als ob er ihm seine Seele genommen hätte . . .“

Aus dieser Quelle geht hervor, wie streng die Gesetze im Zusammenhang mit dem Sterbenden aus jüdischer Sicht gefasst sind: Dem obersten Prinzip der Heiligkeit menschlichen Lebens fol- gend, ist es verboten, den Tod eines Ster- benden zu beschleunigen. Aus diesem Grund darf ein Sterbender nicht einmal berührt und bewegt werden (eine Aus- nahme bilden notwendige medizinische oder pflegerische Maßnahmen).

Es finden sich jedoch auch einige Quellen in jüdischen Schriften, die zur Verteidigung zumindest der passi- ven Sterbehilfe herangezogen werden können. Die Ausführungen beziehen sich dabei immer nur auf einen

„goses“, was im jüdischen Schrifttum T H E M E N D E R Z E I T

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A92 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 3½½½½19. Januar 2001

Jüdische Medizinethik

Leben als „Leihgabe“

Aus jüdischer Sicht ist jede Form aktiver Sterbehilfe verboten.

Yves Nordmann

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einen Sterbenden umschreibt, der dem Tod sehr nahe ist.

Eine erste wichtige Quelle findet sich bei Rabbi Jehuda ben Samuel, der um das Jahr 1200 n. Chr. in seinem „Sefer Hachassidim“ (Buch der Frommen) schrieb: „. . . wenn eine Person am Ster- ben ist, und in der Nähe ihres Hauses fällt jemand Holz, sodass die Seele [des Sterbenden] nicht entfliehen kann, so soll jemand den [Holz-]Fäller von dort vertreiben (7).“ Bezüglich dieser Aus- sage äußerte sich Rabbi Mosche Isserles (16. Jh.): „. . . wenn irgendetwas vorhan- den ist, was die Seele daran hindert, zu entfliehen, wie etwa ein klopfendes Geräusch in der Nähe des Hauses des Patienten . . ., und dies hindert die Seele daran zu entfliehen, so ist es erlaubt, dieses Hindernis zu entfernen, da auf diese Weise keine Handlung [am Patien- ten selbst] verübt wird, sondern lediglich ein Hindernis entfernt wird (5).“

Die Diskussion um die jüdische Hal- tung bezüglich Sterbehilfe wurde von Rabbiner Lord Jakobovits, dem kürzlich verstorbenen ehemaligen Oberrabbiner von Großbritannien, in seinem Pionier- werk „Jewish Medical Ethics“ zusam- mengefasst: „Jegliche Form von aktiver Sterbehilfe ist nach jüdischem Gesetz strengstens verboten. Sie gilt als Mord . . . Gleichzeitig wird aber von der Ha- lacha erlaubt – ja vielleicht sogar ver- langt –, einen Faktor zu entfernen, ob außerhalb des Patienten oder am Patien- ten selbst [solange der Patient nicht be- wegt wird], der künstlich den Sterbevor- gang verlängern könnte (6).“ Lord Jako- bovits betont, dass diese Regel lediglich im Falle eines „goses“ Gültigkeit besit- ze. Somit ist auch die passive Sterbehilfe bei einem Patienten, der noch Wochen oder Monate zu leben hat, grundsätzlich verboten. Auch in Israel ist aktive Ster- behilfe strikt untersagt. Umstritten ist dort allerdings, ob auch die passive Ster- behilfe in jedem Fall abzulehnen sei. In der Öffentlichkeit wird über diese The- matik kontrovers diskutiert (dazu Deut- sches Ärzteblatt, Heft 22/1997).

Rav Elieser Jehuda Waldenberg, spe- ziell für medizinische Fragen eine ange- sehene rabbinische Autorität, behan- delt in seinem medizinisch-halachischen Werk „Ziz Elieser“ eingehend die Pro- blematik der Sterbehilfe. Rav Walden- berg vertritt die Auffassung, dass jeder

Mensch nach jüdischem Gesetz ver- pflichtet sei, alles zu tun, was in seiner Macht stehe, um einem Sterbenden das Leben zu erhalten, auch wenn dies nur für kurze Zeit gelingen sollte. Dies gelte nach Rav Waldenberg auch dann, wenn der Sterbende schwer leide und den Wunsch anbringe, man möge seinen Tod beschleunigen (11). Allerdings sei es gemäß jüdischem Gesetz erlaubt, dem Sterbenden narkotische Analgeti- ka wie Morphium zu verabreichen, so- gar wenn diese den Tod beschleunigen könnten, aber nie mit der Absicht, ihm das Leben zu verkürzen, sondern ledig- lich, um seine Schmerzen zu lindern (12). Rav Waldenberg hält weiter fest,

dass Bluttransfusionen, Sauerstoff, An- tibiotika sowie orale oder parenterale Ernährung bei einem unheilbar kran- ken Patienten bis zu dessen Tod weiter gegeben werden müssten (13).

Richtlinien aus jüdischer Sicht

Rav Schlomo Salmen Auerbach, eine der größten rabbinischen Autoritäten des 20. Jahrhunderts, betont ebenfalls, dass einem unheilbar und schwerst- kranken Patienten Nahrung und Sauer- stoff zugeführt werden müssten, und zwar sogar dann, wenn dies gegen sei- nen Willen geschehen sollte (2).

Rav Bleich hat die jüdische Haltung gegenüber der Sterbehilfe wie folgt be- schrieben (3): „Das Praktizieren von Sterbehilfe, ob aktiv oder passiv, steht im Widerspruch zur Lehre des Juden-

tums. Jegliche positive Handlung, die bezweckt, den Tod eines Patienten zu beschleunigen, ist nach jüdischem Ge- setz ein Mord, auch dann, wenn der Tod nur um einige Momente beschleunigt wurde.“ Rav Bleich betont im Weiteren den Spezialfall „goses“. Auch hier gel- te, dass der Tod nicht aktiv beschleunigt werden dürfe, aber unter gewissen Um- ständen könne man es bei einem „go- ses“ unterlassen, überhaupt mit einer Behandlung zu beginnen. Rav Bleich zitiert einige Autoritäten, die nicht nur das Unterlassen einer Behandlung zu- lassen, sondern sogar die Auffassung vertreten, dass jede Handlung, die den Sterbeprozess eines „goses“ verlängert,

verboten sei. So schreibt beispielsweise Rav Mosche Feinstein in seinen Re- sponsen Iggerot Mosche: „Es ist sicher- lich verboten zu versuchen, das Leben einer sterbenden Person zu verlängern, wenn dies in (zusätzlichem) Schmerz und Leiden resultieren würde (4).“

Prof. Dr. med. Abraham ben Abra- ham, zeitgenössischer Experte in medi- zinisch-halachischen Fragen, hat Richt- linien im Zusammenhang mit der Pro- blematik der Sterbehilfe aus jüdischer Sicht verfasst (1), die kurz zusammen- gefasst werden:

1. Grundsätzlich müssen alle Patien- ten – unabhängig von ihrem Zustand – mit Nahrung, Flüssigkeit, Sauerstoff und anderen lebenserhaltenden Ele- menten versorgt werden, und zwar auch dann, wenn diese lebenserhaltenden Elemente auf unübliche Weise verab-

reicht werden müssen. ✁

T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 3½½½½19. Januar 2001 AA93

Aus jüdischer Sicht müssen Sterbende grundsätzlich wie alle anderen

Patienten behandelt werden. Foto: DHS

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T H E M E N D E R Z E I T

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A94 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 3½½½½19. Januar 2001

2. Patienten mit schwersten chroni- schen Krankheiten, die nicht terminal sind, müssen genau gleich wie alle ande- ren Patienten behandelt werden.

3. Patienten mit terminalen Krank- heiten, die am Sterben sind („goses“), müssen grundsätzlich ebenfalls wie alle anderen Patienten behandelt werden.

Wenn ein „goses“ aber beispielsweise einen Herz- oder Atmungsstillstand er- leidet oder andere schwere Komplika- tionen auftreten, die einer größeren Be- handlung bedürften, sodass sich die Leiden des Sterbenden noch verschlim- mern könnten, gilt Folgendes:

a) Wenn der Herz- oder Atemstill- stand durch die terminale Krankheit be- dingt ist, das heißt im Rahmen des unver- meidlichen Krankheitsverlaufs erwartet werden konnte, dann muss eine Reani- mation grundsätzlich nicht unbedingt versucht werden, vielleicht wäre es sogar ein Fehler, eine solche zu versuchen.

b) Wenn aber der Herz- oder Atem- stillstand oder andere Komplikationen unerwartet und unabhängig von der terminalen Krankheit auftreten, dann muss auch bei einem „goses“ eine voll- ständige Behandlung eingeleitet wer- den, wie dies für jeden anderen Patien- ten auch geschehen würde. Diese Grundregel gilt aber nur in denjenigen Fällen, in welchen die Leiden und der Todeskampf des Sterbenden dadurch nicht verstärkt werden.

Da die Entscheidungen im Zusam- menhang mit der Sterbehilfe oft äußerst schwierig zu treffen sind, sollten Beur- teilungen immer fallbezogen vorge- nommen werden. Dabei sollte die Si- tuation mit der Familie, kompetenten Ärzten und einer in diesen Sachfragen angesehenen rabbinischen Autorität diskutiert werden.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 2001; 98: A 92–94 [Heft 3]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Yves Nordmann Gotthelfstrasse 98 CH-4054 Basel, Schweiz

In Yves Nordmanns Buch „Zwischen Leben und Tod – Aspekte der jüdischen Medizinethik“, Verlag Peter Lang, Bern, 1999/2000, finden sich weiterreichende Ausfüh- rungen sowie zahlreiche zusätzliche Literaturangaben.

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ido von Schön-Angerer spricht aus Erfahrung: „Ich bin es leid, meine Patienten sterben zu sehen, weil sie sich keine Medikamente leisten kön- nen.“ Der Mediziner arbeitet seit gut ei- nem Jahr für Ärzte ohne Grenzen in ei- nem Aids-Projekt in Thailand. Weniger als fünf Prozent der eine Million Men- schen mit HIV/Aids können sich dort ei- ne angemessene Therapie leisten. Dies ist kein Einzelfall, sondern trauriger Alltag in den meisten Entwicklungslän- dern. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (Me´decins sans Fronti`eres, MSF) hat deshalb vor gut einem Jahr ei- ne langfristig angelegte Kampagne ge- startet (siehe DÄ Heft 42/1999). Unter dem Motto „Besserer Zugang zu unent- behrlichen Medikamenten“ will sie die Verantwortlichen in Forschung, Wirt- schaft und Politik an einen Tisch brin- gen, um Lösungen zu erarbeiten.

Aids verschärft das Problem

„Ein Drittel der Weltbevölkerung hat keinen Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten. HIV/Aids hat die Pro- blematik noch verschärft“, betonte El- len t’Hoen von Ärzte ohne Grenzen an- lässlich der Tagung „Gesundheit – Op- fer fortschreitender Globalisierung?“, zu der die Hilfsorganisation Ende letz- ten Jahres nach Berlin eingeladen hat- te. Die jährlichen Therapiekosten in Höhe von rund 10 000 US-Dollar könn- ten sich im Grunde nur Patienten in Nordamerika, Japan und Europa lei- sten, führte t’Hoen weiter aus. Dabei lebten 83 Prozent der Betroffenen in Afrika. t’Hoen macht das Patentrecht mitverantwortlich für die hohen Preise.

Die TRIPS-Vereinbarung (Trade Re- lated Aspects of Intellectual Property Rights), der sich 125 Staaten ange-

schlossen haben, ermöglicht einen welt- weiten 20-jährigen Patentschutz auf Medikamente. t’Hoen: „20 Jahre sind viel zu lang. Die Patienten können nicht so lange darauf warten, dass die Preise sinken.“ Dabei sieht die TRIPS-Verein- barung durchaus Ausnahmeregelungen vor, wenn beispielsweise die öffentliche Gesundheit gefährdet ist. Die Teilneh- merstaaten können unter solchen Um- ständen preiswertere Parallelimporte einführen oder Zwangslizenzen an in- ländische Firmen vergeben, die das be- treffende Medikament zu einem Bruch- teil des Preises herstellen. t’Hoen: „Wir sähen es gerne, wenn ärmere Staaten diese Ausnahmeregelungen anwende- ten.“ Wie schwierig das ist, belegte von Schön-Angerer am Beispiel Thailand.

Dort existiere eine leistungsfähige pharmazeutische Industrie. Wäre es ihr gestattet, antiretrovirale Medikamente in Lizenz herzustellen, könnten die Therapiekosten erheblich gesenkt wer- den. Derzeit überstiegen beispielsweise die monatlichen Kosten für das Aids- Medikament Didanosin mit 136 US- Dollar das Durchschnittsgehalt eines Büroangestellten. Das Präparat war von den US-amerikanischen National Institutes of Health entwickelt und die Lizenz an die Pharmafirma Bristol-My- ers Squibb abgetreten worden. Das Un- ternehmen fügte dem Präparat einen Standard-Puffer hinzu und ließ sich das so veränderte Medikament in Thailand patentieren. Versuche der thailändi- schen Regierung, eine Zwangslizenz durchzusetzen, scheiterten am wirt- schaftlichen und politischen Druck aus den Industrienationen. In Thailand fand sich dennoch eine Teillösung: Dort wird Didanosin inzwischen generisch in Pul- verform produziert, da diese Darrei- chungsform nicht unter den Patent- schutz fällt. Seit April benutzen die Mit-

Medikamenten-Kampagne

Spenden sind keine Lösung

Die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ bemüht sich,

Menschen in Entwicklungsländern langfristig einen besseren

Zugang zu lebensnotwendigen Arzneimitteln zu verschaffen.

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arbeiter von MSF das Pulver für ihre Pa- tienten.

Ein solches Vorgehen stößt bei der Pharma-Industrie auf wenig Gegenlie- be. Nach Ansicht von Dieter Laudien von Boehringer Ingelheim wird das Mittel der Zwangslizensierung den Zu- gang zu Arzneimitteln nicht verbessern.

Vielmehr müssten die Ursachen ange- gangen werden, indem die Qualität des Gesundheitswesens und die Infrastruk- tur in den betroffenen Ländern verbes- sert würden. Er bekräftigte zugleich die Bedenken der Pharma-Industrie gegen Forderungen von MSF, ein differenzier- tes Preissystem mit hohen Preisen in den Industrieländern und niedrigen Preisen in den ärmeren Ländern einzu- führen. Dies öffne illegalen Reimpor- ten in die Hochpreisländer Tür und Tor und führe dazu, dass die Firmen ihre hohen Forschungs- und Entwick- lungskosten nicht mehr erwirtschaf- ten könnten. Ludmilla Schlageter von Ärzte ohne Grenzen hält dem entgegen, dass das differenzierte Preissystem bei Impfstoffen funktio- niere und nicht zu massenhaft billi- gen Reimporten geführt habe.

Offenbar erkennt die Pharmain- dustrie aber die Brisanz des Themas.

Im Mai letzten Jahres erklärten sich fünf Firmen zunächst bereit, ihre Preise für Aids-Medikamente in är- meren Ländern zu senken. Mittler- weile gehen die Firmen jedoch ver- stärkt dazu über, Arzneimittel zu spenden statt ihre Preispolitik zu ändern. Dazu MSF-Mitarbeiterin Schlageter: „Auf den ersten Blick ist das begrüßenswert.“ Es sei jedoch keine langfristige Lösung. Selbst wenn die Spenden nicht lokal und auf einen bestimmten Personenkreis beschränkt seien, ergäben sich Probleme. So habe die Firma Boehringer angekündigt, ein Aids-Präparat fünf Jahre lang kostenlos an jede HIV-infizierte Frau abzugeben, die in einem Entwicklungsland lebt.

Der Haken an der Sache: Der jeweilige Staat muss, um einen sinnvollen Antrag stellen zu können, zunächst einmal die betroffenen Frauen ausfindig machen, sprich großflächig testen, zum anderen die gesamte Logistik stellen. Mosambik beispielsweise hat auf das Angebot be- reits reagiert: „Das können wir uns nicht leisten.“

Überhöhte Preise sind nicht die ein- zige Zugangsbarriere zu lebensnotwen- digen Arzneimitteln. Nach Angaben von Ärzte ohne Grenzen sterben jähr- lich rund 17 Millionen Menschen an behandelbaren Infektionskrankheiten, weil weltweit kaum in die Forschung und Entwicklung von Medikamenten zur Behandlung von Tropenkrankhei- ten investiert wird. Dazu Dr. med. Gun- dula Epp-Graack, Vorstandsvorsitzen- de der deutschen Sektion von Ärzte oh- ne Grenzen: „Von den 1 223 neuen Me- dikamenten, die zwischen 1975 und 1997 entwickelt wurden, sind nur 13 da- zu geeignet, Tropenkrankheiten zu be- handeln.“ Außerdem würden bereits zugelassene Präparate nicht weiter her- gestellt, weil die Produktion nicht genü- gend Gewinn erbringe.

Beispiel Schlafkrankheit: „Die Er- krankung spielt außerhalb Afrikas kei- ne Rolle“, sagte Dr. med. August Stich von Ärzte ohne Grenzen. Zur Therapie stehe nur eine Handvoll Medikamente zur Verfügung. Dabei würden dringend Behandlungsalternativen benötigt. Bei- spielsweise entfalte eines der Standard- präparate, das Arsen-Derivat Melarso- prol, bei rund fünf Prozent der Patien- ten tödliche Nebenwirkungen: „Wir vergiften den Patienten, in der Hoff- nung, dass der Parasit früher stirbt“, so Stich. Ein weiteres Problem: Aufgrund von Resistenzentwicklungen steigt die Zahl der Patienten, die nicht auf die Therapie mit Melarsoprol ansprechen.

Das einzig effektive Mittel für diese Pa- tienten ist Eflornithin. 1994 hat jedoch die Herstellerfirma Hoechst die Pro- duktion mangels Profitabilität einge- stellt. Ihre Rechtsnachfolgerin Aventis trat Ende 1999 die Lizenz für das Präpa- rat an die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ab. Seither bemühen sich WHO und Ärzte ohne Grenzen, einen Her- steller zu finden – bislang vergeblich.

Von der Forschung vernachlässigt werden auch Mittel gegen die „Armuts- krankheiten“ Malaria und Tuberkulo- se, obwohl die Resistenzentwicklung hier ebenfalls dramatisch verläuft. MSF zufolge sterben jährlich rund zwei Mil- lionen Menschen an Tuberkulose. Das letzte Standardmedikament sei mehr als 30 Jahre alt, die Impfung stamme aus dem Jahr 1923. Die von der WHO empfohlene Behandlung, die DOTS- Strategie (Directly Observed Treat- ment Short Course), sei zwar effek- tiv, aber langwierig und nur mit ho- hem Personalaufwand umzusetzen.

Es bestehe von daher ein großer Be- darf an kurzen und einfachen Be- handlungsschemata. Die Therapie einer multiresistenten Tuberkulose komme für die meisten Patienten in ärmeren Ländern wegen der hohen Kosten nicht infrage.

Dennoch ist Ärzte ohne Grenzen gut ein Jahr nach dem Start der Kampagne vorsichtig optimistisch.

Es sei gelungen, das Thema ins öf- fentliche Bewusstsein zu rücken.

Darauf ließ die Anwesenheit der da- maligen Bundesgesundheitsministe- rin Andrea Fischer bei der Berliner Tagung schließen. „Es hat lange ge- dauert, bis die Ungerechtigkeiten er- kannt wurden“, sagte sie. Zwar lehnte Fischer Eingriffe in das Patentrecht ab.

Sie appellierte jedoch an die Verantwor- tung der Pharmaunternehmen: „Wer Arzneimittel produziert, muss sich dar- über im Klaren sein, dass er keine Autos herstellt. Daraus erwächst eine soziale Verpflichtung.“ Auch auf der Ebene der Europäischen Union geraten die Dinge in Bewegung. Ludmilla Schlageter wer- tet es als Fortschritt, dass die EU-Kom- mission Arzneimittel inzwischen als be- sondere Güter anerkennt und einen Ak- tionsplan auflegen will, der sich mit dem Zugang zu lebensnotwendigen Arznei- mitteln beschäftigt. Heike Korzilius T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 3½½½½19. Januar 2001 AA95

Die zweijährige Thembi ist HIV-infiziert. Ihre Mutter hat sie in einem Pflegeheim für Aids-Patienten abgegeben.

In Südafrika gibt es nach UN-Angaben etwa 420 000 HIV-infizierte Kleinkinder, die verwaist sind oder von Ihren Eltern in Heimen abgeliefert werden.

Foto: dpa

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