DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Künstlergruppen
Nach 1900: Eine Gruppe von Malwei- bern bei der Freiluft- malerei im Dachauer Moos - Der Barken- hoff Heinrich Vogelers um 1900, Zentrum der Worpsweder Künstler- gemeinde, idyllischer Kontrast zu „Gefühl und Härte" der mo- dernen Berliner Szene
Fotos: Werner Zellien, Ber- lin, Archiv für Kunst und Ge- schichte, Berlin (2), Worps- weder Verlag, 2804 Lilienthal
hinzugemietet werden konnten, wurde für die Dauer von drei Jahren außerdem eine Selbsthil- fegalerie eingerichtet, die nicht nur zur Ausstellung der Arbeiten der Gruppe diente, sondern auch „externe" Künstler-Anfän- ger, mit deren Arbeit man sym- pathisierte, zu Gastausstellun- gen einlud. Ein eigens geführtes
„Gästebuch" gibt darüber Aus- kunft. Die heutige Gruppe setzt sich nur mehr aus sechs Künst- lern, drei Frauen und drei Män- nern, zusammen. Sie kann in vieler Hinsicht exemplarisch als eine Folge des Künstler-Solita-
rismus und seiner angestrebten Überwindung durch ein koope- rativ und solidarisch funktionie- rendes Künstlerkollektiv ange- sehen werden.
Dieses „Kollektiv" von Künst- lern bildet eine Gemeinschaft, die auf die pragmatische Bemei- sterung des Arbeitsalltags be- schränkt ist, also in erster Linie auf den Genuß eines eigenen Ateliers und einer von vielen
Köpfen und Händen eingerich- teten Werkstätte, deren Instru- mente prinzipiell allen verfügbar sind. Darüber hinaus gibt es zwi- schen den Gruppenangehöri- gen viele weltanschauliche, gei- stige, emotionale Verbindungs- linien, ohne daß man sich der Mitwirkung dieses komplexen Beziehungsnetzes bei der Ar- beit bewußt ist oder sich dar- über im einzelnen Rechenschaft zu geben einen Anlaß sähe.
Eine wesentliche, nicht zuletzt menschliche Voraussetzung für diese über rein formale Kollegiali- tät hinausgehende Zusammenar- beit ist die bemerkenswerte Tat- sache, daß die ausschließlich von ehemaligen Schülern der „Mal- klasse" von Professor Wolfgang Petrick an der Hochschule der Künste in Berlin begründete Gruppe ihren einstigen Lehrer in die neue Gemeinschaft „berufen"
und integriert hat. Damit wurden weniger Unsicherheit, Stützungs- bedürftigkeit und Anhänglichkeit der Künstler-Anfänger an das alte
Lehrer-Schüler-Verhältnis bekun- det als vielmehr der Entschluß, ei- nen als wertvoll erfahrenen Ar- beitszusammenhang über die zeitlich, räumlich und organisato- risch begrenzte Institution der Kunstakademie hinaus fortzuset- zen. Die Vorteile einer solchen Verbindung liegen auch auf sei- ten des ehemaligen Lehrers, der nicht nur in den Genuß eines drin- gend benötigten funktionalen,
„wirtschaftlicheren" Großateliers kommt, sondern durch den Kon- takt mit einer neuen Künstlerge- neration über eine zusätzliche In- spirationsquelle verfügt. Der von der Pädagogik immer wieder ge- forderte lernende anstatt dozie- rende, zu Doktrinarismus und Al- ters-Solitarismus neigende Lehrer ist hier Wirklichkeit geworden.
Gerade die Künstlergemeinschaft der Kulmer Straße ist ein lehrrei- ches Beispiel dafür, daß man sich die Einflußsphäre einer kreativ ar- beitenden Gruppe soziologischer Abstraktionen zuliebe nicht als ei- nen autonomen, geschlossenen Regelkreis vorstellen darf, der ge- gen kulturelle und künstlerische Anregungen von draußen total ab- gedichtet wäre.
Die in der Kulmer Straße seßhaft gewordenen Künstler und Künst- lerinnen - Irene Fehling, Thomas Lange, Bettina Niedt, Heike Ruschmeyer, Michael Schulze und Wolfgang Petrick - bilden kei- ne Lebens-, sondern eine locker assoziierte Arbeitsgemeinschaft, deren „Mitglieder", abgesehen von gelegentlichen Festen und geselligen Zusammenkünften, auf einen vom Arbeitsplatz getrenn- ten privaten, familialen Lebensbe- reich Wert legen. Von der Utopie einer Versöhnung von Kunst und Leben, die so manche vom Ge- samtkunstwerkdenken des Ju- gendstils geprägte Künstlerge- meinschaft der Jahrhundertwen- de beseligt hat, ist in dieser Grup- pe nichts zu finden.
• Wird fortgesetzt (Die Künstler und ihre Werke werden einzeln vorgestellt).
3554 (78) Heft 47 vom 20. November 1985 82. Jahrgang Ausgabe A