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chon als Knabe hatte ich von meiner Mutter ge- hört, dass ich gut und deutlich mit wenigen Linien etwas zeichnen könne, das ge- dachte ich zu benutzen und darauf aufzubauen“, schrieb Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) im Jahr 1937. Er zeichnete auf Straßen und Plätzen, in Gasthäusern, im Theater, im Varieté, im Kon- zertcafé, überall wo Men- schen in freier Bewegung zu sehen waren. Kirchner füllte in seinem Leben 180 Skizzen- bücher. Ein bislang unveröf- fentlichtes Skizzenalbum mit rund 200 teils farbigen, meist nur handtellergroßen Zeich- nungen und Aquarellen ist noch bis zum 29. August im Berliner Kupferstichkabinett zu sehen. Das Kabinett zeigt erstmals seinen umfassenden Bestand an Zeichnungen, Grafiken, bemalten Postkar-ten und illustrierten Büchern Kirchners. Die Ausstellung zeigt alle drei Hauptschaf- fensphasen des Künstlers:
Dresden, Berlin, Schweiz. Im Jahr 1986 erwarb der damali- ge Direktor des Kupferstich- kabinetts das Skizzenbuch.
Drei der Zeichnungen hatte Kirchner signiert, keine je- doch datiert.
Nicht wenige der kleinen Zeichnungen haben als Formidee Eingang in Kirch- ners grafisches und maleri- sches Werk gefunden. Das Album eröffnet Einsichten zur grundsätzlichen Bedeu- tung der Skizze im Schaffen Kirchners, beispielsweise im Umgang mit den beliebten gezeichneten Postkarten, die immer als Ausdruck absolu- ter Spontaneität gewertet wurden. Unter den Skizzen finden sich unmittelbare Vorzeichnungen für solche
Postkarten. Den Motiven nach kreisen diese Blätter um Tanzszenen wie Teller- jongleure im Freien, Akte im Atelier oder in der freien Natur, Badeszenen, exoti- sche Menschen, Bildnisse
von Freundinnen und Freun- den, intime Paare, Stadtland- schaften, abstrakte Bewe- gungsstudien sowie Reiseim- pressionen.
Kirchner beschäftigte sich intensiv auch mit der Grafik.
Bereits in der Dresdner Zeit (1901–1911) druckte er seine Grafiken auf einer eigenen Handpresse, die erstmals für die Ausstellung seit 1919 wie- der nach Berlin aus der Schweiz zurückgeholt ist. Zu den 110 druckgrafischen Ein- zelblättern der Kirchner- Sammlung des Kupferstich- kabinetts gehören seltene Hauptwerke wie der „Kopf des Kranken“ (1917/18), ein trauriges Selbstbildnis aus der tiefen Lebenskrise, in die Kirchner durch den Ersten Weltkrieg geraten war. Es entstand während eines Sana- toriumsaufenthalts am Bo- densee. Der Künstler hatte durch zu hohen Konsum von Schlafmitteln Lähmungser- scheinungen an Händen und Zehen. Als der kranke Kirch- ner im Mai 1917 in Beglei- tung einer Berliner Kranken- schwester nach Davos kam, um in der klaren Höhenluft, fernab des Krieges, seine Gesundheit zu stabilisieren, ahnte er nicht, dass er dort bis an sein Lebensende bleiben würde.Aus Verzweiflung über die geistige und politische Entwicklung in Deutschland, die Diffamierung seiner Kunst durch die Nazis und seine zu- nehmende körperliche Schwä- che tötete sich Kirchner am 15. Juni 1938 durch einen Herzschuss. Er wurde auf dem Friedhof in Davos beige- setzt. Susanne Lenze V A R I A
Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 31–322. August 2004 AA2193
Ernst-Ludwig Kirchner
Tellerjongleure, Zirkusreiter und liegende Paare
Das Berliner Kupferstichkabinett zeigt ein bisher unveröffentlichtes Skizzenbuch Kirchners mit mehr als 200 Zeichnungen.
Die Ausstellung „Erstes Sehen“ des Berli- ner Kupferstichkabinetts, Matthäikirch- platz am Kulturforum Potsdamer Platz, 10785 Berlin, Telefon: 0 30/266 20 02 ist bis zum 29. August zu sehen. Präsentiert werden frühe Dresdner Arbeiten, Blätter der Berliner Jahre und das in der Schweiz entstandene Spätwerk. Der Katalog er- schien im Prestel Verlag; er kostet im Buchhandel 59 Euro, in der Ausstellung 35 Euro.
Feuilleton
Dodo mit großem Hut, 1911, (aus dem Skizzenalbum) Bleistift
Strand auf Fehmarn, 1913, Aquarell über Bleistift
Fotos:VG Bild-Kunst,Bonn;Henze-Ketterer