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rundlage der Aussage waren Quecksilberanalysen in Spei- chelproben, die spontan und nach dem Kauen von Kau- gummi gewonnen wurden. Die Er- gebnisse der Tübinger Amalgam- Studie [1] wurden umgerechnet auf tägliche Aufnahmemengen und in Beziehung gesetzt zu den von der WHO empfohlenen Grenzwerten der maximalen Quecksilberaufnah- me mit der Nahrung und bei deren rechnerischen Überschreitung auf ei- ne Schadhaftigkeit der Füllungen ge- schlossen. Außerdem wurden Ver- gleiche der üblichen Hintergrundbe- lastung durch Atemluft und Trink- wasser angestellt.Bei der Untersuchung handelt es sich offensichtlich um die Arbeit einer Gruppe analytischer Chemiker.
Zahnärzte und toxikologisch versier- te Ärzte waren offensichtlich weder an der Planung noch an der Durch- führung der Untersuchung oder der Interpretation der Ergebnisse betei- ligt. Aus diesem Grunde sehen wir uns veranlaßt, die bisherigen Unter- suchungsergebnisse kritisch zu be- werten. Dabei sind insbesondere drei Aspekte von Bedeutung:
1. Die Quecksilber-Analytik im biologischen Material und die Bedin- gungen der statistischen Qualitätssi- cherung.
2. Die Eignung des Materials Speichel für Aussagen über die Quecksilber-Abgabe beziehungswei- se Quecksilber-Aufnahme in den Or- ganismus.
3. Die toxikologische und zahn- medizinische Interpretation von Spei-
chelmeßwerten im Hinblick auf die Qualität von Amalgamfüllungen.
Diesbezüglich ist im einzelnen folgendes festzustellen:
Ad 1:Bei der Analytik von Spu- renelementen im biologischen Mate- rial sind die Kriterien der statistischen Qualitätssicherung gemäß den Richt- linien der Bundesärztekammer und speziell der TRGS 410 zu beachten.
Bei der bisher vorliegenden Untersu- chung ist nicht erkennbar, daß diese Kriterien erfüllt wurden.
Ad 2: Speichel ist physiologisch bedingt ein heterogenes Material
wechselnder Zusammensetzung.
Quantitative Umrechnungen von punktuell gemessenen Konzentratio- nen auf tägliche Aufnahmemengen sind daher von vornherein problema- tisch. Einzelne Meßwerte erlauben nur allenfalls grobe Abschätzungen.
Da es für Speichel auch keine zuver- lässigen Korrekturwerte gibt, die die
Konzentrationsunterschiede ausglei- chen könnten, sind im Einzelfall star- ke Schwankungen der jeweiligen Konzentrationen im Speichel zu er- warten. Zwar berichten die Autoren der Tübinger Amalgam-Studie, daß sie die jeweiligen Speichelvolumina registriert haben. Angegeben und be- wertet wurden bisher aber lediglich die literbezogenen Konzentrationen.
Unbedingt notwendige Vorarbeiten, die die Reproduzierbarkeit des Ver- fahrens hätten darstellen können, wurden offensichtlich nicht durchge- führt. Unbeachtet blieb anscheinend auch, daß Quecksilber im Speichel in ver- schiedenen Bindungs- formen vorliegen kann, die ein ganz unter- schiedliches und vom
„Nahrungs-Quecksil- ber“ deutlich abwei- chendes Resorptions- verhalten zeigen. Ins- besondere kann es zu massiven „Ausreißern“
durch metallischen Abrieb kommen, der praktisch nicht resor- bierbar ist. Mit zirka zehn Prozent gut re- sorbierbar sind nur die anorganischen Korrosionsprodukte (Ionen) von Quecksilber. Mit kurzzei- tig hohen Konzentrationen von ele- mentarem Quecksilber im Speichel ist nach dem Legen von Amalgamfüllun- gen oder auch nach dem Polieren so- wie vorübergehend nach dem Kauen beziehungsweise im Falle von Zähne- knirschen (Bruxismus) zu rechnen, A-1448 (28) Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 22, 31. Mai 1996
P O L I T I K MEDIZINREPORT
Zur Tübinger Amalgam-Studie
Speichelanalysen eignen sich nicht zur Bewertung der Quecksilberbelastung
Rainer Schiele, Michael Erler, Elmar Reich
In den letzten Wochen hat eine vom Bund Naturschutz und der Momo-Stiftung unterstützte Tübinger Amalgam-Studie für Ver- wirrung in der Öffentlichkeit und in der Zahnärzteschaft ge- sorgt. Darin wurde behauptet, daß ein Großteil der Amalgam- füllungen schadhaft sei und deswegen überprüft werden müß- te. Bei 28 Prozent der Testpersonen seien im Speichel Quecksil-
bermengen gemessen worden, die den von der WHO festgeleg- ten Grenzwert der Quecksilberaufnahme pro Tag von 43 Mikro- gramm zum Teil um ein Mehrfaches überschritten hätten. Im folgenden Beitrag erläutern die Autoren, daß Speichelanalysen keine zuverlässige Aussage über die tägliche Quecksilber- belastung des Menschen aus Amalgamfüllungen erlauben.
Zahnärzte und Patienten sind verunsichert. Die Tübinger Amalgam-Studie sorgte in der Öffentlichkeit für Verwirrung. Foto: BdA
ohne daß wegen der geringen Resorp- tion über den Magen-Darm-Trakt hieraus auf eine deutlich erhöhte Be- lastung des Gesamtorganismus oder sogar auf eine unzureichende Qua- lität der Amalgamfüllungen geschlos- sen werden könnte.
Auch die zusätzliche Durch- führung eines „Kaugummitests“ sug- geriert nur eine verbesserte Aussage über die Qualität der Amalgamfül- lungen, läßt im Hinblick auf die ge- nannten Unwägbarkeiten und insbe- sondere auf die durch das Kauen ver- ursachte unterschiedliche Stimulation des Speichelflusses aber keine objek- tiveren Aussagen zu.
Statistisch gesicherte Abhängig- keiten zwischen den Quecksilberkon- zentrationen im Speichel und der Zahl der Amalgamfüllungen bestehen we- der vor noch nach dem Kauen. Die Beziehungen der Quecksilberkonzen- trationen im Speichel zur Quecksil- berausscheidung im Urin waren in ei- ner anderen Untersuchung sogar in der Tendenz invers [2]. Eindeutig konnte hingegen bei vielen Untersu- chungen festgestellt werden, daß die Quecksilberausscheidung im Urin mit steigender Zahl der Amalgamfüllun- gen signifikant zunimmt [3, 5].
Ad 3: Die Besonderheiten des Materials Speichel und die unter- schiedlichen Bindungsformen von Quecksilber im Speichel erlauben ins- gesamt keine zuverlässige Aussage über die tatsächliche Gesamtbela- stung des Organismus. Die wesentli- chen Quellen der Quecksilberbela- stung der Allgemeinbevölkerung wurden 1991 von der WHO zusam- mengefaßt [6]. Dabei wurden die mittlere tägliche Aufnahme und Re- sorptionsrate von Quecksilber in Ab- hängigkeit von der Bindungsform und den Belastungspfaden wie folgt dar- gestellt (Tabelle). Der überwiegende Teil der Quecksilberresorption aus Amalgamfüllungen resultiert danach aus der inhalativen Aufnahme von Quecksilberdampf und nicht aus dem Verschlucken von Abrieb oder Kor- rosionsprodukten.
Die von den Autoren der Tübin- ger Amalgam-Studie vorgenomme- nen Hochrechnungen von Speichel- werten auf tägliche Aufnahmemen- gen sowie Vergleiche mit Grenz- werten der Trinkwasserverordnung
(1 mg/l) oder Maximalbelastungen in Industriegebieten sind für eine toxiko- logische Bewertung ungeeignet. Da die Untersuchungsmethode der Spei- chelanalyse weder bei „hohen“ noch bei „niedrigen“ Meßwerten Aussagen über die Qualität der Amalgamfüllun- gen zuläßt, kann auch der Zahnarzt im Rahmen seiner Untersuchungsmög- lichkeiten keine toxikologisch und zahnmedizinisch sinnvolle Interpreta- tion der Meßwerte vornehmen und aus diesen auch keine Indikation für einen Austausch ableiten.
Aus zahnmedizinischer Sicht können und sollten die vorhandenen Amalgamfüllungen primär nur hin- sichtlich ihrer klinischen Qualität (Randqualität, Abrasion und Korro- sion) untersucht werden. Wenn diese klinischen Parameter auf eine insuffi- ziente Amalgamfüllung hinweisen, so sollte diese erneuert werden. Die Auswahl des Füllungsmaterials muß sich nach den gesetzlichen Bestim- mungen und dem Stand der Wissen- schaft richten. Nur bei Amalgamun- verträglichkeiten, insbesondere bei Allergien, sollte auf Amalgam prinzi- piell verzichtet werden.
Zusammenfassend besteht kein Anlaß für die Annahme, daß Spei- chelanalysen eine zuverlässige Aussa- ge über die Quecksilberbelastung des Menschen aus Amalgamfüllungen be- ziehungsweise eine Bewertung ihrer
Qualität zulassen. Toxikologisch ver- wertbar sind Untersuchungen der Quecksilberausscheidung mit dem Urin [3, 4]. Zahnärzte und Ärzte, die mit angeblich überhöhten „Speichel- werten“ konfrontiert werden, könn- ten eine Quecksilberanalyse im Urin (vorzugsweise Morgenurin mit Krea- tininbezug) veranlassen, die eine zu- verlässigere Aussage über die integra- tive Gesamtbelastung erlaubt.
Selbst bei umfangreicher Amal- gamversorgung ergeben sich dabei – sofern keine anderen Quellen einer Quecksilberaufnahme bestehen – er- fahrungsgemäß aber keine toxikolo- gisch bedenklichen Konzentrationen.
Die Meßwerte liegen im Durchschnitt bei 1mg/l beziehungsweise 1mg/g Kreatinin. Die obere Normgrenze von 5mg/l beziehungsweise 5mg/g Kreatinin wird nur in wenigen Aus- nahmefällen überschritten.
A-1449
P O L I T I K MEDIZINREPORT
Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 22, 31. Mai 1996 (29)
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, anzufordern über die Verfasser.
Anschrift für die Verfasser:
Prof. Dr. med. Rainer Schiele Klinikum der
Friedrich-Schiller-Universität Jena Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin
07740 Jena
Tabelle
Mittlere tägliche Aufnahmemengen von Quecksilber und resorbierte Mengen in Abhängigkeit von Bindungsform und Belastungspfad nach WHO (5)
Bindungsform elementarer anorganische Methylquecksilber Quecksilberdampf Quecksilberverbin- (mg/d)
Belastungspfade (mg/d) dungen (mg/d)
mittlere tägliche mittlere tägliche mittlere tägliche
Auf- Resorp- Auf- Resorp- Auf- Resorp-
nahme tion nahme tion nahme tion
Luft 0,030 0,024 0,002 0,001 0,008 0,0064
Nahrung
fischreich 0 0 0,6 0,042 2,4 2,3
fischarm 0 0 3,6 0,25 0 0
Trinkwasser 0 0 0,05 0,0035 0 0
Amalgam 3,8–21 3–17 0 0 0 0
Gesamt 3,9–21 3,1–17 4,3 0,3 2,41 2,31