Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen KURZBERICHTE
Pflegefall-Versicherung:
Kontroversen
innerhalb der Union
Zu Kontroversen zwischen maß- geblichen Sozial- und Gesund- heitspolitikern der CDU/CSU-Bun- destagsfraktion und Mitgliedern des Kabinetts Kohl hat die anhal- tende Diskussion um die Absiche- rung des Risikos der Pflegebe- dürftigkeit geführt. Zunächst schaltete sich die Parlamentari- sche Staatsekretärin im Bundes- ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, Irmgard Karwatz- ki (CDU) mit einer ausweichenden Erklärung ein. In einer Antwort auf eine Anfrage des FDP-Bundes- tagsabgeordneten Dr. Wolfgang Weng, Apotheker aus Gerlingen, verwies sie auf die Koalitionsver- einbarung und den Bericht einer speziellen Bund-Länder-Arbeits- gruppe über „Aufbau und Finan- zierung ambulanter und stationä- rer Pflegedienste". Die Bundesre- gierung wolle danach auch die häusliche Pflege fördern und das finanzielle Risiko besser absi- chern. Eine Entscheidung über die verschiedenen Lösungsmöglich- keiten sei allerdings bis jetzt je- doch noch nicht gefallen. Auch habe die Bundesregierung noch keine konkreten Pläne darüber ge- faßt, ob eine spezielle sozialversi- cherungsrechtliche Pflegefallver- sicherung zumindest modellhaft erprobt werden soll. Frühestens in einem oder in zwei Jahren sollen die weitergehenden Arbeiten der Bund-Länder-Arbeitsgruppe abge- schlossen sein, so daß sich dann eine Entscheidung anbahnen kön- ne, so Frau Karwatzki. Dessenun- geachtet hat Bundesminister Dr.
Heiner Geißler, der Generalsekre- tär der CDU, gegenüber dpa er- klärt, daß nach seiner Auffassung die Übernahme der Pflegekosten durch die gesetzlichen Kranken- kassen die „sauberste Lösung"
wäre. Entsprechend müsse der Krankheitsbegriff in der Reichs- versicherungsordnung (RVO) ge- ändert werden. Dazu wäre es nach vorläufigen Berechnungen erfor- derlich, den Beitrag.ssatz um 0,8
bis 1,5 Prozentpunkte zu erhöhen, meinte Geißler. Er wies darauf hin, daß die Krankenkassen zwar die Kosten bei einem Krankenhaus- aufenthalt übernehmen, nicht aber bei der Unterbringung in ei- nem Pflegeheim. Dies führe zu ei- ner ungleichen Behandlung sozial gleicher Tatbestände. Da die Ein- kommen zur Bezahlung der Pfle- gesätze in einem Altenheim in Hö- he von etwa 80 DM pro Tag meist nicht ausreichten, müsse in diesen Fällen die Sozialhilfe einspringen.
Notwendig sei es jedoch, die So- zialhilfe von diesen Kosten zu ent- lasten.
Auch im Schwerpunkt-Programm der Kommunalpolitischen Vereini- gung (KPV) der CDU und CSU wer- den diese Pläne insoweit unter- stützt, als die Ausgaben des Bun- des für Sozialhilfeleistungen in Höhe von acht Milliarden DM in 1983 vorrangig auch von Teilen der Pflegekosten entlastet werden sollten. Staatssekretär Dr. Horst Waffenschmidt (CDU) vom Bun- desinnenministerium, Bundesvor- sitzender der Kommunalpoliti- schen Vereinigung, Bonn, regte an, Steuervergünstigungen dann zu gewähren, wenn die Pflege in der Familie statt im Heim erfolgt.
Ferner empfiehlt die KPV, das Netz der Sozial- und Pflegestationen und mobilen Hilfen („Essen auf Rädern") auszubauen. Zudem sol- len ehrenamtliche Altenhelfer- Gruppen der sozialen und kirchli- chen Verbände gefördert werden.
Von der Zahlung eines Pauschal- betrages für häusliche Pflege ver- spricht sich die KPV ebenfalls ei- nen erheblichen Spareffekt. Wür- den Familienangehörigen monat- lich bis zu 600 DM bei familiärer Altenpflege gezahlt werden, so könnten Kosten für einen Pflege- heimplatz in der fünffachen Höhe eingespart werden.
Auch der gesundheitspolitische Sprecher der CSU im Deutschen Bundestag, Dr. Kurt Faltlhauser, MdB, München, hat sich erst kürz- lich bei einem Diskussionsforum mit Politikern und Krankenkassen-
experten, veranstaltet vom For- schungsinstitut für die zahnärztli- che Versorgung (FVZ), dafür ein- gesetzt, das Pflegerisiko rechtlich in die gesetzliche Krankenversi- cherung durch Änderung der RVO zu integrieren. Er warnte jedoch davor, eine eigenständige soziale Pflegeversicherung aufzubauen, denn nach den Erfahrungen in den Niederlanden würde geradezu ein Inanspruchnahme-Boom da- durch ausgelöst werden; in Hol- land hätten sich die Kosten der Pflegeversicherung innerhalb von vier Jahren nahezu verachtfacht.
Auch der Vorsitzende der Arbeits- gruppe „Arbeit und Soziales" der
CDU/CSU-Bu ndestragsfraktion, Dr. Heimo George, MdB aus Na- gold, widersprach einer sozialver- sicherungsrechtlichen Absiche- rung des Pflegefallrisikos.
Eine Pflegefallversicherung und die Übernahme der gesamten Ko- sten durch die Krankenkassen hät- ten den Nachteil, daß sie „zur in- humanen Abschiebung der Alten und Pflegebedürftigen in Heime führt, die Solidarität in den Fami- lien schwächt, die ohnehin hohen Kosten des Gesundheitswesens und die Beitragsbelastung der Bürger erheblich ausweitet und letztlich zu einer enormen Erhö- hung der Fälle der Pflegebedürf- tigkeit führen". Eine bundesweite Pflegeversicherung sei mittel- und längerfristig unfinanzierbar. Dr.
George appellierte an seine Frak- tionskollegen, sich auf ein einheit- liches Konzept zu verständigen.
Die Experten hätten überwiegend dafür votiert, die sogenannten kleinen sozialen Dienste (Angehö- rige, Bekannte, Nachbarn und Gruppen) zu aktivieren und flan- kierend Steuererleichterungen zu gewähren. Die „kleine Lösung"
sei humaner und kostengünstiger als eine „große Lösung". Ambu- lante Pflegedienste, „Essen auf Rädern", Alten- und Sozialstatio- nen sowie vermehrte Einrichtung von sogenannten Tagespflegehei- men seien kollektiven Regelungen vorzuziehen. EB Ausgabe A DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 34 vom 26. August 1983 47