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Archiv "Der Pflegefall als politisches Risiko" (27.08.1990)

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AKTUELLE POLITIK

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Die Parteien stellen sich darauf ein, daß die Absicherung der Risiken des Pflegefalls das beherrschende so- zialpolitische Thema der neunziger Jahre sein wird. Die Kernfrage dabei ist, wer die Verbesserung der Pflege- leistungen finanzieren soll. Da gibt es grundsätzlich nur drei Möglich- keiten:

• Entweder werden die Lei- stungen vom Staat aus dem Steuer- aufkommen bezahlt,

• oder das Risiko des Pflege- falls wird über eine besondere Sozi- alversicherung oder die gesetzliche Krankenversicherung und damit über Beiträge abgesichert,

• oder die Bürger sorgen selbst vor und sparen über eine Versiche- rung das für die Finanzierung des Pflegefalls notwendige Kapital an.

Einen Gesetzentwurf für ein vom Bund zu finanzierendes Lei- stungsgesetz hat Rheinland-Pfalz im Bundesrat eingebracht. Baden- Württemberg hat eine Gesetzesini- tiative eingeleitet, mit der die Bür- ger, die 45 Jahre und älter sind, ver- pflichtet werden sollen, eine Versi- cherung für den Pflegefall abzu- schließen. Die SPD setzt sich in ih- rem Wahlprogramm „Fortschritt 90"

dafür ein, daß über die Krankenver- sicherung zusätzliche Pflegeleistun- gen angeboten werden; die Mehrbe- lastung soll durch Einsparungen bei den Leistungsanbietern im Gesund- heitswesen ausgeglichen werden.

Das Bonner Gesundheitsministeri- um entwickelt ein Konzept, mit dem die Vorschläge von Baden-Württem- berg mit Rheinland-Pfalz verbunden werden. Bayern sympathisiert mit dem Stuttgarter Modell, möchte die- sem aber zusätzlich soziale Akzente geben, durch die vor allem die Lage der heute schon pflegebedürftigen Menschen verbessert wird. In Mün- chen denkt man aber auch weiterhin daran, den Leistungskatalog der Krankenkassen zu erweitern.

Bei allen Lösungsansätzen steht die finanzielle Sicherung des Pflege-

fallrisikos im Vordergrund. Jede Lö- sung wird noch dadurch erschwert, daß Länder und Kommunen ihre schon heute hohen Aufwendungen für die stationäre Pflege entweder auf den Bund oder die Krankenkas- sen abwälzen wollen. Eine Reform müßte jedoch scheitern, wenn die Gebietskörperschaften versuchen sollten, über eine Neuregelung der Leistungen im Pflegefall ihren Anteil an der gesamtstaatlichen Finanzmas- se zu vergrößern.

Jede Lösung hat eine Reihe von Fakten zu berücksichtigen:

• Die Lebenserwartung der Menschen wird sich voraussichtlich weiter erhöhen;

• Der Altersaufbau der Bevöl- kerung läßt erkennen, daß die Zahl

Die Parteien stellen die Weichen für die nächste Wahlperiode

der alten Menschen, vor allem nach 2015, weiter zunehmen wird; gleich- zeitig verschlechtert sich nachhaltig das Verhältnis zwischen der Zahl der alten Menschen und der Menschen im erwerbsfähigen Alter.

• Auch ist zu erwarten, daß die Zahl der alleinstehenden Personen und der Kleinfamilien zunimmt und sich der Anteil der Frauen, die er- werbstätig sind, weiter erhöhen wird.

Heute werden noch 80 Prozent der Pflegebedürftigen in ihren Familien gepflegt. Dieser Anteil wird sich nicht halten lassen.

70 Prozent der Pflegebedürfti- gen, die auf stationäre Versorgung angewiesen sind, können die Auf- wendungen dafür nicht aus dem ei- genen Alterseinkommen bezahlen;

sie sind auf zusätzliche Leistungen der Sozialhilfe angewiesen. Das ist den Menschen, die ein Leben lang für ihr Alter vorgesorgt haben, nicht

zuzumuten. Es kommt hinzu, daß es nicht Aufgabe der Sozialhilfe sein kann, Pflegeleistungen als soziale Regelleistungen zu erbringen. Auf- gabe der Sozialhilfe ist es, in beson- deren individuellen Notlagen einzu- springen; sie sollte daher nicht im- mer mehr mit allgemeinen sozialen Risiken belastet werden.

Jede Verbesserung der Pflege- leistungen kostet Milliarden. Die So- zialhilfe wendet jährlich fast 9 Milli- arden Mark für Pflegeleistungen auf;

davon entfallen auf die stationäre Pflege etwa 90 Prozent.

Eine Last

von 10 Milliarden

Die gesetzlichen Krankenkassen werden von 1991 an durch Pflegelei- stungen mit mehr als 6 Milliarden Mark belastet. Entweder werden bei der häuslichen Betreuung von Schwerstpflegebedürftigen monat- lich 750 Mark an Sachleistungen er- bracht, oder es werden 400 Mark Pflegegeld gezahlt. Für vier Wochen im Jahr wird eine Ersatzpflegekraft gestellt.

Diese Zahlen machen deutlich, daß jede Lösung, die den Pflegebe- dürftigen und ihren Familien helfen soll, annähernd 10 Milliarden Mark jährlich kosten wird. Diese Mittel sind in den nächsten Jahren, in de- nen die Belastungen aus der Vereini- gung der beiden deutschen Staaten zu verkraften sind, nicht vorhanden.

Langfristig wird die Belastung aber noch weit höher sein; sie wird pro- gressiv steigen, weil die Zahl der Pflegebedürftigen und der Pflege- kräfte zunimmt, diese besser bezahlt werden und die Möglichkeit, hilflose Menschen in den Familien zu pfle- gen, weiter abnimmt.

Die Überalterung der Gesell- schaft wird die Renten- und Kran- kenversicherung erheblich belasten.

Es ist voraussehbar, daß das heutige Leistungsniveau des Sozialsystems nicht über 2020 hinaus durchgehal- ten werden kann. Die künftigen Ge- nerationen würden überfordert, wenn sie auch noch dynamisch stei- gende Aufwendungen für Pflegelei- stungen durch Beitrags- oder Steuer-

Der Pflegefall

als politisches Risiko

Dt. Ärztebl. 87, Heft 34/35, 27. August 1990 (19) A-2523

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umlagen zu finanzieren hätten. Dies ist bei der Bewertung der vorliegen- den Konzepte zu berücksichtigen.

Vier Modelle

Modell Rheinland-Pfalz: Wer über 60 Jahre alt ist, hat Anspruch auf Sach- und Dienstleistungen sowie auf Pflegegeld. Dieses tritt an die Stelle der Sozialhilfe, die nur dann noch leistungspflichtig wird, wenn der Pflegebedürftige seinen Finan- zierungsanteil nicht aufbringen kann. Bei häuslicher Pflege wird ein nach dem Grad der Pflegebedürftig- keit gestaffeltes „Grundpflegegeld"

gezahlt; es beträgt mindestens 236 Mark und höchstens 590 Mark mo- natlich. Diese Leistung wird unab- hängig vom Einkommen gewährt.

Bei Bedürftigkeit kann ein „ergän- zendes Pflegegeld" hinzukommen, das je nach Pflegebedürftigkeit 130 bis 560 Mark betragen kann. Bei häuslicher Pflege können also Pfle- gegelder zwischen 366 Mark und 1110 Mark gezahlt werden. Wer sta- tionär gepflegt wird, erhält eine

„Pflegehilfe", die jeweils 150 Prozent des Grundpflegegeldes beträgt. In der Regel wird die Pflegehilfe damit 885 Mark monatlich betragen. Der Pflegeaufwand soll pauschal bis 12 000 Mark entweder vom Pflegebe- dürftigen oder von dem Pflegehaus- halt steuermindernd berücksichtigt werden. Für Pflegepersonen sollen Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet werden.

Modell Baden-Württemberg: Vom 45. Lebensjahr an wird jeder Bürger verpflichtet, eine Pflegeversiche- rung, die Mindesleistungen gewähr- leistet, abzuschließen. Die Leistun- gen werden nach dem Grad der Pfle- gebedürftigkeit gestaffelt; sie sind bei häuslicher und stationärer Pflege gleich hoch. Ein Schwerstpflegebe- dürftiger erhält nach diesem Kon- zept aus heutiger Sicht 1500 Mark monatlich. Damit könnten die reinen Pflegeaufwendungen gedeckt wer- den; die Kosten der Lebenshaltung hätte der Pflegebedürftige aus sei- nem Einkommen, die Kosten der medizinischen Versorgung die Kran- kenversicherung zu tragen. Die Ver- sicherung kann keinen, der der Ver-

sicherungspflicht unterliegt, abwei- sen. Es gibt keinen Risikozuschlag.

Frauen und Männer zahlen die glei- chen Beiträge. Der Versicherte, der 45 Jahre alt ist, würde heute mit ei- nem Beitrag von etwa 47 Mark bela- stet. Wer über 45 Jahre, aber noch nicht 65 Jahre alt ist, hat mindestens den Beitrag eines 45jährigen zu zah- len. Wer über 65 Jahre alt ist, wird von der Versicherungspflicht befreit.

Dieser Personenkreis erhält bei sta- tionärer Pflege eine Geldleistung von 750 Mark, was dem Wert der von den Kassen zu erbringenden Sachlei- stungen bei häuslicher Pflege ent- spricht. Bezieher kleiner Einkom- men erhalten aus Steuermitteln ei- nen Beitragszuschuß, der die Hälfte des Beitrags abdeckt, höchstens je- doch 200 Mark im Jahr beträgt.

Kombinations-Modell: Im Bonner Gesundheitsministerium arbeitet der Parlamentarische Staatssekretär Pfeifer an einem Kombinations-Mo- dell. Er ist ebenfalls der Ansicht, daß die heutige Generation verpflichtet werden muß, für das Risiko des Pfle- gefalls selbst Vorsorge zu treffen, und zwar durch eine nach dem Kapi- taldeckungsverfahren arbeitende Versicherung. Die Versicherungs- pflicht sollte aber nicht erst mit 45 Jahren beginnen, sondern mit dem Eintritt in das Berufsleben, also im Alter zwischen 18 und 25 Jahren.

Die Beiträge lägen dann bei 17 bis 25 Mark. Pfeifer ist der Ansicht, daß dann auf sozial motivierte Sonderre- gelungen verzichtet werden könne.

Das Ministerium setzt sich aber da- für ein, für die Bürger, die bei In- krafttreten des Gesetzes schon pfle- gebedürftig sind, ein Leistungsgesetz zu verabschieden, das den Vorschlä- gen von Rheinland-Pfalz Rechnung trägt. Die Belastung aus einem sol- chen Gesetz würden sich allmählich verringern, da die Versicherung von Jahr zu Jahr mehr Pflegefälle finan- ziell zu übernehmen hätte.

SPD-Modell: Eine „gesetzliche Pflegeversicherung" zahlt bei ambu- lanter und stationärer Pflege Pfle- gegelder zwischen 300 und 600 Mark monatlich. Für Pflegepersonen wer- den Beiträge zur Rentenversiche- rung entrichtet, die 75 Prozent des Durchschnittseinkommens aller Ver- sicherter entsprechen. Die Pflege-

versicherung wird als eigenständiger Sozialversicherungszweig bezeich- net, obwohl sie der gesetzlichen Krankenversicherung zugeordnet und aus Einsparungen der Kranken- kassen finanziert werden soll. Zum Einsparkonzept der SPD gehören folgende Vorschläge: Organisations- reform, Positivliste für Arzneimittel und Übergang zum „Einkaufsmo- dell", nach dem die Kassen nur die Leistungsangebote übernehmen, die ihren Bedarfs- und Preisvorstellun- gen entsprechen.

Bewertung

Die Vorschläge von Rheinland- Pfalz und der SPD laufen auf eine Belastung der Steuer- und Beitrags- zahler hinaus. Es ist nicht zu sehen, wie die dafür notwendigen Mittel in den nächsten Jahren zu mobilisieren sind. Langfristig werden sich die Fi- nanzierungsprobleme wegen der Verschlechterung der Altersstruktur der Bevölkerung noch verschärfen;

ohnehin muß in der Rentenversiche- rung und der Krankenversicherung schon mittelfristig, erst recht aber langfristig mit kräftig steigenden Bei- trägen gerechnet werden. Für die Erhöhung der Abgabenleistung gibt es politische und ökonomische Gren- zen. Nur bei wirtschaftlichem Wachstum sind steigende Abgaben zu verkraften; sie gefährden es je- doch zugleich.

Es ist daher richtig, auf die pri- vate Vorsorge und Kapitalbindung zu setzen. Die Initiative Baden- Württembergs geht daher in die rich- tige Richtung. Es ist gut, daß das Ge- sundheitsministerium dieser Wei- chenstellung folgt. Bislang sind jene politischen Kräfte stärker, die Lei- stungen bürokratisch administrieren und über Steuer oder Krankenversi- cherung finanzieren wollen. Auf die Leistungen aus dem staatlichen Haushalt ist bekanntlich kein Ver- laß. Der Weg über die Krankenversi- cherung führt in die Sackgasse; denn die nachhaltige Verbesserung der Pflegeleistungen müßte längerfristig mit einer Krise des Systems und der Verschlechterung des Leistungsni- veaus im Gesundheitswesen bezahlt werden. Walter Kannengießer A-2524 (20) Dt. Ärztebl. 87, Heft 34/35, 27. August 1990

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