S
mart sieht er aus, der junge Mann in der S-Bahn. Ein Frauentyp könnte man meinen. Doch seine Aufmerk- samkeit gilt nicht der attraktiven Mut- ter, die mit ihrem Sohn das Abteil be- tritt. Es ist das blonde Kind, das den Puls des Mannes rasen lässt. Erst als Mutter und Kind an der nächsten Stati- on aussteigen, beruhigt sich der Herz- schlag des Mannes.„Lieben Sie Kinder mehr als Ihnen lieb ist?“, fragt eine Stimme am Ende des TV-Spots. Unter diesem Motto steht eine Medienkampagne, mit der ab sofort nach Probanden für ein außerge- wöhnliches Forschungsprojekt gesucht wird. Mit einem weltweit einmaligen Therapieversuch will das Institut für Se- xualmedizin der Berliner Charité po- tenzielle Triebtäter von Übergriffen auf Kinder abhalten. Dafür stehen insge- samt 180 unentgeltliche Therapieplätze zur Verfügung.
In Deutschland werden jährlich nach polizeilichen Kriminalstatistiken etwa 20 000 Kinder Opfer sexueller Über- griffe. Dabei sind sich Experten einig, dass die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher liegt. „Wir gehen davon aus, dass das Dunkelfeld 15- bis 20-mal so groß ist“, sagt Jerome Klein von der Opfer- schutz-Stiftung „Hänsel und Gretel“.
An die so genannten Dunkelfeld- täter richtet sich das Angebot der Cha- rité, das die Volkswagen-Stiftung mit 517 000 Euro fördert und das strikt un- ter ärztlicher Schweigepflicht steht. Bis- lang gebe es keinerlei therapeutische Prävention. „Insofern hat unser Projekt
Pioniercharakter“, sagt Prof. Dr. Dr.
Klaus Beier, Direktor des Instituts für Sexualmedizin an der Charité und Lei- ter des Forschungsvorhabens. Man dür- fe das Programm aber nicht als Täter- schutz missverstehen. Vielmehr gehe es darum, Kinder vor sexuellem Miss- brauch zu bewahren.
Der Behandlungsansatz besteht aus einer kombinierten Psycho- und Phar- makotherapie, der sowohl verhal- tenstherapeutische als auch spezielle sexualmedizinische Behandlungskon- zepte zugrunde liegen. Nach einer vier- monatigen Diagnosephase beginnt die eigentliche Therapie. „Man kann Pädo- philie nicht heilen, aber man kann ler- nen, sie zu kontrollieren, sodass sie nie- manden gefährdet“, sagt Studienleiter
Beier. Deshalb sollten die Patienten in Einzel- und Gruppensitzungen dazu ge- bracht werden, ihre Veranlagung zu ak- zeptieren.Weil sie damit leben müssten, lernten die Probanden in einem näch- sten Schritt, mit diesen Gefühlen umzu- gehen. „Das ist richtiges Training“, meint Beier. Zur Unterstützung könnten alle Teilnehmer Medikamente zur Dämp- fung sexueller Impulse einnehmen.
Nach Ansicht Beiers sind solche An- gebote dringend nötig. Denn an Pädo- philie litten ungefähr so viele Menschen wie an Schizophrenie, etwa ein Prozent der Bevölkerung. Gleichzeitig handele es sich um Patienten, die potenziell fremdgefährdend seien, was bei Schizo- phrenie selten sei. Doch während es für psychotische Symptome Therapiemög- lichkeiten gebe, bleibe die Patienten- gruppe der Pädophilen vollkommen unterversorgt.
Dr. med. Günther Jonitz, Präsident der Ärztekammer Berlin und Beirats- mitglied des Forschungsprojektes be- grüßt die Initiative der Charité. „Wir Erwachsenen haben die Pflicht, unsere Kinder so weit wie möglich vor sexuel- len Übergriffen zu schützen.“ Jedoch bedürfe die Diagnostik und Therapie sexueller Präferenz- und Verhaltens- störungen spezieller Kenntnisse, die bisher nicht Bestandteil von Facharzt- oder Fachtherapeutenausbildung seien, so Jonitz. „Auch sind Präventionsan- gebote nicht Leistungsgegenstand der Krankenkassen“, ergänzt Diplom-Psy- chologe Christoph Joseph Ahlers vom Sexualwissenschaftlichen Institut der Charité: „Was keiner lernt und keiner bezahlt bekommt, das bietet auch kei- ner an.“
Dabei sei die Nachfrage groß, sagt Sexualforscher Beier. „Seit Jahren stel- len sich bei uns Männer vor, die sagen, dass sie sexuelle Fantasien mit Kindern haben, und bitten um Hilfe.“ Schon vor dem Start der PR-Aktion hätten sich mehr als 50 Männer gemeldet. Dies be- reitet Beier aber auch Sorgen: „Sollten wir nach der viermonatigen Medien- kampagne mehr Teilnahmewillige ha- ben, als wir behandeln können, haben wir ein Problem.“ Samir Rabbata
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A1712 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 24⏐⏐17. Juni 2005
Auf der Website www.kein-taeter-werden.de erhalten Interessierte weitere Informationen und Kontaktdaten.
Mit TV-Spots und Zeitungsanzeigen sollen Pädophile auf das Präventionsprojekt der Charité aufmerksam gemacht werden.