Zur Fortbildung Aktuelle Medizin ÜBERSICHTSAUFSATZ
Epidemiologie
Epidemiologische Studien spre- chen von über 8000 Todesfällen an Lungenembolie jährlich in den USA. In 2 bis 15 Prozent aller Ver- storbenen ist eine Lungenembolie als Todesursache anzusehen. Aut- optisch werden bei Sektion in bis zu 60 Prozent der Fälle ältere und frische Thromben gefunden. Shapi- ro (1953) fand in 5 Prozent aller verstorbenen Herzkranken bei der Sektion Lungeninfarkte. Diese Zah- len stehen im krassen Gegensatz zu den intra vitam diagnostizierten Lungenembolien. Man schätzt, daß nur 10 bis 30 Prozent ante mortem diagnostiziert werden (Moser, 1973).
Ätiologie
Die Virchowsche Trias: Hämosta- gnation, Aktivierung der Blutgerin- nung und Veränderungen der Ge- fäßwand gelten auch heute noch als pathogenetisches Prinzip zur Thromboseentstehung. Verschiede- ne Teilsysteme sind für Gerinnung und Fibrinolyse wesentlich: Einmal das zelluläre Gerinnungssystem durch Aggregation von Blutblätt- chen, das plasmatische Gerin- nungssystem, das System der Fi- brinolyse und zum anderen eine vom retikulo-endothelialen System (RES) wahrgenommene Clearance- Funktion für aktivierte Gerinnungs- und Fibrinolyse-Faktoren, die hier eliminiert beziehungsweise inakti-
viert werden. Eine Verschiebung des Gleichgewichts zwischen la- tenter Gerinnung und Fibrinolyse in Richtung auf eine verstärkte Gerin- nung kann also an recht verschie- denen Stellen verursacht werden und damit die Thrombosebereit- schaft erhöhen. Einige klinisch be- deutsame Bedingungen, unter de- nen es zu erhöhtem Thrombose-Ri- siko kommt, seien genannt: Längere postoperative und postpartale Ver- läufe, Rechtsherzinsuffizienz, Im- mobilisierung durch Frakturen; Va- rikosis, bösartige Geschwülste und Infektionskrankheiten. Adi positas bedingt eine Steigerung der Thrombosehäufigkeit auf etwa das Doppelte (Gross, 1960; Kaufmann, 1967; Sandritter, 1962); auch kach- ektische Patienten sind über- durchschnittlich häufig thrombose- gefährdet. Ab dem 60. Lebensjahr ist durch eine Summation verschie- dener praedisponierender Faktoren ebenfalls mit einer Erhöhung des Thromboserisikos zu rechnen. Ge- nerell sind Frauen häufiger als Männer betroffen.
Nahezu 90 Prozent aller Embolien stammen von tiefen Oberschenkel- und Beckenvenenthrombosen (Be- neke, 1972) (Abbildung 1).
Letztere haben mit zwei Dritteln die höchste Embolierate. Nur ein Drittel der Thrombosen hat klinische Re- levanz bevor sie zur Lungenembo- lie führt. Bei fehlendem klinischem Hinweis auf Beinvenenthrombosen ist immer auch an Thromben im
Im Zusammenhang mit der Epidemiologie wird die Dis- krepanz zwischen der autop- tisch und klinisch diagnosti- zierten Lungenembolie her- vorgehoben. Ätiologie,
praedisponierende Faktoren, Herkunftsorte der Emboli und Embolie-Frequenz der ver- schiedenen Thrombose-Lo- kalisationen werden kurz be- sprochen. Ausführlicher wird auf die klinische Diagnostik einschließlich EKG, Röntgen, Szintigraphie und Angiogra- phie sowie auf die Differenti- aldiagnose eingegangen. Die heute übliche konservative sowie operative Therapie be- ziehungsweise Prophylaxe wird dargelegt.
Plexus venosus prostaticus oder uterinus zu denken. Die Embolie- frequenz der Beckenvenenthrom- bosen liegt nach einer Aufstellung von Beneke (1972) bei 68 Prozent, der Femoralvenen-Thrombosen bei 35 bis 60 Prozent. Nach Mayer (1967) hingegen ist die Zusam- mensetzung folgende: 12 Prozent aus Beckenvenenthrombosen, 68 Prozent aus Oberschenkelthrombo- sen. Selten sind Embolien aus dem Einzugsgebiet der Cava superior.
Diagnostik
In der Anamnese findet man nur bei etwa einem Drittel der Kranken erkennbare Venenthrombosen. Die subjektive Symptomatik der Lun- genembolie reicht von völliger Be- schwerdefreiheit über atemabhän- gige Thoraxschmerzen bis zur Er- stickungsangst mit Cyanose und Schocksymptomatik bei schweren Lungenembolien. Bei kleineren, pe- ripher lokalisierten Embolien ste- hen die pleurabedingten Schmer- zen im Vordergrund. Folgende Übersicht der klinischen Sympto- me gilt für die akute fulminante Lungenembolie mit Verlegung von zwei Dritteln und für die schwere
Lungenembolie
Diagnostik und Therapie
Gertrud Lanzinger und Hubert Mörl
Medizinische Universitäts-Klinik Heidelberg Innere Medizin I (Ärztlicher Direktor: Professor Dr. Dr. h. c. Gotthard Schettler) Allgemeine Innere Medizin II
(Ärztlicher Direktor: Professor Dr. Paul Christian)
DEUTSCHES _ÄRZTEBLATT Heft 48 vom 25. November 1976 3101
Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Lungenembolie
Lungenembolie mit Blockierung von 50 Prozent des Gefäßquer- schnitts:
~ Plötzlich einsetzender praekor- dialer oder retrosternaler Schmerz
~ Dyspnoe, Tachypnoe, Orthopnoe
~ Tachykardie, Rhythmusstörun- gen
~ Lippenzyanose, Piethora im Kopfbereich (so kein Schocksyn- drom oder hypoxämisch bedingte
Koronarinsuffizienz)
~ Husten mit Haemoptoe
~ Motorische Unruhe
~ Akute obere Einflußstauung Halsvenenstauung
~ Verminderte Atemexkursion der betroffenen Seite
Inspektion: siehe oben Symptome Auskultation: Gor: akzentuierter zweiter Pulmonalton, eventuell drit- ter Herzton (protodiastolischer Ga- lopp)
Pulmo: eventuell aufgehobenes Atemgeräusch
Perkussion: Pulmo: eventuell Dämpfung auf der betroffenen Sei- te, Zwerchfellhochstand, einge- schränkte Beweglichkeit.
Die Messung des zentralen Venen- drucks zeigt so gut wie immer er- höhte Werte.
EKG: Das EKG ergibt nur bei schweren Lungenembolien eindeuti- ge Hinweise. Bei Rückwirkung ei- ner Lungenembolie auf ein vorher normales Herz entstehen die Zei- chen der akuten Rechtsherzbela- stung durch Drehung des rechten
V. cava caudalis ca
12 '/.
V. profunda femoris
ca
70 '/.
Vv. tibiales anteriores
11111rw-t----poste ri o res Vv. tibiales anteriores
V. orofunda femoris
Vv. tibiales posteriores
Abbildung 1: Ursprungsorte der Embolien an den unteren Extremitäten
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Herzens um seine anatomische Achse (McGinn-White-Typ). Aus diesem Grunde ist ein Vergleich mit einem Vor-EKG wichtig.
Bei vorgeschädigtem Herzen sind mehr atypische Befunde zu er- warten.
Die EKG-Veränderungen sind oft flüchtig und nur einen Tag lang nachweisbar. Folgend werden die typischen und häufigsten Zeichen im EKG aufgeführt (Abbildungen 2 und 3):
~ Sinustachykardie
~ Rhythmusstörungen
~ Akutes P pulmonale, spitzhohes P in 11-111, 1/4 von R übersteigend, Rechtsdrehung der Achse von QRS (McGinn-White-Typ
=
S1-Q 111 Typ),Rechtssehen kelblockbi ld
~ ST-T-Veränderungen
Die Röntgenaufnahme ist oft un- charakteristisch und bietet zumeist erst recht spät entsprechende Hin- weise. Folgende Übersicht weist auf die wichtigsten· röntgenologi- schen Merkmale hin:
~ Zwerchfellhochstand mit vermin- derter, atemabhängiger Beweglich- keit
~ Westermarcksches Zeichen: Hell erscheinende ischämische Zone, bedingt durch Gefäßabbruch
~ Dilatation der Hilusarterien
~ Dilatation des rechten Ventrikels
~ Plattenatelektasen
~ Später, das heißt nach 12 bis 24 Stunden bei Lungeninfarkt: Halb- spindeiförmige oder typische, keil- förmige Verschattung
~ Spätsymptome: lnfarktpneumo- nie, Pleuraerguß
Szintigraphie: Der Vorteil der Szin- tigraphie liegt zunächst in der ge- ringen Belastung für den Patienten und die ziemlich hohe und frühzei-
Lungenernbol ie
tige Empfindlichkeit für Störungen der Durchblutung. Sie zeigt Aktivi- tätsausfälle an, längst bevor im Röntgenbild etwas sichtbar wird und ist als Screening-Methode für weitere Diagnostik bei klinischem Verdacht auf Embolie bestens ge- eignet (Abbildung 4).
Pulmonalisangiographie: Der Vor- teil der selektiven Pulmonalisan- giographie liegt darin, daß sie ei- nen definitiven Nachweis über Lo- kalisation und Ausdehnung einer Lungenembolie bringt. Zu beach- ten ist, daß die Angiogramme bei vorhandener Embolie normal sein können, wenn die betroffenen Arte- rien kleiner als zwei Millimeter im Durchmesser sind. Das klinische Bild kann durch reflektorische En- gerstellung der Gefäße eklatanter in Erscheinung treten als es der tatsächlichen Embolisierung ent- spricht.
Die Pulmonalisangiographie soll- te nur in diagnostisch unklaren oder nicht hinreichend abge- sicherten Fällen vor einem thera- peutisch risikoreichen Eingriff ein- gesetzt werden. Die ausschlagge- benden Kriterien sind Füllungsde- fekte beziehungsweise -abbrüche und Kaliberschwankungen der Pul- monalarterien, asymmetrische An- färbung und späte sowie unvoll- ständige Venenfüllung. Nach einer Arbeit von Dalen (1971) konnte bei 367 Patienten die Diagnose Lun- genembolie in 74 Prozent mit ja oder nein gestellt werden. Falsch positive Ergebnisse sind nicht zu befürchten, falsch negative sind selten.
Laboruntersuchungen:
Die Laborwerte, ebenso die Blutga- se, sind zumeist uncharakteri- stisch. Wesentlich sind allenfalls die Transaminasen LDH und GOT zur Abgrenzung gegenüber einem Herzinfarkt. Auf das Zusammentref- fen von LOH-Erhöhung, normaler GOT und erhöhtem Bilirubin wird hingewiesen, diese Trias ist aber von begrenztem diagnostischem Wert.
P pulmonale
aVR --
V
V1Jv-
Cor pulmonale acutum
Hinterwand- lnfarkt
nA
aVL -v-
V3_/\_
rv
~~~A
avrA V6-A-
II
Zur Fortbildung Aktuelle Medizin
.. ..
III
htv 11 rv 111
Abbildung 2: Typisches P-pulmonale in den entsprechenden Ableitungen Abbildung 3: Unterschied zwischen akutem Cor pulmonale und dem Hinter-
wandinfarkt im EKG
Differentiafdiagnostik: Die wichtig- ste differentialdiagnostische Abklä- rung ist gegenüber folgenden Krankheiten unbedingt notwen- dig:
..,.. Myokardinfarkt (im Gegensatz zur Lungenembolie Blässe, Kalt- schweißigkeit, Schmerzausstrah- lung)
..,.. Spontanruptur der Aorta bezie- hungsweise Aneurysma dissecans (bunte, wechselnde Symptomatik, beilhiebartige, heftigste Schmer- zen)
..,.. Pari-Myokarditis (eventuell Peri- kardreiben)
..,.. Spontanpneumothorax (Auskul- tation und Perkussion)
..,.. Lumbago im Bereich der HWS oder der oberen BWS (Bewegungs- einschränkung)
..,.. Pleuritis, Pneumonie
..,.. Interkostalneuralgie
..,.. Zerebro-vaskulärer Insult (neu- rologische Seitensymptomatik)
Prognose
Die fulminante Lungenembolie mit Verlegung von zwei Dritteln der Lungenstrombahn führt ohne Be- handlung innerhalb von 30 Minuten bei 70 bis 85 Prozent der Patienten zum Tode. Chronisch-rezidivieren- de Embolien sind häufig die Ursa- che für eine vermeintlich primär pulmonale Hypertonie. Progno- stisch bedeutsam ist die Rezidiv- quote, die mit 30 Prozent angege- ben wird. Insofern ist die Prognose jeder unbehandelten Lungenembo- lie dubiös. Auch bei klinisch er- kannter Lungenembolie wird die Letalität mit 10 bis 30 Prozent an- gegeben.
Bedeutsam für die Prognose einer Lungenembolie ist noch die ln-
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farktpneumonie. Etwa 50 Prozent der Lungenembolien führen zum Lungeninfarkt. Aus einem solchen Lungeninfarkt entsteht dann in etwa 15 Prozent durch bakterielle Besiedlung eine lnfarktpneumonie.
Über die Spätprognose der akuten Lungenembolie berichteten Paras- kos et al. (1973) anhand von 60 Pa- tienten: Für die Spätdiagnose ist demzufolge die Funktionstüchtig- keit des Herzens vor der Lungen- embolie maßgebend.
Therapie und Prophylaxe
Als Sofortmaßnahme bei jeder Lun- genembolie muß zunächst die symptomatische Therapie stehen.
Die symptomatischen Sofortmaß- nahmen wären:
.,.. Analgetika (Morphium oder Do- lantin)
.,.. Sedativa
.,.. Sauerstoffgabe, eventuell Tra- cheotomie
.,.. Rasche Digitalisierung .,.. Spasmolytica
.,.. Beginn der Antikoagulation mit Heparin (W 000 E. i. v.)
Die kausale Therapie besteht in der Desobliteration der verlegten Lungenstrombahn. Dies kann chir- urgisch oder thrombolytisch ge- schehen.
Falls mit konservativen Maßnah- men die IebensbedrohlicheSituation bei einer fulminanten Lungenembo- lie nicht innerhalb einer halben bis einer ganzen Stunde beherrscht werden kann, ist die pulmonale Embolektomie, also die Operation nach Trendelenburg, zu erwägen.
Die Operation wurde 1908 von v.
Trendelenburg inauguriert, 1924 von Kirschner erstmals erfolgreich ausgeführt. Aber erst seit der Ein- führung der kardiepulmonalen By- pess-Technik 1961 findet sie häufi- gere Anwendung. Die Letalität bei diesem Eingriff wurde bis vor kur- zem mit etwa 50 Prozent angege- ben, immerhin noch deutlich unter der des spontanen Verlaufs. Nach Angabe der Münchner Chirurgen Salzmann et al. (1974) nimmt die Erfolgsquote der pulmonalen Ern- bolektomie auf der ganzen Weit bis zu 70 Prozent zu. Diese hohen Er- folgsquoten dürften allerdings nur an Spezialkliniken unter günstig- sten Bedingungen erreicht werden . Bei rezidivierenden Lungenemboli- en wird heute zur Prophylaxe durch die Vena jugularis ein Filter in die Vena cava caudalis implan-
Abbildung 4: Lungen-Scan (links) zeigt Stellen mit Mangeldurchblutung; die Ventilations-Aufnahme (rechts) normale Luftverteilung. Seide Befunde zu- sammen begründen die Diagnose einer Lungenembolie
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tiert (Operation nach Mobbin-Ud- din) (Mobbin-Uddin et al., 1972).
Als Regel gilt die Indikation zur thrombolytischen Therapie bis zum fünften Tag nach Auftreten ei- ner Lungenembolie. Die übliche Dosierung ohne Bestimmung des Antistreptoki nase-Titers I iegt bei 250 000 E. initial und weiteren 100 000 E. pro Stunde mindestens über drei Tage hinweg. Anschlie- ßend beziehungsweise bei leichte- rem Verlauf sofort ohne vorherige thrombolytische Therapie wird die Behandlung mit Heparin mit 10 000 E. initial und weiteren 20 000 bis 40 000 E. in 24 Stunden fortgeführt.
Dabei muß eine zwölftägige stren- ge Bettruhe mit gewickelten und hochgelagerten Beinen eingehalten werden. Danach erfolgt überlap- pend die Antikoagulation bezie- hungsweise bei Kontraindikation hierfür die Behandlung mit Acetyl- salicyl-Säure. Die Antikoagulan- tienbehandlung muß mindestens ein halbes Jahr lang durchgeführt werden .
Literatur
(1) Beneke, G.: Pathologie der Venener- krankungen, in: Die Kapsel (Zeitschrift der R. P. Scherer GmbH) 29 (1972) 1215-1228 (2) Kaufmann: Tischgespräch 111: Tbrombose, Thrombophlebitis Embolie:
Pathogenese und Therapie, Zbl. Phlebol. 6 (1967) 193- (3) Moser, K. M., Stein, M. S.:
Advances in Cardiopulmonary Deseases- Pulmonary Thromboembolism, Chicago:
Jear Book 1973 - (4) Paraskos, J. A., Adelstein, S. J., Smith, R. E., Rickman, F.
D., Grossman, W., Dexter, L., Dalen, J. E.:
Late Prognosis of acute pulmonary embo- lism, New Engl. J. 289 (1973) 55-58 - (5) Salzmann, G. et al.: Chirurgische Behand- lung der Lungenembolie, Dtsch. med. Wschr. 99 (1974) 2448-2456
Anschrift der Verfasser:
Dr. Gertrud Lanzinger Professor Dr. Hubert Mörl Medizinische Universitätsklinik Haideiberg
Bergheimer Straße 58 6900 Haideiberg 1