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Archiv "Selbstmord im Justizvollzug: Ursachen und Abhilfemaßnahmen" (10.02.1984)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

THEMEN DER ZEIT

Selbstmord

im Justizvollzug

Ursachen und Abhilfemaßnahmen

Annemarie Wiegand

Um die „Medizin hinter Gittern" ist es in den bundesdeutschen Justizvollzugsan- stalten nicht immer zum besten bestellt Foto: Peter Schwarz

W

mehr als 300 000 Krank-

» heitsfälle werden jährlich in unseren Haftanstalten registriert.

Über die wachsende Selbstmord- rate von Gefangenen — auch in Untersuchungshaft Einsitzenden

— wird seit geraumer Zeit geklagt.

Die besonderen Bedingungen des Justizvollzugs unterstreicht die Tatsache, daß in den bundesdeut- schen Haftanstalten etwa sechs- mal mehr Menschen durch Selbst- mord sterben als in Freiheit. Eine derartig hohe Selbstmordquote (etwa 13 Selbstmorde auf 10 000 Gefangene) ist im westlichen Aus- land fast ohne Beispiel (Großbri- tannien: 4,9 Selbstmorde auf 10 000 Gefangene; Japan: etwa drei Selbstmorde auf 10 000 Ge- fangene). Auch weichen von Bun- desland zu Bundesland die Haft- bedingungen erheblich ab. Ge- fängnisärzte ebenso wie Rechts- anwälte führen die beklagenswer- te Situation vor allem auch auf die ungenügende Besetzung der Planstellen des medizinischen Dienstes im Vollzug, die Überfül- lung der Vollzugsanstalten, die unzureichenden räumlichen und die mangelnden gesundheitsfür- sorglichen und hygienischen Be- dingungen der Gefängnisse zurück.

Erst kürzlich haben engagierte Rechtsanwälte und Ärzte anläß- lich der 4. „Alsberg-Tagung" in Bonn das „Josef-Neuberger-Insti- tut für Gefangenenmedizin und ärztliche Fürsorge in Vollzugs- anstalten" als gemeinnützige Stif- tung gegründet. Es will sich um Abhilfemaßnahmen tatkräftig be- mühen. Der Diskussionsbeitrag einer Insiderin wirft ein Schlag- licht auf die aktuelle Situation.

In keiner Bevölkerungsgruppe kommt es so häufig zu Todesfäl- len durch Selbstmord wie unter Gefängnisinsassen. In Frankreich führte die hohe Selbstmordtodes- rate der Häftlinge (1968 = 22 Selbstmordtote bei 29 000 Gefan- genen, Luthe, 1972) dazu, daß ei- ne Untersuchung durchgeführt wurde. Die Selbstmordquote der französischen Häftlinge betrug im Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 6 vom 10. Februar 1984 (36) 341

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Tabelle 1: Entlassungen wegen Vollzugsuntauglichkeit (1976 bis 1980)

Bundesland alle Todesfäl- Entlassungen Todesfälle le im Justiz- wegen Voll- pro 100 Ent-

vollzug zugsuntaug- lassungen lichkeit wegen Voll-

zugsuntaug- lichkeit

Berlin 48 38 126

Schleswig-Holstein 23 28 82

Rheinland-Pfalz 31 197 16

Bayern 134 591 23

Bundesrepublik

Deutschland 619 2380 26

Baden-

Württemberg 81 357 23

Nordrhein-

Westfalen 167 629 27

Hamburg 29 56 52

Niedersachsen 52 219 24

Bremen 7 16 44

Hessen 39 223 18

Saarland 8 26 31

Tabelle 2: Selbstmordversuche im Justizvollzug (1976 bis 1980)

Zahlenquelle: Dünkel/Rosner

zusammen•estellt von Dr. med. Annemarie Wie•and, Berlin

Bundesland Todesfälle Selbstmord- Todesfälle

durch versuche durch

Selbstmord Selbstmord

pro 100 Selbstmord-

versuche Berlin

Schleswig-Holstein Rheinland-Pfalz Bayern

31 15 23 73

91 34

38 40

127 18

372 20

362 1885

Bundesrepublik Deutschland Baden- Württemberg Nordrhein- Westfalen Hamburg Niedersachsen Bremen Hessen Saarland

19

45 295 15

99 454 22

15 67 22

29 203 14

5 41 12

23 178 13

4 19 21

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Selbstmord im Justizvollzug

342 (36) Heft 6 vom 10. Februar 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

Jahre 1968 = 0,76 pro 1000 Gefan- gene und lag damit wesentlich un-

ter der Selbstmordrate der Häft- linge des Saarlandes, das mit 0,85 pro 1000 Gefangene bundesweit die niedrigste Rate an Selbst- mordtoten im Vollzug aufweist (Tabelle 3).

Das Max-Planck-Institut für inter- nationales und ausländisches Strafrecht, Freiburg/Breisgau, stellte im 7. Band der Kriminologi- schen Forschungsberichte um- fangreiches Datenmaterial zur Verfügung (Dünkel/Rosner: „Die Entwicklung des Strafvollzugs in der Bundesrepublik Deutschland seit 1970", Freiburg, 1982). Dieses für die einzelnen Bundesländer sehr kleine Zahlenmaterial wurde durch Summenbildung der letz- ten Jahre 1976 bis 1980 in eine statistisch auswertbare Form ge- bracht und führt damit zu verwert- baren und unerwarteten Aussa- gen:

Entlassungen wegen Vollzugsun- tauglichkeit beeinflussen die To- desrate durch Selbstmord im Voll- zug stärker als die Sterblichkeit aufgrund anderer Todesursachen (Tabelle 1). Je weniger Häftlin- ge wegen Vollzugsuntauglichkeit entlassen werden, um so mehr muß sich das Anstaltsklima ver- schlechtern, weil Schwerstkranke aller Art (schwerst Alkohol- und Drogenkranke, geisteskranke Se- xualstraftäter, schwerste Grade von Depression, Schizophrenie usw.) im Vollzug gehalten werden.

Beispiel Berlin

In Berlin (West) dürfte der außer- ordentlich hohe Prozentsatz von Häftlingen, die sozial aufs schwer- ste geschädigt sind und die zu- gleich körperlich krank sind (kein Anwalt, keine Angehörigen) dazu beitragen, daß der Maßstab für Entlassungen wegen Vollzugsun- tauglichkeit sehr hoch angesetzt ist. Das Bedauerliche: Niemand beantragt für diese Menschen ei- ne Vollzugsuntauglichkeit. Die Häftlinge sind dazu nicht in der

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Selbstmord im Justizvollzug

Lage (Analphabeten, Legastheni- ker).

Dem Arzt wird ein „Fall" vorgetra- gen mit der Frage der Vollzugsun- tauglichkeit. Er kennt aber zahl- reiche kranke Häftlinge, welche sich in einem weit schlechteren körperlichen und geistigen Zu- stand befinden als der Betroffene, ohne daß für diese Kranken eine Vollzugsuntauglichkeit beantragt würde. Er lehnt ab, was die Maß- stäbe weiter erhöht.

Beispiele Bremen, Saarland Niedrige Todesraten an Selbst- mord und anderen Todesursa- chen bei eher niedrigen Entlas- sungsquoten wegen Vollzugsun- tauglichkeit in Bremen und im Saarland weisen darauf hin, daß Schwerkranke offenbar gar nicht in den Vollzug aufgenommen wer- den.

Die hohe Rate von Selbstmordto- desfällen pro Selbstmordversuch spricht dafür, daß Selbstmordver- suche nicht ernstgenommen wer- den, der suizidgefährdete Gefan- gene eher herabgesetzt und be- straft wird, als daß er Ansprache und Zuwendung erfährt (Tabelle

Anklagen

der Strafverteidiger

„Unterschiedlich von Bun- desland zu Bundesland sind bis zu 60 Prozent der ärzt- lichen Planstellen im Justiz- dienst nicht besetzt. Es gibt keine auf die Bedingungen und besonderen Umstände des Vollzugs ausgerichtete Ausbildung der Ärzte. Kei- ner der im Justizvollzug täti- gen Ärzte weist deshalb ei- ne solche Ausbildung auf.

Der Weg vom Gefangenen zum Arzt ist organisatorisch zu lang."

Aus einer Presseerklärung der Deutsche Strafverteidiger e. V., Düsseldorf.

2). Es wird das Gegenteil von Selbstmord-Prophylaxe betrie- ben. Selbstverständlich erfolgt dann auch keine gewissenhafte statistische Erfassung. Nicht ein- mal blutige Methoden, welche die Fachliteratur immer als schwere Selbstmordversuche wertet, wer- den dann erfaßt (Philipp, 1968).

Der niedrige Krankenstand läßt darauf schließen, daß Kranke sehr schlecht gestellt sind (in Berlin z. B. bei Erkrankung erhebliche Geldkürzungen und oft verschärf- te Haftbedingungen bis hin zu ei- nem 24 Stunden dauernden Ein- schluß) und schlecht betreut wer- den, oftmals keine Aussprache- möglichkeit beim Arzt (Mangel an Planstellen für Ärzte im Vollzug), kein Arzt-Patient-Vertrauensver- hältnis (Schweigepflicht gefähr- det, Arztkonsultation nur in Ge- genwart Dritter) (Tabelle 3).

Das Zahlenmaterial ist klein. Um zu verdeutlichen, wie rasch es zu erheblichen Schwankungen kom- men kann, wurden die Selbst- mordtodesraten von 1971 bis 1975 ebenfalls angegeben. Die Verfas- serin wagt aber keine Interpreta- tion, weshalb es etwa zu einem er- heblichen Anstieg der Todesraten durch Selbstmord in Schleswig- Holstein gekommen ist und zu ei- nem beträchtlichen Rückgang in Hessen. (Durch Inhaftierung der Drogenkranken seit 1975/76 ist es zu Veränderungen in vielen Haft- anstalten gekommen, so daß un- ter Umständen ein Abfall der Selbstmordrate auch auf Überin haftierung von Drogenkranken und nicht allein auf eine ver- besserte Selbstmordprophylaxe schließen läßt.)

Die Zahlen müssen also mit sehr großer Vorsicht interpretiert wer- den, geben aber doch Hinweise, in welcher Richtung und in wel- chen Bundesländern Forschun- gen betrieben werden sollten.

Auf der „4. Alsberg-Tagung der Deutschen Strafverteidiger e. V.", zugleich Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwalt-

Neue LA-MED-Befragung

Ihr Urteil ist gefragt!

In den kommenden Wo- chen und Monaten be- fragt die Arbeitsgemein- schaft LA-MED, in der die überregionalen und die regionalen medizini- schen Zeitschriften zu-

sammengeschlossen sind, erneut die Ärzte zu ihrem Leseverhalten.

Falls Sie zu den reprä- sentativ ausgewählten Ärzten gehören, die vom Untersuchungsinstitut IVE um ein Interview ge- beten werden, bitten wir Sie herzlich um Ihre be- reitwillige Mitwirkung.

Verlag, Redaktion und Herausgeber des DEUT- SCHEN ÄRZTEBLATTS sind sehr daran interes- siert zu erfahren, wie Sie unser Informationsange- bot einschätzen und nutzen. Zur weiteren Verbesserung unserer Zeitschrift — vielleicht er-

kennen Sie auf der Titel- seite und im Heftinnern erste Schritte einer Neu- gestaltung — sind wir auf Ihr Urteil darüber ange- wiesen, wie unsere Ar- beit bei Ihnen „an- kommt". Sie werden den Nutzen daraus zie- hen!

Vielen Dank für Ihre Mitarbeit.

Ihr

Deutscher Ärzte-Verlag.

Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 6 vom 10. Februar 1984 (39) 343

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Tabelle 3: Todesraten und Krankenstand im Justizvollzug

Selbstmorde: 1971-1975 und 1976-1980, andere Todesfälle: 1976-1980, Krankenstand: 1976-1980

Berlin

Schleswig-Holstein Rheinland-Pfalz Bayern

niedrig niedrig unauffällig unauffällig Bundesrepublik

Deutschland 1,44 1,33 0,95

Bundesland Todesraten pro 1000 Gefangene Krankenstand

Selbstmord

1971-1975 1976-1980

andere Todesf.

1976-1980 1976-1980

1,06 1,36

1,32 1,31 1,13 1,16 1,26

1,46 0,84 2,34 1,16

1,02 1,00 0,85

1,58 1,70

0,78 1,70

1,12 1,55

1,72 1,50

0,93 0,91 0,54 1,25

unauffällig unauffällig niedrig unauffällig unauffällig sehr hoch niedrig sehr hoch Baden-Württemberg

Nordrhein-Westfalen Hamburg

Niedersachsen Bremen Hessen Saarland

1,05 0,90 1,05 0,92 0,34 0,69 0,86 Zum Vergleich: Bundesrepublik Deutschland, Gesamtbevölkerung

Todesrate durch Selbstmord 1978 = 0,23 pro 1000 Einwohner, 1980 = 0,21 pro 1000 Einwohner

Zahlenquellen: Dünkel/Rosner

Todesursachenstatistiken, telefonische Auskunft, Statistisches Bundesamt Berlin und Wiesbaden. Zusammengestellt von Dr. med. Annemarie Wiegand, Berlin

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Selbstmord im Justizvollzug

vereins, im November 1983 in Bonn wurde bekannt, daß das Bundesjustizministerium einen umfangreichen Forschungsauf- trag zur Untersuchungshaft an die Universität Göttingen in Nieder- sachsen vergeben hat. Dieses Forschungsvorhaben soll sich über einen Zeitraum von zwei Jah- ren erstrecken - die zahlreichen Fragestellungen sind offenbar vorgegeben.

Begründung: Die amtlichen öf- fentlichen Statistiken seien nicht verwertbar und gäben ein zu gro- bes Raster. Diese amtlichen öf- fentlichen Statistiken erlauben aber den Schluß (Tabelle aus Strafverteidiger, Bestand Unter- suchungs- und Strafgefangene am Jahreswechsel 1975/76 und 1981/82), zumal in Verbindung mit den Ergebnissen Dünkel/Rosner, daß gerade aus Niedersachsen

keine bemerkenswerten Ergeb- nisse zu erwarten sind. In Nieder- sachsen wird z. B. nicht übertrie- ben in Untersuchungshaft inhaf- tiert, es liegt weit unter dem Bun- desdurchschnitt.

Gerade die Frage der sehr pro- blematischen Sozialfälle in Haft - welche zur Senkung von Selbst- mordraten beitragen, denn diese Personen sind in Haft „versorgt" - würde in Niedersachsen kaum be- rührt.

Sinnvoller wären Vergleichsfor- schungen in solchen Bundeslän- dern, die sehr hohe und sehr nied- rige Inhaftierungsquoten auswei- sen, mit sehr hohen und sehr niedrigen Selbstmord-Todesraten unter besonderer Berücksichti- gung der Inhaftierung von Alko- hol- und Drogenkranken und der sozial besonders schwer geschä-

digten Mehrfachvorbestraften in Untersuchungshaft.

Daß sich das Interesse und das Engagement der Anwälte, ange- regt durch Veröffentlichungen des Deutschen Anwaltvereins seit Frühjahr 1983, den sozial Benach- teiligten in Haft (welche von Un- tersuchungshaft besonders häu- fig betroffen werden) zuwendet, manifestierte sich zusätzlich in der Gründung einer unabhängi- gen Stiftung für Gefangenenmedi- zin, ins Leben gerufen durch den Düsseldorfer Rechtsanwalt Georg Greeven, Deutsche Strafverteidi- ger e. V.

Literatur bei der Verfasserin Anschrift der Verfasserin:

Dr. med. Annemarie Wiegand Flotowstraße 6

1000 Berlin 21 344 (40) Heft 6 vom 10. Februar 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

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