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Archiv "Der Selbstmord — ein multifaktorielles Problem" (19.04.1979)

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„Der Selbstmord ist ein Ereignis der menschlichen Natur, welches, mag auch darüber noch so viel gespro- chen und gehandelt worden sein, als da will, doch einen jeden Menschen zur Teilnahme fordert, in jeder Zeit- epoche wieder einmal verhandelt werden muß." Diese sich auf den literarischen Bereich beziehende Feststellung Goethes aus dem 13.

Buch der „Dichtung und Wahrheit"

trifft in noch stärkerem Maße für die wissenschaftliche Forschung über den Selbstmord zu: Bereits 1927 hatte Rost in seiner „Bibliographie des Selbstmordes" weit über 3500 Arbeiten zur Thematik katalogisiert.

Die Anzahl wissenschaftlicher Publi- kationen hat heute ein unüberseh- bares Ausmaß erreicht: Das Deut- sche Institut für Medizinische Doku- mentation und Information spei- cherte zum Beispiel im August 1978 allein unter den Schlagwörtern Selbstmord und Selbstmordversuch 1380 Arbeiten, die in der kurzen Zeit- spanne zwischen Januar 1976 und Juli 1978 erschienen waren.

Bereits die Aufzählung nur einiger Fachdisziplinen, die sich zu den ver- schiedensten Teilaspekten äußern, verdeutlicht die Vieldimensionalität des Problems. Philosophen, Theolo- gen, Pathologen, Soziologen, Biolo- gen, Anthropologen, Psychologen, Psychiater, Kriminologen, Statisti- ker, Juristen, Versicherungswissen- schaftler, Rechtsmediziner — um nur einige zu nennen — haben aus ihrer Sicht das Phänomen dargestellt, und die Etablierung immer neuer in- terdisziplinärer Forschungsbereiche läßt weitere Arbeiten mit differen- zierter Thematik erwarten.

Es scheint somit an der Zeit, sich aufbauend auf bisheriges Wissen Gedanken darüber zu machen, wie die Gefahr zunehmender Zergliede- rung der Suizidologie und damit ein- seitiger Interpretationsversuche ge- bannt werden kann. Im folgenden sollen einige Versuche wissen- schaftlicher Bearbeitung des Selbst- mordproblems zusammengestellt und Vorstellungen zur Überwindung der von vielen Forschern konstatier- ten Stagnation des Erkenntnisfort- schritts unterbreitet werden.

Historisch interessant — und dies sei als Bemerkung vorausgeschickt — ist die Tatsache, daß sich erst in jüng- ster Zeit die Erkenntnis durchsetzt, daß zwischen (vollendetem) Selbst- mord und Selbstmordversuch nicht nur ein quantitativer Unterschied besteht. Suizidversuch und Suizid sind, wie es zum Beispiel Stengel 1961 — ) formulierte, „immer nur als verschiedene Grade einer und der- selben Handlung betrachtet wor- den". Sieht man von nicht zu leug- nenden Überschneidungsbereichen ab, lassen sich eindeutig Differen- zierungskriterien nachweisen (ver- gleiche zum Beispiel Dotzauer et al., 1963), die auf verschieden struktu- rierte Problemkomplexe hindeuten.

Diesem Sachverhalt sollte bei zu- künftigen Arbeiten Rechnung getra- gen werden.

Klammert man die literarischen, phi- losophischen und theologischen Ansätze zur Suizidforschung aus, sind wohl die meisten Arbeiten zur Problematik aus statistischer Sicht verfaßt, wobei wir unter Statistik nicht nur Todesursachenstatistiken

Der Suizidologie ist in den letzten Jahren vermehrt der Vorwurf gemacht worden, kei- ne sichtbaren Fortschritte er- zielt zu haben. Als wesentliche Gründe hierfür sind die Auf- splitterung des Forschungs- gebietes und die daraus fol- genden Versuche einer iso- lierten Interpretation zu nen- nen. Eine Überwindung dieser Schwierigkeiten wird erst dann möglich sein, wenn die m.ultifaktoriell determinierten Ursachenkomplexe erkannt und für Prophylaxe und The- rapie nutzbar gemacht werden.

verstehen wollen, sondern alle Be- mühungen zur Extrahierung von den Selbstmord charakterisierenden Parametern aus Stichproben hinrei- chender Größe.

Statistische Angaben über die An- zahl von Selbstmorden existieren seit Ende des 18. Jahrhunderts. Für das 19. Jahrhundert wurden die Analysen umfangreicher, so daß et- wa die Sanitätsverwaltung des Kö- nigreiches Bayern bereits 1875 Ge- schlecht, Alter, Konfession, Fami- lienstand, Beruf, Wohnort, Lebens- verhältnisse und Geistesstörungen der Selbstmörder angab und nach Arten, Ort der Verübung, Jahreszeit und Motiv differenzierte. Ausgehend von den Arbeiten zu Beginn des vo- rigen Jahrhunderts (wie etwa der Zusammenstellung Caspers der Jah- re 1788 bis 1821) wurden und wer- den fast täglich weitere Informatio- nen bereitgestellt. Als gesichert sind unter anderem folgende Fakten auf- zuzählen:

Nach Schätzungen der Weltgesund- heitsorganisation sterben täglich et- wa 1000 Menschen durch Selbst-

*) Erweiterte Form eines Vortrags anläßlich der 57. Jahrestagung der Deutschen Ge- sellschaft für Rechtsmedizin in Düsseldorf

**) Dem Aufsatz ist nur ein gekürztes Litera- turverzeichnis beigegeben. Das ausführli- che Literaturverzeichnis erscheint im Zu- sammenhang mit dem Sonderdruck, der beim Autor bezogen werden kann.

Der Selbstmord —

ein multifaktorielles Problem

Günther Dotzauer und Günter Berghaus*)

Aus dem Institut für Rechtsmedizin der Universität zu Köln (Direktor: Professor Dr. Günther Dotzauer)

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 16 vom 19. April 1979 1077

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Su izidolog ie

mord. Sowohl für Industriestaaten als auch für Entwicklungsländer wird vermutet, daß jeder hundertste Mensch auf der Welt Suizid begeht.

In der Todesursachenstatistik nimmt der Selbstmord einen vorderen Platz ein. Etwa 13 000 bis 14 000 Men- schen sterben jährlich in der Bun- desrepublik Deutschland durch Selbstmord, wobei die Suizidrate seit Konstituierung der Bundesrepu- blik Deutschland in etwa konstant ist und bei ca. 19 bis 21 pro 100 000 der Bevölkerung liegt. Steigerungen, die häufig in Veröffentlichungen be- klagt werden, entspringen einer Ver- lagerung der Suizidhandlungen auf die Städte. So stieg, um nur ein Bei- spiel zu nennen, die Anzahl der Selbstmorde und Selbstmordversu- che in Köln von 643 Fällen 1971 auf 1144 im Jahre 1977, ohne daß sich im gleichen Zeitraum auch die Be- völkerungszahl verdoppelt hätte.

Männer begehen häufiger Suizid als Frauen, während die Relation bei den Versuchen umgekehrt ist. Der absolute Altersgipfel ist mit 50 bis 70 Jahren anzugeben, eine Betonung bei jungen Menschen. Alleinstehen- de weisen höhere Selbstmordquo- ten auf als Verheiratete. Vor allem Rentner und Studenten scheinen überproportional gefährdet. Hohe Selbstmordraten sind zu finden, wo zerrüttete Familienverhältnisse vor- liegen, wo Drogen- oder Alkoholab- hängigkeit beobachtet wird und wo viele Menschen unter schlechten Wohnbedingungen zusammenle- ben. Protestanten begehen häufiger Selbstmord als Katholiken, die Selbstmordziffer ist in den Städten höher als auf dem Lande. Im Früh- jahr und Frühsommer werden die meisten Taten ausgeführt, im Winter die wenigsten. Das Selbstmordmaxi- mum findet sich am Montag, das Mi- nimum am Wochenende. Als Mittel zum Selbstmord ist bei Männern an erster Stelle das Erhängen, an zwei- ter Stelle die Vergiftungen mit festen oder flüssigen Stoffen zu nennen, bei Frauen ist die Reihenfolge um- gekehrt. Doch scheint das Reservoir der Mittel, das Leben zu beenden, unerschöpflich und wird entschei- dend von der beruflichen Tätigkeit beeinflußt. Versuche, den Selbst-

mord mit geophysischen Einflüssen, der körperlichen Konstitution, dem Beruf usw. zu korrelieren, haben keine eindeutigen Ergebnisse ge- zeigt. Die Motivation • zum Selbst- mord beziehungsweise Selbstmord- versuch in Form einer Statistik zu sammeln, halten wir aus methodi- scher Sicht für nicht gerechtfertigt.

Wir müssen hier — neben anderen — Arnäry (1976) zustimmen, wenn er feststellt: „Faßt der Suizidär den Be- schluß, seine Existenz auszulö- schen, dann unterliegt er ... einer quasi unendlichen Multikausalität."

Bei vollendeten Suizidhandlungen fällt es den polizeilichen Ermitt- lungsbehörden schwer, die Daten zur psychologischen Situation des Verstorbenen zu sammeln und sie im Sinne einer Motivation zu deuten.

Die Aufklärungshilfe der Umwelt fehlt in vielen Fällen, so daß zumeist die unverbindlichen Angaben

„Schwermut", „Depression", „soll mehrere Nächte nicht geschlafen haben" usw. als Selbstmordmotive registriert werden. Bei Überleben- den wird es unter anderem von der Frageintensität und dem Einfüh- lungsvermögen des Untersuchers abhängen, wie weit das ursächliche Motiv preisgegeben wird. Eine Kate- gorisierung von Selbstmordmotiven ist eminent schwierig, da bei jedem Suizidgeschehen eine multifaktoriell determinierte Konfliktsituation vor- liegt, die nicht durch den vielleicht zufälligen letzten Anlaß charakteri- siert werden kann.

Verdanken wir den statistischen Analysen auch sehr viele Informatio- nen, sind doch einige kritische Be- merkungen angebracht. Das de- skriptiv statistische Vorgehen kann nur Anfang einer Kette von Untersu- chungen sein, an deren Ende eine in der Praxis anwendbare Suizidthera- pie und -prophylaxe stehen sollte.

Doch bis heute werden zum Beispiel nur bereits bekannte Tatsachen re- produziert, ohne den Versuch zu un- ternehmen, über eine subjektive In- terpretation hinauszukommen und die Erfahrungswerte für die Vorsor- ge nutzbar zu machen. Ein Beispiel möge dies erläutern: 1883 meinte Montesquieu, die meisten Selbst- mordhandlungen fänden sich in den

Wintermonaten. Nachdem Gaupp 1905 diese Annahme statistisch wi- derlegt hatte, wurde in der Folgezeit in einer Unzahl von Arbeiten der Frühjahrsgipfel etabliert. Wie dieses Phänomen jedoch zu erklären ist, darüber besteht bis heute Uneinig- keit. Die Palette der Begründungen reicht von der „blühenden Natur"

beziehungsweise dem „wiederauf- blühenden Leben" über „das stärker oder schwächer pulsierende soziale Leben" bis hin zu einer „menschli- chen Brunst", was immer man dar- unter verstehen mag. Keine dieser Hypothesen ist jedoch nur annä- hernd abgesichert. Es handelt sich lediglich um Vermutungen, die zum Teil allzu leichtfertig geäußert wer- den.

Die psychopathologische Sicht des Selbstmordproblems kann auf eine lange Tradition zurückblicken:

Bereits 1838 wertete Esquirol den Selbstmord als Ausdruck einer be- sonderen Art von Geisteskrankheit;

Kratter (1918) sah ihn als Zeichen von Degeneration; Gaupp (1907) auf der Grundlage eines krankhaft ver- änderten Seelenzustandes und De Fleury (1924) aus einer manisch-de- pressiven Konstitution entstanden.

Kraepelin (1896) weist jedoch darauf hin, daß lediglich 30 Prozent geret- teter Selbstmörder wirklich klinisch ausgeprägte geistige Störungen darboten. In der neueren Literatur schwanken die Angaben über den Anteil der Psychosen an der Ge- samtzahl suizidaler Handlungen in Abhängigkeit von der zugrundelie- genden Definition der Psychose. Bei Suizidversuchen — so zeigte Linden (1969) in einer Zusammenstellung — liegen die Schwankungen zwischen 5,8 und 50 Prozent.

Auch bei nichtpsychotischen Suizi- denten werden psychische Fehlent- wicklungen als für die Tat mitbe- stimmend angenommen. So glaubte Ringel (1953) bei der Rekonstruktion des Lebensweges von 650 im Jahre 1949 Selbstmord-versucht-Haben- den in der Mehrzahl einer in einer gestörten Kindheit wurzelnde psy- chische Fehlentwicklung diagnosti-

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zieren zu können, die er als „Neuro- se der Lebensverunstaltung" be- zeichnet.

Ringel beziffert den Neuroseanteil auf 54 Prozent. Eine Bestätigung dieser Ergebnisse erfolgte durch Stengel u. Cook (1958), die in 62 von 117 vollendeten Suiziden „neuroti- sche Depressionen" konstatierten und durch Kulawik (1977), der bei 625 Suizidversuchen „in 29,8 Pro- zent der Fälle die Voraussetzung für eine Neurose auf der Grundlage ei- ner primären psychischen Fehlent- wicklung sicher erfüllt" sieht und zusätzlich in 28,5 Prozent der Fälle Hinweise für eine psychische Fehl- entwicklung zu sehen glaubt. Wie hoch man letztlich den Prozentsatz schraubt, hängt — wie Thomas (1964) wohl zu Recht einwendet — davon ab, wie weit man den Begriff der Fremdneurose als Erkrankung durch Umweltbelastung faßt.

Grundlage soziologischer Arbeiten über das Suizidproblem ist die im Jahre 1897 erschienene Monogra- phie „Le suicide" von Durkheim.

Nachdem unter anderem Brierre de Boismont (1855), Davey (1878) und Masaryk (1881) bereits den Selbst- mord in seiner sozialen Relation er- kannt hatten, versuchte Durkheim nachzuweisen, daß nicht psychopa- thologische Faktoren, sondern al- lein soziale Bindungen das Selbst- mordgeschehen beeinflussen. Er unterschied drei Selbstmordtypen:

den egoistischen als Folge geringer wechselseitiger Beziehung zwi- schen Individuum und Gesellschaft, den altruistischen als Folge einer sehr engen Bindung an die Gesell- schaft und den anomischen als Fol- ge der Änderung des Gleichge- wichtszustandes einer Gesellschaft durch Kriege, Krisen oder Störun- gen der Organisation.

Durkheim glaubt die Ursache eines abnormen Verhaltens, etwa in Form des Selbstmordes, im Versagen der sozialen Regulation zu sehen. Er hätte zweifelsohne von einer Stö- rung des sozialen Regelkreises ge- sprochen, wäre zu seiner Zeit bereits die Terminologie der Kybernetik be- kannt gewesen.

Der soziologische Ansatz Durkheims ist bis heute aktuell: Soziale Indika- toren werden in vermehrter Zahl mit den Suizidraten mittels komplexer statistischer Verfahren korreliert (zum Beispiel Lönnqvist, 1977), so daß die Abhängigkeit des Selbst- mordgeschehens vom Grad der Inte- gration des Individuums in das So- zialgefüge des Staates als gesichert angesehen werden kann. So plausi- bel jedoch die Kategorisierung in egoistischen, altruistischen und anomischen Selbstmord in einzel- nen Fällen auch erscheinen mag, die einseitig soziologische Sicht Durk- heims ist in seiner Blindheit für eine individuelle Motivation zu sehen. So findet er weder einen Zusammen- hang zwischen Selbstmord und Psy- chose noch zwischen Selbstmord und Alkoholismus.

Die Psychoanalyseversucht über die Untersuchung der Persönlichkeits- struktur der Lösung der Problematik näherzukommen. Nach Freud (1920) ist dem Menschen ein aggressiv-de- struktives Verhalten eigen, das sich entweder in einem Abreagieren nach außen oder nach innen in Form suizidaler Absichten richten kann.

Diese Polarität der Aggression ver- suchten zum Beispiel Verkko (1951), Straus, J. H., u. Straus, M. A. (1953), Henry u. Short (1967) durch die Tat- sache zu belegen, daß Regionen mit hoher Mordrate eine niedrige Selbstmordrate aufwiesen und um- gekehrt bei niedrigen Mordraten ho- he Selbstmordfrequenzen gegeben seien. Als Stütze dieser Theorie scheint vielen die bekannte Tatsa- che, daß Selbstmordhandlungen der Männer in Kriegszeiten seltener sind, da die Aggressionen auf den Feind konzentriert würden. Hierbei muß man allerdings fragen, ob nicht mancher Selbstmord später als

„Heldentod" in der Statistik er- scheint.

Aus der Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen sei schließlich noch die Rechtsmedizin genannt, die am un- mittelbarsten mit dem vollendeten Suizidgeschehen konfrontiert ist.

Zum einen deshalb, weil ihr die Auf- gabe zufällt, den Selbstmord von an- deren kriminologischen Kategorien

eines Todesfalles zu differenzieren und sie damit letztlich Mitverantwor- tung für die Korrektheit offizieller Statistiken trägt. Zum anderen ob- liegt ihr die nachgehende Bearbei- tung als Aufgabe des öffentlichen Gesundheitswesens. Sie kann und muß dafür sorgen, daß Selbstmörder nicht nur als „soziales Strandgut"

unserer Wohlstandsgesellschaft ab- geschrieben werden. Der Rechtsme- diziner soll zur Frage Stellung neh- men, ob ein Verbrechen, ein Unfall oder ein Selbstmord vorliegt. Die Differenzierung ist oft außerordent- lich schwierig. Selbstmord ist nicht in allen Fällen beweisbar, zumeist nur durch den Ausschluß anderer Tatabläufe als wahrscheinlich zu be- zeichnen. Schwierig ist eine Ent- scheidung speziell dann, wenn für Selbstmord untypische Todesarten als solche nachgewiesen werden sollen. Als Beispiel sei genannt: Der Selbstmord mit dem Personenkraft- wagen in der Abgrenzung gegen- über dem Verkehrsunfall, der Selbstmord durch Sturz gegenüber einem unfallbedingten Herabstür- zen, der Schußselbstmord — beson- ders bei jüngeren Menschen — in Ab- grenzung gegen ein versehentliches Lösen des Schusses beim Spiel mit der Waffe, die Vergiftung infolge un- beabsichtigter Medikamentenein- nahme in der Abgrenzung gegen Gift als Selbstmordmittel sowie die Abgrenzung von Selbstmorden ge- gen autoerotische Unfälle.

Eine Klärung eines zweifelhaften Tatablaufes hängt nicht unwesent- lich von der Ermittlungsintensität ab. So wäre es wünschenswert, in größerem Umfang Obduktionen zur Klärung der Todesursache vorneh- men zu können. —

Man sollte annehmen, daß die Viel- zahl der Arbeiten zu einem entspre- chenden Zuwachs an Erkenntnissen geführt hat. Doch müssen wir einge- stehen, daß die meisten Probleme der Suizidalität bis heute nicht ge- löst sind. Die Unzufriedenheit hier- über hat sich an vielen Stellen unter verschiedenen Aspekten artikuliert.

Zunächst wird den forschenden Wissenschaftlern der Vorwurf ge-

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Suizidologie

macht, den Suizid lediglich als wis- senschaftliches Problem zu betrach- ten und zu behandeln (Aivarez, 1974; Amery, 1976). So meint Alva- rez: Die Forscher "scheinen sich nicht mehr mit menschlichen We- sen, sondern mit anonymen Ana- mnesen und Statistiken, mit merk- würdigen Fakten und Aspekten zu beschäftigen ... ".

Einen zweiten Gesichtspunkt trug Stengel bereits 1961 mit der Fest- stellung vor, daß die Literatur über die tödlich endende Selbstmord- handlung lediglich bekanntes Wis- sen bestätigt habe. Eine Überle-

gung, die wir aus heutiger Sicht lei-

der nur bestätigen können.

Der dritte Vorwurf zielt auf ·die Orientierung der Forschungen an der Praxis ab, wenn festgestellt wird, daß zwar die Summe der Informatio-

nen, die bis heute angehäuft wurde,

beträchtlich sei, jedoch ihre Aussa- gekraft gleich Null ist.

Die Essenz der Kritik schließlich sprechen Fenton u. Mann (1976) in der Frage an, ob der Selbstmord denn überhaupt vermeidbar sei. Sie parieren die Berechtigung zu dieser Frage mit dem Hinweis, daß die Sui- zidforschung seit der Jahrhundert- wende auf der Stelle getreten sei. Die detaillierte Diskussion über die Berechtigung dieser Einwände wü r- de zu weit führen, zudem wären Dif- ferenzierungen·_ nicht nur im voll- endeten und versuchten Freitod - nicht zu umgehen. Doch ist festzu- halten: Die Überzahl der in diesem Jahrhundert veröffentlichten Arbei- ten hat letztlich nur triviale bezie- hungsweise bereits bekannte Tatsa- chen zum wiederholten Male verifi- ziert; Hypothesen, die anhand stati- stischer Auswertungen aufgestellt wurden, konnten bis heute nicht ab- gesichert werden; viele Autoren schufen bei vollendetem Selbstmord gewaltsame Motivationskategorien; die gesamten Forschungen waren letztlich nicht imstande, die Selbst- mord- und Selbstmordversuchszif- fern zu senken.

..,.. Das Scheitern wissenschaftlicher Forschung ist unserer Ansicht nach

im wesentlichen dadurch bedingt, daß einzelne Aspekte des Suizidpro- blems aus dem multifaktoriell be- dingten Ursachenkomplex heraus- gebrochen und isoliert bearbeitet werden.

Jedes Ergebnis einer derartigen Un- tersuchung, sei sie auch noch so

"wissenschaftlich", kann notwendi- gerweise nur aus der jeweiligen Sicht Relevanz haben. Wenn zum Beispiel keine Kenntnisse darüber vorliegen, welche Relationen zwi- schen soziologischen und psycholo- gischen, psychepathologischen Merkmalen bestehen, wird man ein Resultat aus soziologischer Sicht nur unter der Prämisse, psychepa- thologische Faktoren hätten keinen Einfluß auf das Suizidgeschehen, formulieren dürfen. Bei Vorhanden- sein auch nur einer Korrelation muß jedoch ein isoliert konstruiertes Theoriengebäude in sich zusam- menbrechen. Akzeptieren wir die Multikausalität bei der Motivation zum Freitod, muß auch die For- schung diese Vieldimensionalität berücksichtigen.

Durch die Entwicklung multivariater statistischer Verfahren, ausgehend von den Arbeiten Fishers, Wilks und Hotellings in den dreißiger und Vier- ziger Jahren, und. die Konstruktion immer größerer elektronischer Da- tenverarbeitungsanlagen seit Be- ginn der fünfzigerJahreist es heute möglich, Hunderte von Merkmalen in ein statistisches Verfahren zu in- tegrieren und Datenbanken als we- sentliche Voraussetzungen für eine vergleichende Beurteilung erstellen zu können. ln der Diskriminanzana- lyse, der Varianzanalyse, der Fakto- renanalyse, um nur wenige der be- kanntesten Analyseverfahren zu nennen, sind statistische Verfahren bereitgestellt, die in zunehmendem Maße auch Eingang in die Selbst- mordforschung finden sollten. Über die Darstellung isolierter Merkmale hinaus wird es so möglich, mehrere Fachrichtungen und Themenkom- plexe in einem Projekt zu vereini- gen.

Doch nicht allein die multivariate Auswertung ist Voraussetzung für

einen Fortschritt in der Suizidpro- phylaxe. in Verbindung mit der mehrdimensionalen Analyse müßte die gesamte Forschung stärker als bisher auf das Ziel der Rettung po- tentieller Selbstmörder ausgerichtet sein. Eine Arbeit über das Selbst- mordproblern sollte sich nicht allein - wie es leider häufig der Fall ist - auf die Sammlung von Daten und Fakten beschränken, vielmehr wer- den erst Überlegungen, wie die ge- wonnenen Resultate für den Arzt, Psychiater wie Psychologen zur Er- kennung eines selbstmordgefährde- ten Menschen beitragen können, den eigentlichen Sinn einer Unter- suchung darstellen. Die Wertung ei- nes Ergebnisses im Hinblick auf Dia- gnose und Therapie muß stärker in den Vordergrund rücken.

Seit Beginn der fünfzigerJahrewird die "Selbstmordprophylaxeals neue Aufgabe der öffentlichen Gesund- heitspflege" (Themas, 1963) in im- mer stärkerem Maße erkannt. Arbei- ten von Schneider (1950), Batchelor et al. (1954), Schmidt et al. (1954), Parnell et al. (1957), Stengel (1961, 1969), Ringel (1961, 1966, 1967, 1969), Themas (1963, 1964), Hoff (1965), Pöldinger (1968), Fuhrmann (1969), Staak et al. (1975) haben da- zu beigetragen, daß heute Ansatz- möglichkeiten einer Suizidprophyla- xe vorliegen. Jüngste Entwicklun- gen (Greist et al., 1973; Gustafson et

al., 1977) zielen darauf ab, Computer

als Hilfsmittel bei der Suiziddiagno- se zu integrieren. Wenn auch bei der vorliegenden Thematik Probleme des Arzt-Patienten-Verhältnisses in besonderem Maße zu berücksichti- gen sein werden, ist der sinnvolle Einsatz von Rechnern als zusätzli- cher Weg zur Lösung der anstehen- den Probleme zu diskutieren.

Neben der Erkennung möglicher Suizidenten muß auf einen weiteren Komplex hingewiesen werden, dem in Zukunft erheblich mehr Aufmerk- samkeit zu schenken ist: der Thera- pie. Es muß bedenklich stimmen, daß bei der Analyse von vollendeten Se I bstmo rd hand I u ngen festgestellt wurde, daß in etwa drei von vier Fäl- len die Suizidenten innerhalb eines Monats vor der Tat Personen der

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ärztlichen Versorgung gegenüber Selbstmordabsichten äußerten (Lit- man, 1967). Obwohl also eine Dia- gnose bekannt war, würden die An- drohungen nicht als wahr genom- men oder es war nicht möglich, die- se Menschen von ihrem Entschluß abzubringen. Ergänzend hierzu sei auf den relativ hohen Anteil von Selbstmördern hingewiesen, die be- reits einmal oder mehrmals versuch- ten, sich das Leben zu nehmen. Be- reits seit vielen Jahren können wir auf eine Zusammenarbeit mit der Universitäts-Nervenklinik und dem Gesundheitsamt der Stadt Köln der- gestalt zurückblicken, daß Informa- tionen über dem Freitod vorausge- hende Behandlungen zusammenge- tragen werden. So berichtete Bök- ker et al. bereits 1970, daß von den in den Jahren 1960 bis 1966 dem Insti- tut für Rechtsmedizin nach Selbst- mord zugeführten Verstorbenen 71 in der Zeitspanne 1950 bis 1966 in der Universitäts-Nervenklinik Köln wegen eines Suizidversuches und 42 wegen neurologischer oder psychiatrischer Leiden behandelt wurden. Nicht erfaßt sind Behand- lungen bei niedergelassenen Ärzten oder anderen Krankenanstalten, so daß die genannten Zahlen Mindest- werte darstellen. Eine Fortschrei- bung dieser Ergebnisse für die Jahre 1967 bis 1976 wies einen Anteil von 12 Prozent der Selbstmörder aus, der in der Universitäts-Nervenklinik behandelt worden und einen Anteil von 14 Prozent, der dem Gesund- heitsamt als selbstmordgefährdet (Tablettenabusus, Alkoholabhängig- keit, Psychosen usw.) bekannt war.

Diese Zahlen sowie die unzähligen in der Literatur nachzulesenden Falldarstellungen über Selbstmord- handlungen nach kürzer oder länger zurückliegenden psychiatrischen Behandlungen macht die Ohnmacht deutlich, mit der der behandelnde Arzt und/oder Psychiater vor einer Hilfeleistung steht.

Hier drängt sich der Vergleich zu den Suchtkranken auf: Alle ärztli- chen Bemühungen sind letztlich sinnlos, wenn nach einer Entzie- hungsbehandlung die Integration des Patienten in den normalen Le-

bensrhythmus, den „Alltag" fehl- schlägt. Zweifelsohne kann es daher nicht Aufgabe des Arztes allein sein, einen Lebensmüden vor einem Frei- tod zu schützen. Die Forschung wird sich in verstärktem Maße um Versor- gungsmodelle nach der ärztlichen Betreuung bemühen müssen, denn erst so wird eine Therapie Erfolg zei- gen können. Auch hierbei wird wie- der — und so schließt sich der Kreis — der Selbstmord als multifaktoriell determiniertes Problem aufgefaßt werden müssen.

Die Bedeutung des Selbstmordes, wie sie sich in der Suizidrate doku- mentiert, verlangt umfangreiche Be- mühungen in quantitativer und qua- litativer Hinsicht unter den zuvor ge- nannten Kautelen. Hierbei sollte man sich darüber klar sein, daß kurzfristige Erfolge nicht zu erwar- ten sind, da es sich um Forschungen handelt, die etablierte Grenzen überwinden müssen. Die Allgemein- problematik der Selbstmordfor- schung sollte so in ihrem vollen Aus- maß dargestellt werden, daß der Be- griff „Suizidologie" als durchaus berechtigt anerkannt wird.

Literatur

Arnäry, H.: Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod, Klett, Stuttgart, 1976 —Dahlgren, K.

G.: On suicide and attempted suicide, Lind- stedts, Lund, 1945 - Dotzauer, G.; Goebels, H.

u. Legewie, H.: Selbstmord und Selbstmord- versuch. Statistischer Vergleich von Hambur- ger Erfahrungen aus den Jahren 1935 bis 1959, MMW 105 (1963) 973-981 — Durkheim, E.: Le suicide, Alcan, Paris, 1897 - Gruhle, H. W.:

Selbstmord, Thieme, Leipzig, 1940 - Lönn- qvist, J.: Suicide in Helsinki, Monographs of Psychiatria Fennica, No. 8, 1977 - Ringel, E.

(Hrsg.): Selbstmordverhütung, Huber, Bern, 1969 - Rost, H.: Bibliographie des Selbst- mords, Haas u. Grabherr, Augsburg, 1927

—Stengel, E.: Selbstmord und Selbstmordver- such, Fischer, Frankfurt/M., 1969 - Thomas, K.: Handbuch der Selbstmordverhütung. Enke, Stuttgart, 1964

Anschrift der Verfasser:

Professor Dr. med.

Günther Dotzauer Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Universität zu Köln Dr. rer. biol. hum.

Günter Berghaus

Institut für Rechtsmedizin der Universität zu Köln Melatengürtel 60-62 5000 Köln 30

Herzinfarktrisiko wächst mit Zahl der Zigaretten

Das Risiko, an einem Herzinfarkt zu sterben, ist unter Rauchern größer als unter Nichtrauchern, wobei eine direkte Beziehung zwischen Anzahl der Zigaretten und Herztod besteht.

In einer kontrollierten retrospektiven Studie, durchgeführt an 308 nach Alter und Wohnort vergleichbaren und an Herzinfarkt verstorbenen Raucher-Nichtraucher-Paaren (ver- heiratete Männer im Alter von 30 bis 70 Jahren) ergab sich für alle Rau- cher gegenüber den Nichtrauchern eine berichtigte Risikorate von 1,6, was einer um 60 Prozent erhöhten Infarktquote der Raucher entspricht.

Bei Aufteilung in Untergruppen ent- sprechend der Zahl der gerauchten Zigaretten konnte ein steigendes In- farktrisiko mit Zunahme der Zigaret- tenanzahl gefunden werden: Män- ner, die 1 bis 20- Zigaretten täglich rauchten (128 Sterbefall-Paare) wie- sen eine Risikorate von 1,1 auf (nicht signifikant unterschiedlich zu den Nichtrauchern). Bei einem Konsum von 21 bis 40 Zigaretten fand sich bereits eine Risikorate von 2,3 (125 Sterbefall-Paare), die bei der Unter- gruppe mit 41 oder mehr Zigaretten auf 4,0 gegenüber den Nicht- rauchern anstieg (55 Sterbefall-Paa- re). Die Autoren der Studie schließen daraus, daß starke Raucher (41 und mehr Zigaretten) durch Verringe- rung der Zigarettenanzahl bereits auf mittlere Mengen (21 bis 40) be- ziehungsweise mäßige Raucher (21 bis 40) auf kleine Mengen (1 bis 20) ihr Infarktrisiko um jeweils die Hälfte verringern können. Auch wenn völli- ge Raucherentwöhnung das ange- strebte präventive Ziel ist, so mag die Empfehlung zur Halbierung des Zigarettenkonsums realistischer sein und vom Raucher eher befolgt werden als die Forderung nach dem totalen Rauchverbot. Cmn

Bain, C.; Hennekens, C. H.; Rosner, B.;

Speizer, F. E.; Jesse, M. J.: Cigarette consump- tion and deaths from coronary heart-disease, Lancet I (1978) 1087-1088, Channing Laborst- ory. Department of Medicine and Preventive and Social Medicine, and Peter Bent Brigham Hospital, Harvard Medical School, Boston, Massachusetts; and University of Miami School of Medicine, USA

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Referenzen

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