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ausende Menschen töten sich in jedem Jahr in Deutschland selbst.Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes sank zwar die Anzahl der Suizide von 18 711 Fällen im Jahr 1982 um 40,3 Prozent auf 11 163 im Jahr 2002, wobei allerdings von einer Dun- kelziffer von mindestens 25 Prozent ausgegangen wird. Die meisten Men- schen, die sich selbst töten,
sind Kranke, die ihr Leid, ihre Not, Verzweiflung und/
oder subjektiv erlebte Wertlosigkeit nicht mehr ertragen können. Eine über Monate gewachsene Suizi- dalität, Verlust von Hoff- nung und Vertrauen lässt sie in ihrer Einsamkeit als ein- zige Möglichkeit die Selbst- tötung wählen. Kraft und Willen zum Weiterleben sind verloren gegangen.
Nahe Angehörige, Freunde, Nachbarn und Ärzte haben die Signale der Not und Ausweglosigkeit nicht er- kannt und konnten mög- liche Hilfe nicht einbringen.
Gibt es jemanden, der so blind, unge- recht und sprachlich falsch program- miert bleiben möchte, dass er diese Menschen „Selbstmörder“ nennt? Den Tod-Unglücklichen, Depressiven oder wahnhaft Gestörten gebührt Respekt, Verstehen, Mitleid und therapeutisches Bemühen; ihre Angehörigen bedürfen und verdienen Mitgefühl, Hilfe bei ih- rer schweren Trauerarbeit wie beim Umgang mit den so häufigen unausge- sprochenen Schuldgefühlen. Kein Wort ist unangemessener als „Selbstmord“
für ein solches Schicksal.
Mit dem Wort und wertfreiem Be- griff der Selbsttötung kann und soll das
Unwort „Selbstmord“ entfernt und ge- strichen werden. Für die Fachsprache hat sich das Wort Suizid etabliert; es ist abgeleitet vom lateinischen Wort caedere (töten, niederstechen, schlach- ten, totmachen); der lateinische Wort- stamm gibt unterschiedliche Wertungen wieder. Dies zeigt sich auch im Begriff Genozid (Völkermord), der wahren
Mord meint. In Wissenschaft und Fach- sprache ist jedoch eine zweifelsfreie wertneutrale „Selbsttötung“ gemeint.
Das Grundgesetz garantiert ein Le- ben in Freiheit, Selbstbestimmung und Würde. Zum Leben gehören Sterben und Tod. Deshalb ist im deutschen Ge- setz und Recht eine Selbsttötung straf- frei und kein Gegenstand des Strafge- setzes. Tötungsdelikte nach dem Straf- recht richten sich ausnahmslos gegen andere. Eindeutig und zweifelsfrei ist die gesetzliche Definition eines Mör- ders: „. . . wer aus Mordlust, zur Befrie- digung des Geschlechtstriebs, aus Hab- gier oder sonst aus niedrigen Beweg-
gründen, heimtückisch, grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet.“ (Strafgesetzbuch [StGB] § 211)
Im StGB ist die Pflicht zum Verhin- dern von beziehungsweise zum Ein- greifen bei Selbsttötung definiert:
Unterlassen ist ein Tötungsdelikt;
als Grenze der Behandlungspflicht nennt das StGB „die Menschenwürde“.
Beim Hungerstreik ist eine Zwangs- ernährung zulässig, aber es gibt keine Pflicht zur Zwangsernährung.
Bedeutsam ist, dass im Gesetz keine grundsätzliche Pflicht zur Verhinde- rung einer Selbsttötung gefordert wird.
Das Gesetz setzt für diese Pflicht eine Handlungsunfähigkeit des Suizidenten voraus. Es gilt der Grundsatz, dass es – vor allem auch für Ärzte – „. . . keine Rechtspflicht zur Erhaltung eines ver- löschenden Lebens um je- den Preis . . . “ gibt. Der Bun- desgerichtshof (BGH) hat in seiner Rechtsprechung 1985 eine Unterscheidung von „Normal- und Suizid- patienten“ vorgenommen, wobei den Suizidenten ein grundsätzliches Selbstbe- stimmungsrecht in einer Einzelfallentscheidung ab- gesprochen wurde.
Am 17. März 2003 hat der BGH mit seinem Urteil der Selbstbestimmung im Ster- beprozess einen zweifels- freien Rechtsanspruch ver- mittelt: „. . . Ist ein Patient einwilligungsunfähig und hat sein Grundleiden einen irrreversiblen tödlichen Verlauf ange- nommen, so müssen lebenserhaltende oder -verlängernde Maßnahmen unter- bleiben, wenn dies seinem zuvor – etwa in Form einer so genannten Patienten- verfügung – geäußerten Willen ent- spricht. Dies folgt aus der Würde des Menschen, die es gebietet, sein in ein- willigungsfähigem Zustand ausgeübtes Selbstbestimmungsrecht auch dann noch zu respektieren, wenn er zu eigen- verantwortlichem Entscheiden nicht mehr in der Lage ist. Nur wenn ein sol- cher erklärter Wille des Patienten nicht festgestellt werden kann, beurteilt sich die Zulässigkeit solcher Maßnahmen T H E M E N D E R Z E I T
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Selbstmord
Ein Wort, das es nicht geben sollte
Der Autor des Beitrags plädiert dafür, den Begriff Selbstmord durch die wertfreie Bezeichnung Selbsttötung zu ersetzen.
Den Tod-Unglücklichen, Depressiven oder wahnhaft Gestörten gebührt Respekt, Mitgefühl, Verstehen und therapeutisches Bemühen.
Foto:DAK/Wigger
nach dem mutmaßlichen Willen des Patienten, der dann individuell – also aus dessen Lebensentscheidungen, Wertvorstellungen und Überzeugun- gen – zu ermitteln ist . . . “.
Die Verpflichtung, eine palliativmedi- zinische Betreuung unheilbar Kranker und Sterbender zu etablieren, bleibt von diesem BGH-Urteil unberührt. Nach dem Urteil jedoch resultiert für die Ärzteschaft eine Informationspflicht zu Möglichkeiten einer individuellen, selbstbestimmten Gestaltung eines ir- reversiblen Sterbeprozesses. Die Be- handlung eines einwilligungsfähigen Patienten gegen dessen geäußerten Wil- len ist strafbare Körperverletzung. Es ist eine ernste, bis heute unbefriedigend wahrgenommene Aufgabe der Ärzte- schaft, jeden Erwachsenen, insbesondere ältere und alte Menschen, in entschei- dungsfähigem Zustand über Betreu- ungsvollmacht und Patientenverfügung zu informieren, auch ungefragt, um ihre Selbstbestimmung wie ihren Willen zur Geltung zu bringen für Situationen einer Einwilligungsunfähigkeit durch Krank- heit beziehungsweise Unfall.
Die ethische Bewertung einer Selbst- tötung schwankt seit Jahrtausenden zwi- schen schärfster Verurteilung bis hin zur Verherrlichung. Ihre Häufigkeit ist im Vergleich von Kulturen, Ländern und in definierten Zeiträumen unterschiedlich.
Das Christentum verwarf die Selbst- tötung von Anfang an als sündhaften Eingriff in die göttliche Schöpfungsord- nung: Nur Gott kann Leben schenken und nehmen. Ungeachtet dessen gin- gen Christus und in seiner Nachfolge die Märtyrer sehenden Auges und aus freien Stücken in den sicheren Tod.
Die christliche Religion mit ihrer Ver- urteilung und Bestrafung einer Selbst- tötung, die bis zum Verbot einer kirch- lichen Friedhofbeerdigung ging, hat sicherlich bis heute zum alltagssprach- lichen Gebrauch des Wortes „Selbst- mord“ beigetragen. Die gegenwarts- nahen christlichen Kirchenordnungen sehen ein kirchliches Begräbnis vor.
Die pastoralen Agenden enthalten be- sondere Entwürfe für Selbsttötungen, die auf ein „Gewissen zur Mitverant- wortung für den in Not befindlichen Bruder“ hinweisen. Abschließend: Es darf das Wort Selbstmord nicht mehr geben! Prof. Dr. med. Peter Helmich
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it der Veröffentlichung der Versi- on 1.0 der Telematik-Rahmenar- chitektur hat das Bundesministe- rium für Gesundheit und Soziale Siche- rung (BMGS) einen ersten Meilenstein auf dem Weg zur Einführung der elek- tronischen Gesundheitskarte vorge- stellt. Das Dokument ist ein wichtiges Teilergebnis des Projektes „bIT4health“(bessere IT für bessere Gesundheit).
Mit dem Projekt unterstützt das Mini- sterium die Selbstverwaltung bei der Einführung der elektronischen Gesund- heitskarte. Es wurde Ende August 2003 in Abstimmung mit den Spitzenverbän- den der Selbstverwaltung nach einer eu- ropaweiten Ausschreibung an ein Fir- menkonsortium unter Leitung der IBM Deutschland vergeben. Arbeitspakete des Projektes sind neben der Erstellung einer IT-Rahmenarchitektur die Vorbe- reitungen für die Testphase sowie die wissenschaftliche und technische Beglei- tung der Einführung der Gesundheits- karte bis in das Jahr 2006. Das Doku-
ment der Telematik-Rahmenarchitektur ist auf der Webseite des Deutschen In- stituts für Medizinische Dokumentation und Information (www.dimdi.de) veröf- fentlicht. Es ist ein dynamisches Kon- zept, das fortgeschrieben wird.
Die Rahmenarchitektur (Grafik) bil- det den „Rahmen“ für Einzellösungen der Telematik. Sie ist eine modellhafte Sicht auf das komplexe Gesamtsystem der Karte und ihrer Infrastruktur und identifiziert die notwendigen Daten, Prozesse und Komponenten sowie de- ren Zusammenspiel untereinander.
Ebenso werden in der Rahmenarchi- tektur Standards für die Leistungsfähig- keit der Karte und deren Sicherheit festgelegt. Mit den darin beschriebenen Randbedingungen, den gemeinsamen Komponenten und Schnittstellen, die von allen Anwendungen eingehalten werden müssen, wird sichergestellt, dass die elektronische Gesundheitskarte mit vorrangigen Anwendungen eingeführt werden kann und gleichzeitig die Zukunftsfähigkeit des Systems gewährleistet bleibt. Insofern ist die Erarbeitung der Rah- menarchitektur der er- ste Baustein, der zwar noch nicht die Lösung für alle Infrastruktur- fragen ist, aber die Grundlage für den nächsten Schritt – die Lösungsarchitektur – bildet.
Um den gesetzlich vorgegebenen Zeit- plan einzuhalten, muss in den nächsten Mo- naten die Lösungsar- chitektur, in der die
Telematikplattform
Schrittweises Vorgehen
Nachdem ein Konzept für die Rahmenarchitektur vorliegt, geht es jetzt um die Lösungsarchitektur und die Vorbereitung der Tests zur Einführung der elektronischen Gesundheitskarte.
Jana Holland, Stefan Bales
Grafik
Schema der Rahmenarchitektur