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Stumme Zeugen

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Spektrum | Spuren

8 phIakzente 4/2011

W

ie vom Donner gerührt bleibt Ro- binson Crusoe stehen. Als er um die Mittagszeit zu seinem Boot unter- wegs ist, stösst er am Strand auf den Abdruck eines nackten Männerfusses.

Die Spur kann nur eines bedeuten: Er ist nicht allein auf dieser Insel.

250 Jahre nach Erscheinen von De- foes Roman wäre Neil Armstrong nicht

weniger erschrocken, wenn er im Mond- sand menschliche Fussstapfen entdeckt hätte. Die Astronauten der Apollo-11- Mission betreten am 20. Juli 1969 als ers- te Menschen die Mondoberfläche – das Foto mit dem grob gerillten Sohlenab- druck eines Moonboots geht um die Welt.

Spuren deuten stets auf Vergange- nes. Die frische Fährte einer Gazelle an

der Tränke oder das versteinerte Tritt- siegel einer T-Rex-Pranke sind Hinweis (und Nachweis), dass diese Tiere leib- haftig hier waren. Die materielle Ein- druckspur entsteht durch direkten kör- perlichen Kontakt, aber die so erzeugte Hohlform verweist auf etwas Abwesen- des. «Die Spur zeigt etwas an, was zum Zeitpunkt des Spurenlesens irreversibel

Spuren gehören zu den geheimnisvollsten Hinterlassen- schaften der Menschheit. Eine Zeitreise von den Anfängen der Spurenjagd im alten England bis zur spektakulären Tatortermittlung in Hollywoods Serien-Fabrik. |

Daniel Ammann

Fussspuren, Fingerabdruck und moderne Forensik

Stumme Zeugen

Foto: flickr/dynamosquito

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phIakzente 4/2011 9 vergangen ist», hält die Philosophin Sy-

bille Krämer in ihrer erhellenden Einlei- tung zum Buch Spur fest (Suhrkamp 2007). Darüber hinaus zeichnen sich Spuren (im engeren Sinn) durch Unmo- tiviertheit aus: Sie entstehen beiläufig und ohne Absicht.

Genau dies macht sie bei polizeili- chen Ermittlungen zu wichtigen stum-

men Zeugen. Lassen Schmauchspuren und Blutspritzer ein Verbrechen vermu- ten, müssen Fingerabdrücke, Schuhspu- ren, Körpersekrete oder Textilfasern als mögliche Sachbeweise gesichert wer- den. Die spurenträchtige Zone wird grossflächig abgesperrt, und zutrittsbe- rechtigte Personen dürfen den Tatort nur über markierte Trampelpfade betre- ten. Mitarbeitende des Erkennungs- dienstes tragen Schutzkleidung, Schuh- überzüge und Latex-Handschuhe, um den Tatort keinesfalls durch Trugspuren zu kontaminieren.

Kalte und heisse Spuren

Etwas bleibt immer hängen. Selbst das Verwischen einer Spur hinterlässt Spu- ren. Haarschuppen, Schmauchpartikel, Lacksplitter und andere Mikrospuren werden unter dem Rasterelektronen- Mikroskop analysiert, und unsichtbare Blutspuren kommen durch den Wirk- stoff Luminol leuchtend zum Vorschein.

Dank hochmoderner Untersuchungsme- thoden können sogar ungelöste Krimi- nalfälle – wie in der US-Kriminalserie Cold Case – neu aufgerollt und nach Jah- ren vielleicht endlich aufgeklärt wer- den, sofern die Beweismittel noch in einer Asservatenkammer verwahrt sind.

«War ‹Jack the Ripper› eine Frau?», fragte der englische Independent 2006 in einem Artikel über den berühmtes- ten Serienkiller aller Zeiten. Im Herbst 1888 hatten seine grausamen Morde im Londoner East End Angst und Schrecken verbreitet. Der damalige Polizeichirurg von Scotland Yard, Thomas Bond, er- stellte bereits ein Täterprofil und ging damit als einer der ersten Profiler in die Geschichte ein. In einer Reihe von Brie- fen und Postkarten verhöhnte der Mör- der sogar die Polizei, aber auch deren Veröffentlichung brachte keine brauch- baren Hinweise aus der Bevölkerung.

Unzählige Spurenleser und Hobbydetek- tive haben sich seither an dem rätsel- haften Fall versucht. Über hundert Jah- re später konnten nun australische For- scher unter einer Briefmarke Zellen der Mundschleimhaut sicherstellen. Laut DNA-Analyse könnte die Spucke von ei- ner Frau stammen, aber die Spekulatio- nen über die wahre Identität des Rip- pers gehen weiter.

Die bahnbrechenden Entwicklungen in der Forensik haben auch dazu beige- tragen, Justizirrtümer aufzudecken und

unschuldig Verurteilten doch noch zu ihrem Recht zu verhelfen. Die 1992 in den USA gegründete Organisation «The Innocent Project» unterstützt Inhaftier- te in dieser Aufgabe und hat mittels DNA-Analysen über 270 Verurteilte von ihrer Schuld entlastet.

Medienspuren: der CSI­Effekt

Fernsehkrimis im Stil von CSI oder Cros- sing Jordan und kriminologische Doku- Reihen wie Autopsie oder Medical De- tectives haben forensische Arbeitsme- thoden weithin populär gemacht. Trotz Hightech und wissenschaftlichen Ver- fahren kann die reale Verbrechensauf- klärung kaum mit der Erfolgsrate be- liebter Serienformate mithalten. CSI- Teams im Fernsehen lösen die kniffligs- ten Fälle im Stundentakt. Fingerabdrü- cke werden sekundenschnell abgegli- chen, und kaum ist die Gewebeprobe im Labor, spuckt der Drucker das toxi- kologische Gutachten oder die Resultate der DNA-Analyse aus. Kino und Fernse- hen haben das Ansehen der Gerichts- medizin erheblich aufgewertet und zei- gen vermehrt auch Frauen in MINT-Be- rufen (Mathematik, Informatik, Natur- wissenschaft, Technologie). Mit diesem positiven «CSI-Effekt» beschäftigt sich die Initiative «MINT und Chancengleich- heit in fiktionalen Fernsehformaten» an der TU Berlin. Verschiedene Studien un- tersuchen die Bedeutung von Unterhal- tungsprogrammen für die Berufsorien- tierung Jugendlicher und nehmen weibliche Rollenvorbilder in Science- Berufen unter die Lupe.

Anwälte, Gerichte und Polizeibehör- den bekommen eher die negativen Sei- ten des CSI-Effekts zu spüren. Sie haben mit unrealistischen Vorstellungen und überhöhten Erwartungen zu kämpfen.

In Wirklichkeit ist die kriminaltechni- sche Spurenauswertung zeitaufwendig, kostspielig und fehleranfällig. Nicht al- len Ermittlern steht das ganze Spektrum modernster Technologie zur Verfügung.

Untersuchungsberichte können Wochen oder Monate auf sich warten lassen, und die Befunde fallen nicht immer eindeutig aus. Nicht einmal der Finger- abdruck gilt als unfehlbar.

Blutige Daumenabdrücke

Die Papillarlinien auf den Fingerkuppen bilden unverwechselbare Rillenmuster aus Bögen, Schlaufen und Wirbeln. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts begann das Der berühmteste Spurenjäger:

Sherlock-Holmes-Statue an der Baker Street in London.

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Spektrum | Spuren

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Interesse an diesem einzigartigen Phä- nomen stetig zu wachsen. Ein geeigne- tes Verfahren zur Erfassung und Klassi- fizierung von Fingerabdrücken musste jedoch erst entwickelt werden, um die- se systematisch auswerten und zur Per- sonenidentifizierung verwenden zu können.

Das erste Gerichtsurteil aufgrund ei- ner Fingerspur wurde 1892 in Argenti- nien gefällt: Ein blutiger Daumenab- druck lieferte den Beweis, dass eine Mutter ihre beiden Kinder ermordet hat- te, und nicht der von ihr bezichtigte Landarbeiter. 1901 gründet die New Scotland Yard als erste Polizeibehörde eine auf Fingerabdrücke spezialisierte Abteilung. Heute sind biometrische Da- ten in der Strafverfolgung und als Iden- titätsnachweis eine Selbstverständlich- keit. Fingerabdrücke werden elektro- nisch eingescannt und in riesigen Da- tenbanken gespeichert. Auch auf dem neuen Schweizer Pass 10 sind die Fin- gerabdrücke in einem Chip gespeichert.

Hin und wieder nimmt die Literatur die Wirklichkeit vorweg. Noch häufiger trägt sie dazu bei, neue Ideen oder Technologien überhaupt bekannt zu machen. In Friedrich Glausers Wacht- meister-Studer-Romanen, die in den frühen 1930er-Jahren spielen, figurie- ren Fingerabdrücke immer wieder an prominenter Stelle. In Schlumpf Erwin Mord träumt der Berner Kommissär von einem verlorengegangenen Daumenab- druck, und in der Fieberkurve sucht er einen Bekannten auf, «der statt Brief-

marken Fingerabdrücke sammelte», da- runter ein Daumenabdruck aus dem Jahr 1903, «eine Rarität, die erste in der Schweiz verfertigte Photographie eines Fingerabdrucks». Aber bereits in Mark Twains autobiografischer Erzählung Le- ben auf dem Mississippi aus dem Jahr 1883 wird ein Mörder aufgrund eines

blutigen Daumenabdrucks überführt.

Das Motiv taucht zehn Jahre später noch einmal in Twains Roman Knallkopf Wil- son auf, dessen skurriler Held die Fin- gerabdrücke aller Stadtbewohner sam- melt: «Er bat die Leute, sich mit den Händen durchs Haar zu fahren (damit sich auf diese Art eine dünne natürli- che Fettschicht auf den Fingern bildete) und dann auf ein Glasplättchen einen Daumenabdruck zu setzen, gefolgt von den Abdrücken der anderen Fingerbee- ren.»

Sherlock Holmes’ Auftritt

1887 betritt Conan Doyles Figur Sherlock Holmes die literarische Bühne. Viel- leicht hätte Jack the Ripper im Folgejahr gefasst werden können, wenn sich Scot- land Yard der kriminalistischen Metho- de des Meisterdetektivs bedient hätte.

Holmes achtet auf jedes noch so belang- lose Detail, sammelt Indizien und re- konstruiert vor dem Hintergrund seines immensen Wissens den Tathergang. In der 1903 erschienenen Geschichte «Der Baumeister aus Norwood» entlarvt er gar eine fingierte Spur und rettet einen Unschuldigen vor dem Galgen: Der blu- tige Daumenabdruck auf der weissge- Ausschnitt aus dem Titelblatt der 1892 erschienenen Abhandlung «Finger Prints»

des britischen Anthropologen Sir Francis Galton.

Edwin «Buzz» Aldrins berühmter Fussabdruck bei der Erstlandung auf dem Mond.

Foto: Nasa

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phIakzente 4/2011 11 tünchten Wand stammt nicht vom Ver-

dächtigen selbst, sondern wurde vom vermeintlichen Mordopfer mittels Wachs- abdruck dort angebracht.

Mit Lupe und Logik verkörpert Hol- mes bereits den modernen Ermittler.

Für seine herausragende Pionierarbeit auf dem Gebiet der Forensik hat die Ro- yal Society of Chemistry dem fiktiven Helden 2002 den Titel «Honorary Fel- low» verliehen. Der «Consulting Detecti- ve» hat im 21. Jahrhundert nichts von seiner Faszination eingebüsst, wie die actionreichen Kino-Adaptionen mit Ro- bert Downey Jr. und Jude Law zeigen (2009 und 2011).

Für den TV-Mehrteiler Sherlock hat die BBC die Abenteuer von Holmes und seinem Chronisten sogar in die Gegen- wart transponiert. Auf seiner Website erläutert Holmes die Wissenschaft der Deduktion (www.thescienceofdeduction.

co.uk) und Watson berichtet in seinem Blog über die gelösten Fälle (www.

johnwatsonblog.co.uk). Auch der histo- rischen Kunstfigur wird neues Leben eingehaucht: Anfang November ist der brandneue Sherlock-Holmes-Roman The House of Silk erschienen, verfasst vom britischen Autor Anthony Horowitz im Auftrag des Conan Doyle Estate.

Verräterische Details

Wenn Eigenschaften ein unverkennba- res Muster bilden, wird auch im über- tragenen Sinn von einem «Fingerab- druck» gesprochen. Für professionelle Profiler sind typische Verhaltensmerk- male oder unscheinbare Angewohnhei- ten deshalb ebenso aufschlussreich wie Indizien am Tatort. In seinem Aufsatz

«Spurensicherung» über Morelli, Holmes und Freud zeigt Carlo Ginzburg, dass sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Humanwissenschaften ein er- kenntnistheoretisches Modell durch- setzte, das unser Denken und Forschen bis heute prägt.

Bereits der Kunstkenner Giovanni Morelli erkannte die informative Bedeu- tung von Nebensächlichkeiten. In einer Reihe von kritischen Aufsätzen legte er ab 1874 eine völlig neue Methode zur Identifizierung italienischer Meister vor und wirbelte gehörig Staub auf. Morelli richtet sein Augenmerk auf Unarten im Malstil und spürt charakteristische Züge in unscheinbaren Details auf: in der Darstellung der Hand, des Fusses, des Ohres, in einer klobigen Daumenspitze

Buchhinweise

Sybille Krämer, Werner Kogge und Gernot Grube (Hrsg.): Spur: Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst.

Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2007. 366 S.

John D. Wright: Dem Tä- ter auf der Spur. Forensik – DNA-Analyse – Krimi- naltechnik. Moderne We- ge zur Verbrechensauf- klärung. Köln: Parragon Verlag, 2009. 256 S.

Carlo Ginzburg: Spurensi- cherung: Die Wissen- schaft auf der Suche nach sich selbst. Aus dem Ita- lienischen von Gisela Bonz und Karl F. Hauber.

Berlin: Verlag Klaus Wa- genbach, 2011. 173 S.

Raimund H. Drommel:

Der Code des Bösen: Die spektakulärsten Fälle des Sprachprofilers. Mün- chen: Wilhelm Heyne, 2011. 301 S.

Fahndung nach Jack the Ripper: Plakat aus dem Jahr 1888.

oder der Stellung der Beine. «Nur die scharfe Beobachtung der dem Meister eigenthümlichen Formen des menschli- chen Körpers kann zu einem angemes- senen Resultate führen.»

Der moderne Sprachprofiler Raimund H. Drommel geht ähnlich vor, wenn er in vermeintlichen Bekennerschreiben, diktierten Geständnissen, gefälschten Abschiedsbriefen oder anonymen Dro- hungen per E-Mail nach dem «sprachli- chen Fingerabdruck» fahndet: «Jeder Mensch bedient sich einer ganz eigenen Sprache; sie ist beinah so unverwech- selbar wie unsere DNS. Liegen adäquate Sprachproben vor, kann sie fast ebenso wie diese zweifelsfrei zugeordnet wer- den.» Mit stilometrischen Untersuchun- gen, Textabgleichen und computerge- stützten Konkordanzanalysen spürt der Sprachforensiker jene unscheinbaren Eigenheiten auf, die den «nicht über- wachten Individualstil» verraten. «Im- mer wenn wir etwas sagen oder schrei- ben, hinterlassen wir sprachliche Spu- ren.»

Selbst nach Hunderten von Jahren kann über die Autorschaft von Gemäl- den oder Texten spekuliert werden. Der englische Pfarrer und Ornithologe Ed- ward A. Armstrong machte 1946 auf assoziative Wortfelder bei Shakespeare aufmerksam. Die Zürcher Anglistin Bar- bara Sträuli konnte anhand weiterer Indizien sogar zeigen, dass sich solche Cluster als hintergründige Spur durch Shakespeares Werke ziehen und ihnen

für immer seinen linguistischen Stem- pel aufdrücken.

Fussspuren bleiben nicht so lange erhalten. Als Robinson nach sechs Ta- gen an den Strand zurückkehrt, ist der Abdruck im Sand zwar noch vorhan- den, aber bei starkem Wind würde ihn die erste Brandungswelle bestimmt auslöschen. Anders verhielte es sich auf dem Mond. Wie jüngste Aufnahmen ei- ner Raumsonde zeigen, sind Fuss- und Reifenspuren verschiedener Apollo- Landungen noch heute aus 25 Kilome- tern Höhe deutlich zu erkennen. Neil Armstrongs und «Buzz» Aldrins Stiefel- abdrücke dürften die Menschheit über- dauern: «The first footprints on the Moon will be there for a million years», notiert die NASA auf ihrer Website.

«There is no wind to blow them away.»

Daniel Ammann, Redaktion ph|akzente

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