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Archiv "Kognitive Störungen nach traumatischer Distorsion der Halswirbelsäule?" (15.10.1999)

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ehrere Monate nach einer traumatischen HWS-Distor- sion, also im Spätstadium, klagen manche Verletzte über andau- ernde lokale und allgemeine Be- schwerden. In der folgenden Über- sicht soll ein Aspekt dieser Beschwer- den besprochen werden, der in der jüngeren Zeit lebhaft und kontrovers diskutiert wird. Eingebettet in ein

„neurasthenisches“ Syndrom aus Ta- gesmüdigkeit, Schlafstörung, Angst, Geräuschempfindlichkeit, Reizbar- keit und verminderter Belastbarkeit wird an kognitiven Symptomen vor allem eine Verminderung der Kon- zentration und Merkfähigkeit beklagt (6). Die angesprochene Symptomatik wird von manchen Ärzten und Juri- sten als charakteristische Folge ei- ner traumatischen HWS-Distorsion an- gesehen.

Tatsächlich ist dieser beim einzel- nen Individuum mehr oder weniger vollständig ausgeprägte Symptomen- komplex nicht für diese – und über- haupt nicht für irgendeine – Ätiologie charakteristisch, geschweige denn

spezifisch. Gleichartige Beschwerden und Leistungsminderungen gehören zum Beschwerdebild des sogenannten Sick-building-Syndroms, der idiopa- thischen, umweltbezogenen Unver- träglichkeit (früher: multiple chemi- cal sensitivity), des Fibromyalgiesyn- droms, des chronischen Erschöp- fungs- oder Müdigkeitssyndroms und der chronischen täglichen Kopf- schmerzen. Sie werden auch von vie- len Patienten in der Rekonvaleszenz nach schweren Krankheiten, von manchen Personen nach „minimalem Hirntrauma“ (eine zweifelhafte Dia- gnose, die weiter unten angesprochen werden wird) und schließlich auch oh- ne greifbare Vorerkrankung bei sub- jektiver oder objektiver Überlastung beklagt (15, 28). Daraus folgt, daß die- ser Beschwerde- und Symptomen- komplex uncharakteristisch ist. Die weitere Erörterung wird sich auf ko- gnitive Leistungsstörungen beschrän- ken. Dabei sind zwei Fragen zu beant- worten:

c Welcher Mechanismus kann der Entstehung kognitiver Störungen

nach Distorsion der Halswirbelsäule zugrunde liegen?

c Durch welche Untersuchungs- methoden lassen sich kognitive Stö- rungen nach HWS-Distorsion nach- weisen oder zumindest wahrscheinlich machen?

Postulierte

Schädigungsmechanismen

Vaskuläre Hypothese

Diese Hypothese führt Störun- gen der Konzentration und Merk- fähigkeit, wie übrigens auch andere Beschwerden und Symptome, auf Stö- rungen in der Durchblutung von Strukturen im hinteren Hirnkreislauf, das heißt im Versorgungsgebiet der Aa. vertebralis und basilaris zurück.

Die Durchblutungsstörungen sollen durch eine unterstellte Hyperflexion der oberen HWS zustandekommen.

Diese Hypothese geht aber von falschen anatomischen und physiolo- gischen Voraussetzungen aus. !

Kognitive Störungen nach

traumatischer Distorsion der Halswirbelsäule?

Klaus Poeck

Viele Personen, die durch einen Auffahrunfall eine HWS- Distorsion erlitten haben, klagen initial, aber auch in einem späten Stadium, sechs Monate und länger nach dem Trauma, über eine Beeinträchtigung von Aufmerksamkeit, Konzen- tration und Gedächtnisfunktionen. Die kognitiven Störungen sind eingebettet in vielfältige Störungen der Befindlichkeit.

Dieser Beschwerdekomplex wird als ein charakteristisches Syndrom der Spätfolgen nach sogenanntem Schleudertrau- ma aufgefaßt. Zur Entstehung des Syndroms werden alterna- tiv traumatisch, durch Hyperextension der HWS ausgelöste Durchblutungsstörungen im vertebro-basilären Stromgebiet

oder eine begleitende sogenannte mini- male traumatische Hirnschädigung

angeführt, die sich allerdings dem Nachweis durch bildgeben- de Verfahren entzieht. Neuropsychologische Testuntersu- chungen können, für sich genommen, eine organische Hirn- schädigung nicht belegen. SPECT- und PET-Untersuchun- gen können weder als Gruppendaten noch im Einzelfall eine organische Hirnschädigung wahrscheinlich machen.

Schlüsselwörter: HWS-Distorsion, kognitive Störung, pathophysiologische Hypothese, neuropsychologischer Test, SPECT- und PET-Untersuchung

ZUSAMMENFASSUNG

Cognitive Disturbances Following So-Called Whiplash Injury

In early or late stages of „whiplash injury“ to the cervical spine some patients complain of reduced alertness, concen- tration and memory functions. Together with various other subjective impairments these are termed the “late whiplash syndrome”. Alledged mechanisms include ischaemic lesions or minimal traumatic brain damage to the brain

stem and basal temporal lobes. CT- and MRI- imaging are not diagnostic. Neither neuropsycho-

logical testing nor SPECT- or PET-studies are suited to unequivocally demonstrate the organic nature of the com- plaints.

Key words: „Whiplash injury“, cognitive impairment, alleged mechanism, neuropsychological testing, SPECT- and/or PET-study

SUMMARY

M

(2)

Anatomie der

Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstrukturen

Die Aufmerksamkeitszuwen- dung wird in einem Kontrollsystem organisiert, das ausgedehnte kortiko- subkortikale Strukturen einbezieht, die zum größeren Teil im Versor- gungsgebiet des vorderen (Arteria ca- rotis interna) und nicht des hinteren, vertebrobasilären Stromgebietes lie- gen (4).

Gedächtnisfunktionen werden seit längerer Zeit in inhaltlichen Ka- tegorien beschrieben und untersucht, die weit differenzierter sind als die herkömmliche, lediglich zeitliche Dimension (Kurzzeit/Langzeit). Im Zentrum der Gedächtnisfunktionen steht das mediale Temporallappensy- stem, welches reziproke neuronale Verbindungen zum Assoziationskor- tex, zum limbischen und sensomotori- schen Kortex und zu den Basalgangli- en hat, zu Strukturen also, die zum Versorgungsbereich des vorderen Hirnkreislaufes gehören. Die Schlüs- selstruktur für den Abruf von Ge- dächtnisinhalten ist der Hippocam- pus (5). Der rückwärtige Hippocam- pus liegt im Versorgungsgebiet des hinteren Hirnkreislaufs, speziell der A. communicans posterior und der A.

chorioidea posterior. Der vordere und mittlere Hippocampus wird von der A. chorioidea anterior aus der A. ca- rotis interna, also aus dem vorderen Hirnkreislauf versorgt.

Physiologische Gegenargumente

Auch physiologisch ist die vas- kuläre Hypothese unplausibel. Neue- re kinematographische Bewegungs- analysen haben gezeigt, daß es nach einer Heckkollision nicht, wie früher irrtümlich angenommen, zu einer Hy- perextension des Nackens kommt, die von einer Hyperflexion gefolgt ist. Ein Schleudermechanismus oder „whi- plash“ = Peitschenschlagmechanis- mus, der selbst in einer kürzlich im Deutschen Ärzteblatt veröffentlich- ten Übersicht (16) noch unterstellt wurde, tritt tatsächlich nicht ein, son- dern, selbst bei nicht optimaler Geo- metrie von Rückenlehne und Nacken- stütze, lediglich eine rückwärtsgerich-

tete Translation des Kopfes gegen den Rumpf von etwa 35 Grad, gefolgt von einer energiearmen, nicht schädi- gungsträchtigen Phase der Vorwärts- beugung. Der wichtigste Unfallme- chanismus ist eine axiale Stauchung der HWS, die als Harmonikaeffekt beschrieben wurde. Die gesamte Crashphase dauert nur eine zehntel Sekunde (23). Unfallmechanisch sind die Voraussetzungen für eine „Ab- klemmung“ der Vertebralarterien al- so nicht gegeben.

Ferner läge die – hier einmal ge- gen die Plausibilität unterstellte – Dauer einer Unterbrechung der Blut- versorgung im hinteren Hirnkreislauf extrem weit unter der Ischämietole- ranz des Gehirngewebes: Vollständige Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr führt nach einem freien Intervall von zirka vier Sekunden über etwa acht Sekunden zu einer Funktionsein- schränkung, nach acht bis zwölf Se- kunden zu einer Lähmung der Funk- tionen. Nach plötzlicher Gewebsan- oxie, die aber bei den genannten Zeit- abläufen nicht gegeben sein kann, ist eine erfolgreiche Wiederbelebung des Gehirns etwa bis zur achten oder zehnten Minute möglich (12).

Zudem übersieht die vaskuläre Hypothese die Verteiler- und Aus- gleichsfunktion des Circulus arterio- sus Willisii, die eine Minderdurchblu- tung in einem Stromgebiet ausglei- chen würde, wenn der zeitliche Ab- lauf dies notwendig machte. In ei- ner dopplersonographischen Untersu- chung trat bei Reklination und maxi- maler Seitwärtsdrehung des Kopfes bei einigen Versuchspersonen zwar eine Drosselung bis Unterbrechung der Durchströmung in der ipsilatera- len Vertebralarterie in der Knochen- rinne des Atlas ein. Gleichzeitig kam es zu einer Erhöhung der Perfusion im rostralen Abschnitt der gegensei- tigen Vertebralarterie (32). Die Vor- aussetzungen für eine Minderdurch- strömung der A. basilaris und damit Minderdurchblutung im hinteren Hirnkreislauf waren also nicht gege- ben. Ipsilaterale Strömungsbehinde- rung wurde vor allem bei jünge- ren Personen beobachtet. Dies wur- de auf die größere Resistenz verhärte- ter Arterien älterer Personen gegen mechanische Einwirkung zurückge- führt.

Dissektionen als sehr seltene Komplikation

In ganz seltenen Fällen kann es zu einer mechanischen Wandverlet- zung an einer hirnversorgenden Arte- rie kommen. Dies führt zu einer Dis- sektion, in deren Folge ein emboli- scher Hirninfarkt auftreten kann. Das ist aber ein plötzliches Ereignis, ver- gleichbar einem embolischen Schlag- anfall aus anderer Ätiologie. Die Fol- gen einer solchen arterio-arteriellen Embolie können nicht mit dem hier erörterten chronischen Beschwerde- syndrom verwechselt werden.

Minimale traumatische Hirnschädigung

Die Hypothese einer begleiten- den minimalen traumatischen Hirn- schädigung als Ursache kognitiver Lei- stungsmängel nach HWS-Distorsion ohne Kopfanprall ist unplausibel. Sie wird weiter unten im Zusammenhang mit SPECT- und PET-Untersuchun- gen dennoch besprochen. Neurale Me- chanismen werden von manchen Au- toren sehr spekulativ zur Erklärung von Schmerzen und anderen Befind- lichkeitsstörungen herangezogen, die aber nicht Thema dieser Arbeit sind.

Untersuchungsverfahren

Versucht man, kognitive Be- schwerden, die nach einer traumati- schen HWS-Distorsion beklagt wer- den, zu objektivieren, so stehen zu- nächst zwei einfache Verfahren zur Verfügung: Anamnese und neuropsy- chologische Testuntersuchung. In der jüngeren Zeit werden ferner, besonders bei Meinungsverschiedenheiten über die Plausibilität von Beschwerden oder die Ätiologie von auffälligen Ergebnis- sen in psychologischen Leistungstests, technische Untersuchungsverfahren herangezogen: bildgebende Verfahren und Durchblutungs- und Stoffwechsel- untersuchungen des Gehirns.

Anamnese

Zur Anamnese ist bereits oben gesagt worden, daß die beklagten Be- schwerden nach einer Vielzahl von äußeren Ereignissen auftreten kön-

M E D I Z I N DIE ÜBERSICHT

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nen und deshalb uncharakteristisch sind. Den oben genannten, sehr unter- schiedlichen Konstellationen muß noch eine weitere hinzugefügt wer- den, und zwar Depressivität mit und ohne erkennbaren Anlaß.

Posttraumatische Belastungsstörung

Im Zusammenhang mit einem Unfall werden gelegentlich psychiatri- sche Diagnosen gestellt, die einen Un- fallzusammenhang stützen sollen. Die sogenannte posttraumatische Bela- stungsstörung wird nach den diagnosti- schen Kriterien des Diagnostic and Statistical Manual III R dann ange- nommen, wenn eine psychische Sym- ptomatik nach einem Ereignis eintritt, das außerhalb der üblichen Erfahrung liegt und für fast jeden stark belastend wäre. Als Beispiele werden genannt:

ernsthafte Bedrohung des eigenen Le- bens, der körperlichen Integrität oder Schädigung eigener Kinder, des Ehe- partners oder naher Verwandter und Freunde, plötzliche Zerstörung des Zuhauses, Mitansehen wie eine andere Person infolge eines Unfalls bezie- hungsweise körperlicher Gewalt vor kurzem oder gerade ernsthaft verletzt wurde oder starb.

Hier soll auf die psychiatrische Diagnostik, die sich überwiegend auf die Schilderung des/der Untersuchten stützen muß, nicht im einzelnen ein- gegangen werden. Die beschriebenen Voraussetzungen für die Diagnose ei- ner posttraumatischen Belastungsstö- rung sind bei einem Auffahrunfall nicht gegeben. Interessanterweise wer- den hartnäckige Beschwerden gerade nach leichten Beschleunigungsverlet- zungen beklagt.

Neuropsychologische Testuntersuchungen

Differenzierte Testuntersuchun- gen haben bei Personen, die nach ei- ner HWS-Distorsion über Einbußen der kognitiven Leistungsfähigkeit kla- gen, nur selten Auffälligkeiten gezeigt.

Bei einer kleinen Untergruppe von Betroffenen sind im akuten Stadium (8) und in zeitlichem Abstand davon Einschränkungen in einigen Tests be- schrieben worden, welche Aufmerk- samkeit, Konzentration und Merkfä-

higkeit überprüfen. Andere Tests, die ähnliche Funktionen überprüfen, er- gaben keine Minderleistungen.

In einer viel zitierten Untersu- chung (18) waren die kognitiven Min- derleistungen positiv korreliert mit Klagen über Ermüdbarkeit, Depressi- vität und Kopfschmerzen. Depressi- vität und Schmerzen können, wie be- kannt, generell die Leistungsfähigkeit von Probanden in psychologischen Tests beeinträchtigen. Dies muß bei der Bewertung der erwähnten Un- tersuchungsergebnisse berücksichtigt werden.

Die genannten Autoren haben ihre Ergebnisse sehr spekulativ inter- pretiert. Sie bezogen sich auf Tierver- suche, in denen nach Einwirkung ei- nes Schleudermechanismus im obe- ren Hirnstamm und im Frontal- und Temporallappen eine diffuse axonale Schädigung gefunden worden war (9), die als charakteristischer Befund ei- ner traumatischen Hirnschädigung gilt (1).

Diese Versuche sind aber mit der natürlichen Situation, die einen wa- chen Menschen bei HWS-Distorsion trifft, nicht vergleichbar. Die Tiere waren anästhesiert, ihre Hals- und Nackenmuskeln waren also erschlafft.

Auch ist bei ihnen die Geometrie von Schädel und Gehirn und von Schädel zur HWS anders als beim Menschen.

Die Tatsache, daß beim Men- schen Strukturen im basalen Frontal- hirn und im oberen Hirnstamm phy- siologischerweise an Aufmerksam- keitsfunktionen beteiligt sind, berech- tigt nicht zu dem Umkehrschluß, daß auffällige Testergebnisse eine Funkti- onsstörung in den genannten Struktu- ren (englisch sogar als “organic brain damage” bezeichnet) anzeigen oder nahelegen. Vorsichtige Formulierun- gen wie „support the hypothesis“ oder

„suggest possible damage“ bieten sich leicht dazu an, daß Spekulationen über möglicherweise beteiligte Hirn- mechanismen als Nachweis einer Hirn- schädigung angesehen und zitiert wer- den.

Aus der Forschung über die Fol- gen von Hirntraumen (20, 21), die bei HWS-Distorsion ohne stichhaltige Begründung unterstellt werden, ist bekannt, daß nach einem Trauma oh- ne Bewußtseinsverlust und mit einer Amnesie unter 15 Minuten leichte ko-

gnitive Störungen auftreten können, die manchmal einige Tage, nicht aber Wochen und Monate anhalten (3).

Auch aus diesen Befunden ergibt sich, selbst wenn man sie auf unser Thema überträgt, kein Argument für unfall- bedingte kognitive Leistungsstörun- gen im Spätstadium nach HWS-Dis- torsion.

Können psychologische Test- untersuchungen eine organi- sche Hirnschädigung belegen?

Generell sind die Ergebnisse psy- chologischer Testuntersuchungen, für sich allein genommen, nicht geeignet, eine Differenzierung zwischen orga- nisch oder funktionell bedingter Lei- stungseinbuße zu treffen oder gar eine organische Hirnschädigung nachzu- weisen (13). Zudem ist es sehr schwie- rig, nach solchen Testuntersuchungen zu entscheiden, ob ein Proband eine Leistung nicht besser erbringen konn- te oder sie lediglich nicht besser er- bracht hat, aus welchen Gründen auch immer. Im Einzelfall sind diese Grün- de schwer zu erkennen. Auf der Suche nach prämorbiden Persönlichkeitszü- gen oder Verhaltensweisen, die psy- chogen bedingte Minderleistungen in Tests auf kognitive Funktionen be- günstigen können, blieben Gruppen- untersuchungen unergiebig (17). Es ist aber auch eine grobe Vereinfa- chung zu fordern, daß jemand schon prämorbid erkennbar psychisch auf- fällig war, der unter dem Einfluß von Schmerzen oder in einer gutachterli- chen Untersuchung in psychologi- schen Leistungstests nicht das Opti- mum seiner Leistung erbringt.

Aus der Literatur ergeben sich Hinweise, die als Gruppendaten Analogieschlüsse zum Thema psycho- gene Minderleistungen erlauben.

„Psychogen“ soll hier nicht mit Simu- lation gleichgesetzt werden. In Litau- en, wo keine Unfallhaftpflichtversi- cherung besteht, hat man keinen Un- terschied in den hier besprochenen Beschwerden zwischen einer Gruppe von Personen nach Heckkollision und einer Kontrollgruppe gefunden (34).

Über derartige Beschwerden in der Durchschnittsbevölkerung siehe auch die dort angegebene Literatur. Eine Gruppe in den Niederlanden hat Pati- enten, die im chronischen Stadium

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nach HWS-Distorsion über eine Be- einträchtigung von Merkfähigkeit und Konzentration klagten, im Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe mit dem Amsterdam Short Term Memory Test untersucht. Dieser Test ist so kon- struiert, daß er Aggravation, was wie- derum nicht mit Simulation gleichge- setzt werden darf, bei der Prüfung der Merkfähigkeit erfaßt. Die Autoren fanden, daß eine signifikante Unter- gruppe von Personen nach HWS-Di- storsion unter ihrem tatsächlichen Lei- stungsniveau arbeitete. Solche Min- derleistungen waren zweimal so häufig bei „Anspruchstellern“ wie bei „Nicht- anspruchstellern“ (33). Ein wichtiger Faktor, der Beschwerden und Minder- leistungen begünstigen kann, sind Äußerungen aus dem persönlichen Umfeld des Patienten, einschließlich der behandelnden Ärzte, daß nach ei- nem „Schleudertrauma“ mit Störun- gen von Merkfähigkeit und Konzen- tration gerechnet werden müsse (19, 24, 29, 30, 31).

Eine sehr ausführliche Litera- turübersicht (17) listet mehrere hypo- thetische Mechanismen auf, die zur Begründung von kognitiven Störun- gen nach HWS-Distorsion ohne Kopfkontakt erwogen wurden. Diese sind aber bisher „noch nicht suffizient belegt“.

Bildgebende Verfahren, Durchblutungs- und

Stoffwechseluntersuchungen In fast allen Fällen von hartnäcki- gen Symptomen nach HWS-Dis- torsion bleiben bildgebende Verfah- ren, wie CT oder MRT ohne patholo- gischen Befund. Auf der Suche nach verfeinerten und, wie unterstellt wird, objektiven Methoden zum Nachweis einer (organischen oder funktionel- len?) Hirnschädigung werden zwei nuklearmedizinische Verfahren ange- wendet und in zunehmendem Maße bei juristischen Streitfällen angefor- dert. Die Single-Photon-Emissions- Tomographie (SPECT) registriert die Durchblutung und die Positronen- Emissions-Tomographie (PET) in ih- rer Standardversion den Glukose- stoffwechsel in umschriebenen Hirn- regionen.

In mehreren Publikationen sind abnorme SPECT-Befunde wenige Ta-

ge nach „minimaler traumatischer Hirnschädigung“ und nach HWS- Distorsion (25, 26, 27) beschrieben worden. Wie lange diese bestehen bleiben und ob sie sich jemals wieder normalisieren, ist nicht bekannt. Man weiß aber, daß derartige Veränderun- gen im SPECT auch bei Unfallpatien- ten fortbestehen können, deren Funk- tionsstörungen sich vollständig zu- rückgebildet haben (14).

Mit beiden nuklearmedizinischen Methoden hat man (25, 26, 27) bei Pa- tienten mit hartnäckigen kognitiven Symptomen nach HWS-Distorsion ei- ne verminderte Aufnahme der Isotope in parieto-temporo-okzipitalen Hirn- regionen gefunden. In den oben zitier- ten Tierexperimenten fand man jedoch die diffuse axonale Schädigung, das Hauptmerkmal einer traumatischen Hirnschädigung in anderen, und zwar in fronto-temporalen Hirnregionen und im oberen Hirnstamm. Die nukle- armedizinischen Befunde können also nicht als Hinweis auf eine Hirnschädi- gung anläßlich einer HWS-Distorsion gewertet werden.

Neue Untersuchungen

Bicik und Mitarbeiter (3) haben bei 13 Patienten mit andauernden kognitiven Beschwerden drei bildge- bende Verfahren angewendet: MRT (Hirnstruktur), SPECT (regionale Hirndurchblutung) und PET (regio- nale Glukoseaufnahme). Bei 16 Kon- trollpersonen konnte aus ethischen Gründen nur die Durchblutungsmes- sung (SPECT) erfolgen. Ihre Ergeb- nisse sind aber mit denen von Unter- suchungen des Glukosestoffwechsels (PET) hoch positiv korreliert. Eine Minderperfusion wurde bei Patienten mit kognitiven Leistungsstörungen in erster Linie in frontalen und vorderen temporalen Hirnregionen gefunden.

Gleichartige Befunde werden aber auch bei depressiven Patienten ohne Verdacht auf Hirnschädigung erho- ben (7, 10).

Depressive Patienten ohne Trau- ma in der Anamnese beklagen ähnli- che Störungen von Befindlichkeit und kognitiver Leistungsfähigkeit wie Patienten mit leichter (anglo- amerikanisch: minimaler, also fragli- cher) traumatischer Hirnschädigung, und sie zeigen in neuropsychologi-

schen Testuntersuchungen ähnliche Minderleistungen (22). Neuropsycho- logische Testuntersuchungen sind, das muß man bedenken, nicht in dem Sin- ne „objektiv“, daß ihre Ergebnisse unabhängig von der psychischen Ver- fassung/Einstellung der Probanden sind.

Zudem ist die Basisrate für auf- fällige Testergebnisse in unausge- wählten Kollektiven von Normalper- sonen und bei Anspruchstellern, die keine Hirnverletzung geltend ma- chen, hoch (11).

Faßt man die Ergebnisse der nu- klearmedizinischen Untersuchungen und ein kürzlich dazu verfaßtes Edi- torial in der Zeitschrift Neurology (2) zusammen, so ergibt sich, daß SPECT und PET für unsere Frage nur Gruppendaten liefern, aber kei- ne verläßliche Diagnose umschriebe- ner Durchblutungs- und Stoffwech- selstörungen bei einzelnen Patienten erlauben. PET-Daten korrelieren nicht mit den Ergebnissen der Un- tersuchung auf geteilte Aufmerk- samkeit und Merkfähigkeit. Die Me- thoden können deshalb nicht zur Routineuntersuchung von Personen empfohlen werden, die über kogniti- ve Störungen im Spätstadium nach HWS-Distorsion klagen (3).

Schlußfolgerungen

Kognitive Störungen, vor allem Beeinträchtigung von Merkfähigkeit und Aufmerksamkeit, über die nach HWS-Distorsion geklagt wird, kön- nen nicht auf den Schädigungsmecha- nismus des Traumas bezogen werden.

Die Vorstellungen über die biomecha- nischen Abläufe beim Pkw-Auffahr- unfall mit Heckkollision, die Anfang der fünfziger Jahre entwickelt worden waren, können heute nicht mehr gel- ten. Beim angeschnallten Fahrer oder Fahrgast auf einem Sitz mit Nacken- oder Hinterkopfstütze kommt es nach kinematographischen und polygra- phischen Untersuchungen nicht zu ei- nem Schleudermechanismus mit Überstreckung der HWS. Die veralte- ten Bezeichnungen Schleudertrauma oder „whiplash“ (= Peitschenschlag)- Trauma sind unzutreffend.

Es ist bemerkenswert, daß die Si- cherheit in der Fahrgastzelle technisch

M E D I Z I N DIE ÜBERSICHT

(5)

ständig verbessert worden ist, die Be- schwerden über die Folgen von Auf- fahrunfällen dagegen zugenommen haben. Aus dem großen Spektrum von Beschwerden beziehungsweise Lei- stungsminderungen werden immer häufiger Beeinträchtigungen von Merkfähigkeit und Aufmerksamkeit geltend gemacht. Diese werden oft da- mit begründet, daß es bei dem HWS- Trauma zu einer Hirnschädigung ge- kommen sei. Zwar bleiben CT und MRT regelmäßig ohne pathologischen Befund, aber dem wird entgegenge- halten, daß diese bildgebenden Ver- fahren mikroskopische traumatische Gewebsveränderungen nicht erfassen können. Die naheliegende Frage, wie denn mikroskopische Gewebsverän- derungen die deutlichen kognitiven Einbußen zur Folge haben könnten, wird, wenn überhaupt, mit unbewiese- nen Hypothesen über mögliche weit- gestreute axonale Schädigungen be- antwortet, durch welche weit ver- zweigte neuronale Netzwerke in ihrer Funktion beeinträchtigt werden.

Als Ursache der Hirnschädigung, die eine traumatische HWS-Distorsion begleiten soll, werden zwei Mechanis- men geltend gemacht: Durchblut- ungsstörungen im hinteren Hirnkreis- lauf mit Ischämie von Aufmerksam- keits- und Gedächtnisstrukturen oder direkte traumatische Gewebsschädi- gung. Es ist oben dargelegt worden, daß die Durchblutungs-Hypothese mit anatomischen und physiologischen Fakten nicht zu vereinbaren ist. Eine direkte traumatische Gewebsschädi- gung soll mit nuklearmedizinischen Verfahren zur Messung der regionalen Hirndurchblutung (SPECT) und zur Messung der regionalen Glukoseutili- sation (PET) erfaßt werden. Verglei- chende Untersuchungen an HWS- Traumatisierten und Kontrollpatien- ten oder -personen haben aber gezeigt, daß weder Gruppen- noch Einzelfall- daten diese Hypothese bestätigen kön- nen. Die Ergebnisse neuropsychologi- scher Testuntersuchungen schließlich lassen sich, für sich genommen, nicht für eine organische Ätiologie der Min-

derleistungen verwerten. Die Frage, ob der Untersucher eine organische Schädigung des Gehirns ausschließen könne, ist biologisch sinnlos. Die legiti- me Frage an den Untersucher kann nicht die nach dem Ausschluß, sondern nur die nach dem Nachweis oder der Wahrscheinlichkeit eines Zusammen- hanges sein. Diese Frage läßt sich für unser Thema verneinen.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1999; 96: A-2596–2601 [Heft 41]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Son- derdruck beim Verfasser und über die Inter- netseiten (unter http://www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.

Anschrift des Verfassers

Prof. Dr. med. Klaus Poeck FRCP Em. Direktor der Neurologischen Klinik der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen Pauwelsstraße 30 · 52057 Aachen

1887 beschrieb Dr. Samuel Gee das Krankheitsbild der Zöliakie als glutensensitive Enteropathie. 1966 wurde dann von Marks auf die Ähn- lichkeit zwischen Zöliakie und Derma- titis herpetiformis hingewiesen. Be- reits damals wurde betont, daß neuro- logische Störungen bei diesen Patien- ten, eine zerebellare Ataxie oder eine periphere Neuropathie, häufig anzu- treffen seien. Zwischenzeitlich wurde die Diagnostik mit dem Nachweis von Antigliadin-Antikörpern (IgG, IgA) beziehungsweise Endomysium-Anti- körpern verfeinert, wobei bei Patien- ten mit unklaren neurologischen Störungen häufig entsprechende Anti- körper nachweisbar sind, während hi- stologische Veränderungen im Dünn- darm nur in 35 Prozent bestehen. Die Autoren empfehlen deshalb bei Pati- enten mit unklaren zerebellaren oder peripheren neurologischen Ausfallser- scheinungen IgG-Antigliadin-Anti- körper zu bestimmen, die eine hohe Sensitivität für eine entsprechende

Glutensensitivität signalisieren, wäh- rend die IgG-Bestimmung für den Nachweis einer Darmerkrankung nur bedingt verwendungsfähig ist. Hier scheint die Assoziation mit dem HLA- DQ2, das bei über 90 Prozent der Pati- enten nachweisbar ist, aussagekräfti- ger zu sein. Bei Patienten mit zerebel- larer Ataxie oder unklarer peripherer

Neuropathie führt die Dünndarmbiop- sie in der Regel nicht weiter, sondern nur die Bestimmung von Gliadin-Anti- körpern, wobei beide Ausfallserschei- nungen unter einer glutenfreien Kost

reversibel sind. w

Hadjivassiliou M, Grünewald RA, Da- vies-Jones GAB: Gluten sensitivity: a many headed hydra. Heightened respon- siveness to gluten is not confined to the gut. Br Med J 1999; 318: 1710–1711.

Department of Neurology, Royal Hallam- shire Hospital, Sheffield S10 2JF, Großbri- tannien.

Neurologische Defizite häufig bei Glutenüberempfindlichkeit

Über längere Zeit galt die Hyper- urikämie als eigenständiger Risikofak- tor für das Auftreten einer koronaren Herzkrankheit (KHK). Anhand von Daten aus der amerikanischen Fra- mingham Heart Studie konnte dies je- doch eindeutig widerlegt werden. Bei einer Nachbeobachtung von insgesamt 117 376 Personen-Jahren (6 763 Teil- nehmer), bei der insgesamt 617 korona- re Ereignisse und 429 kardiovaskuläre Todesfälle zu verzeichnen waren, ließ sich weder für Männer noch für Frauen eine Abhängigkeit zu erhöhten Harn-

säurespiegeln nachweisen. Die Auto- ren folgern, daß die Hyperurikämie kein unabhängiger Risikofaktor für die KHK darstellt, sondern gehäuft mit an- deren Erkrankungen auftritt, die ihrer- seits ein erhöhtes Risiko für eine KHK

aufweisen. acc

Culleton BF et al.: Serum uric acid and risk for cardiovascular disease and death: the Framingham Heart Study. Ann Intern Med 1999; 131: 7–13.

Dr. Culleton, Division of Nephrology, University of Calgary, Foothills Hospital, 1403 29th Street, Calgary, Alberta, T2N 2T9, Kanada.

Serum-Harnsäure kein Risikofaktor für KHK

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