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Seite eins
Deutsches Ärzteblatt93,Heft 39 27 September 1996 (1)
Bonner Sparpaket(e)
Erst eins, dann zwei . . .
as vom Bundestag mit der sogennanten Kanzler- mehrheit am 13. Septem- ber verabschiedete Sparprogramm sieht drastische Kürzungen auch bei den Sozialleistungen vor. Das Sparpaket, das zum Teil bereits zum 1. Oktober dieses Jahres, zum Teil erst zum 1. Januar 1997 in Kraft tritt, wird aber kaum ausrei- chen, um die Staatsfinanzen in Ordnung zu bringen und das Sozi- alsystem dauerhaft zu konsolidie- ren.
Schon wird für den Bereich der Krankenversicherung laut über ein zweites Sparpaket nachge- dacht, das allein durch den Bund auf den Weg gebracht und nicht er- neut durch den SPD-dominierten Bundesrat blockiert werden kann.
Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer will der Bonner Koalition eine Strategie schmackhaft ma- chen, um solche Beitragserhöhun- gen der Krankenkassen, die aus sei- ner Sicht unnötig sind, künftig an höhere Selbstbeteiligungsbeträge der Patienten (im Arznei- und Krankenhausbereich) zu knüpfen.
Weiter stehen auf der Agenda der Koalition: Karenztage beim Ar- beitslosengeld, kürzere Bezugsdau- er von Arbeitslosenhilfe, weiterer Abbau von Arbeitsbeschaffungs- maßnahmen in den neuen Bundes- ländern, verschärfte Regelungen für die Zumutbarkeit bei der An- nahme neuer Arbeitsstellen.
Die jetzt beschlossenen Maß- nahmen sollen die Abgaben- und Soziallastquote von 47 auf unter 40 Prozent (bis zum Jahr 2000)
drücken, den Wirtschaftsstandort Deutschland sichern und rund fünf Millionen wettbewerbsfähige Ar- beitsplätze schaffen helfen.
So schmerzhaft die Einspa- rungen für den Durchschnittsbür- ger sein werden – die Entlastungen für die Unternehmen und den Bundeshaushalt sind zwar milliar- denschwer, dennoch kaum ausrei- chend, um wettbewerbsfähige Dauerarbeitsplätze in dem benö- tigten Umfang schon kurzfristig zu schaffen. Das Paket ist allenfalls dazu in der Lage, den für 1997 pro- gnostizierten Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung von 20,5 auf unter 20 Prozent zu halten; das Entlastungsvolumen wird auf 11,5 Milliarden DM ge- schätzt. Stärkere Entlastungen sind erst ab dem Jahr 2000 zu reali- sieren, wenn das Renteneintritts- alter bei Männern und Frauen schrittweise angehoben wird und Abschläge von den vorgezogenen Renten hingenommen werden müssen.
Erheblichen Widerstand bis hin zu Kampfmaßnahmen haben die Gewerkschaften bei der Reali- sierung der Einschnitte bei der Lohnfortzahlung bereits angekün- digt. Diese ist für die gesamte Dau- er von maximal sechs Wochen auf 80 Prozent festgelegt worden. Das Gesetz gilt zunächst nur für Arbei- ter und Angestellte, bei denen die hundertprozentige Lohnfortzah- lung nicht im Tarifvertrag festge- legt ist (in 80 Prozent der Tarifver- träge ist die Entgeltfortzahlung aber tariflich fixiert). Stationäre
Reha-Maßnahmen sollen künftig nur noch drei statt vier Wochen dauern; pro Reha-Woche werden zwei Urlaubstage angerechnet, die Zuzahlung wird zum Teil mehr als verdoppelt. Der Abstand zwischen zwei Reha-Maßnahmen wird von drei auf vier Jahre verlängert.
Nach dem bereits seit Mai 1996 wirksamen Beitragsstopp müssen die Krankenkassen zum 1. Januar 1997 ihre Beiträge um 0,4 Prozent- punkte per Gesetz senken. Die 20- Mark-Zuschüsse für Brillengestel- le entfallen, Zuschüsse für nach 1979 Geborene beim Zahnersatz gibt es nicht mehr. Auch das Kran- kengeld ab der siebten Krank- heitswoche wird von 80 auf 70 Pro- zent reduziert. Die Zuzahlungen für Arzneimittel steigen jeweils um eine Mark.
Ob die Symmetrie auch im Hinblick auf die anderen Lei- stungsbereiche, vor allem Kran- kenhaus und ambulanter ärztli- cher Sektor, wie von der Koalition beabsichtigt, kurzfristig hergestellt werden kann, ist zweifelhaft. Die SPD und der von ihr dominierte Bundesrat hatten den ersten An- lauf zur dritten Reformstufe See- hofers im Vermittlungsausschuß platzen lassen – nicht etwa deswe- gen, weil sie den maroden Länder- finanzen nicht helfen wollen, son- dern weil sie in erster Linie durch eine globale stringente Budgetie- rung alle Sektoren an die Kandare nehmen und das Gesundheitswe- sen über zentrale staatliche Diri- gismen an andere Ufer treiben wollen. Dr. Harald Clade