Physikalisch-medizinische Behandlung der „Frozen Shoulder“
Anmerkung
Dieser Therapiestandard baut im Wesentlichen auf den „Handlungsempfehlungen Frozen Shoulder für Physiotherapeuten“ (Vermeulen et al. 2017) des Schulternetzwerkes Deutschland auf, wurde um weitere Literatur und Erfahrungen ergänzt und an die Anforderungen des I-PMR angepasst.
Beschreibung und Muster der „frozen shoulder (FS)“
„self limiting disease“ mit phasenartigem Verlauf (über 2-3 Jahre, manchmal länger, häufig milde Restbeschwerden)
„freezing phase“ mit Entzündungsprozess (Capsulitis), mehrere Wochen bis Monate Dauer, hoher Gewebsreaktivität, Schmerzen im Vordergrund, zunehmende Bewegungseinschränkung;
„frozen phase“ mit Steifheit des Gelenks (Fibrosierung, Kapselkontraktur), überwiegend mäßiger Gewebsreaktivität, vier bis ca. neun Monate Dauer, ausgeprägter Bewegungseinschränkung, abnehmender Schmerz;
„thawing phase“ mit „Auftauen“ des Gelenks, überwiegend niedriger Gewebsreaktivität, vier bis ca.
12 Monate Dauer, abnehmender Bewegungseinschränkung;
Frauen zwischen 40 und 65 Jahren häufiger betroffen als Männer;
Rezidiv an der kontralateralen Seite möglich;
kann primär (idiopathisch) auftreten oder sekundär infolge von Traumata, postoperativ, nach Langzeitimmobilisierung, Mamma-Ca, Pancoast-Tumor, skapulothorakaler Fehlbelastung;
entsteht systemisch-ursächlich häufig im Zusammenhang mit Diabetes mellitus, kardiopulmonalen Erkrankungen, Epilepsie, Mb. Dupuytren, Mb. Parkinson und Schilddrüsenerkrankungen;
Klinische Untersuchung und Diagnosestellung
Anamnese und klinische Befunde – typisches FS-Muster Langsam progressiver Verlauf mit zunehmendem Schmerz und Bewegungseinschränkung
Beeinträchtigung von Schlaf und Alltagsaktivitäten
Glenohumerale range of motion (ROM) in alle Richtungen eingeschränkt, Außenrotation (AR) mindestens zu 50%, Abduktion (ABD), Anteflexion, Innenrotation, Retroflexion in mindestens zwei Richtungen zu mindestens 25% (im Vergleich zur Gegenseite bzw. der altersgemäßen ROM)
Glenohumerale AR/IR nimmt mit zunehmender ABD ab
Diagnostik
Diagnosestellung erfolgt klinisch anhand typischer Anamnese und Klinik (FS-Muster)
Messung der glenohumeralen ROM aktiv und passiv: mit zentriertem Glenohumeral-Gelenk (GHG) und fixierter Skapula
Bestimmung des aktuellen Schmerzausmaßes (zB. NPRS – numeric pain rating scale)
Bestimmung der aktuellen Gewebsreaktivität (siehe Tabelle) zur Auswahl der am besten geeigneten Behandlungsstrategie und Therapiemodalitäten
Bildgebung nur differenzial- und ausschlussdiagnostisch (s.u.) bei entsprechender Verdachtslage (unklares Muster, red flags) notwendig
Red flags (Nachtschweiß, Gewichtsverlust, Leistungsknick, Tumoranamnese, Osteoporose, neurolog. Defizite, schwere Komorbiditäten usw.) abfragen u. ggf. weiterführend abklären
Yellow flags (Distress, psychosoziale Belastungen, Persönlichkeitsmerkmale …) erheben und zur Vermeidung einer Chronifizierung bei der Patientenführung berücksichtigen (siehe
„Leitlinienprofile“).
Differenzialdiagnosen
Omarthrose: meist Morgensteifigkeit, Anlaufschmerzen, AR mit hartem Endgefühl, Krepetieren bei Rotationsbewegungen, von FS-Muster abweichender Verlauf und ROM-Einschränkungen
Akute Bursitis, Tendinitis calcarea: am Beginn stärkere Beschwerden, kürzerer Verlauf, ROM- Einschränkung muskulär-abwehrspannungsbedingt
Postoperative Einsteifung: rasche ROM-Erweiterung unter adäquater Kapselmobilisierung v.a. in AR und ABD möglich, bei FS in der hoch reaktiven Phase deutliche Verschlechterung
Fixierte posteriore Schulterluxation: Trauma vorausgehend, FS kann jedoch folgen
Neuralgische Schulteramyotrophie: passive ROM nicht eingeschränkt! Entzündung des Plexus brachialis mit plötzlich einsetzenden heftigen Schulter- u. Oberarmschmerzen mit schlaffer Lähmung der Schultermuskulatur (meist M. deltoideus) innerhalb einer Woche; im Verlauf Muskelatrophie und schmerzhafte Einsteifung; > bei Verdacht rasche neurologische Abklärung: EMG, Neurographie und NLG pathologisch, meist einseitiger Befall – Gegenseite weist häufig jedoch ebenfalls patholog.
Werte auf
Therapie der frozen shoulder: Leitlinienprofile, Behandlungsstrategien und Behandlungsziel
Die Patientenführung und Empfehlung zur Anzahl der Therapiesitzungen erfolgt anhand der Zuordnung zu einem Leitlinienprofil:
Leitlinienprofil I: Der Pat. zeigt adäquates Verhalten (ist motiviert, mit einbezogen, selbstwirksam, gute Selbstkontrolle) bei stetiger Verbesserung und ohne yellow flags. Expertenempfehlung: max.
20 Therapiesitzungen.
Leitlinienprofil II: Der Pat. zeigt überwiegend adäquates Verhalten (hat genügend Selbstkontrolle, überwiegend positive Kontextfaktoren, gute Balance zwischen Belastung/Belastbarkeit) und hat keine bis wenige yellow flags . Expertenempfehlung: max. 40 Therapiesitzungen.
Leitlinienprofil III: Der Pat. zeigt überwiegend inadäquates Verhalten (ungenügend Selbstkontrolle, keine gute Balance zwischen Belastung/Belastbarkeit, überwiegend negative Kontextfaktoren) und hat dominante yellow flags als Risikofaktoren für eine Chronifizierung. Expertenempfehlung: max.
50 Therapiesitzungen.
Ein Behandlungsziel sollte mit dem Patienten gemeinsam „SMART“ formuliert und festgelegt werden:
spezifisch, messbar, akzeptabel, realistisch, time-(zeit)gebunden.
Die Behandlungsstrategie und Auswahl der Therapieformen orientiert sich im Wesentlichen an der jeweils aktuellen Gewebsreaktivität des Patienten unter Einhaltung der 0h-, 4h-, bzw. 24h-Schmerzregel (Tabelle, s.u.).
hoch mäßig niedrig
Gewebsreaktivität
- hohes Schmerzniveau (NPRS ≥ 7)
- mäßiges Schmerzniveau (NPRS 4-6)
- geringes Schmerzniveau (NPRS
≤ 3) - häufiger Nacht- oder
Ruheschmerz
- ab und zu Nacht- oder Ruheschmerz
kein Nacht- oder Ruheschmerz - hohes Niveau von
Funktionseinschränkungen
- mäßiges Niveau von Funktionseinschränkungen
- niedriges Niveau von Funktionseinschränkungen - deutlicher Schmerz in der
gesamten Bewegungsbahn - passives Endgefühl kann nicht festgelegt werden
- Schmerz bei endgradigen aktiven und passiven Bewegungen
- Schmerz bei endgradigen passiven Bewegungen
- großer Unterschied in der ROM aufgrund des
Schmerzes, aktive ROM <<
passive ROM
- kleiner Unterschied in der ROM aufgrund des Schmerzes, aktive ROM < passive ROM
- nahezu kein Unterschied in der ROM, aktive ROM = passive ROM
Schmerz- regel - keine Schmerzen während und/oder nach der Behandlung erlaubt (0h-Regel)
- maximal vier Stunden Schmerz nach der Behandlung erlaubt (4h-Regel)
- abnehmender Schmerz innerhalb von 24 Stunden erlaubt (24h-Regel)
Informieren, Erklären, Steuern und Begleiten - Information über FS, unerwünschte Gewebs- reaktivität und den langen Wiederherstellungsprozess - Schmerzedukation, Erklärung über Belastung/
Belastbarkeit und genesungshemmende Faktoren
- Coaching mit allmählichem Aufbau von Aktivitäten ohne Zunahme von Gewebsreaktivität - Schmerzedukation
- Coaching bezüglich der Zunahme
von stärker belastenden Aktivitäten
und regenerierenden Aktivitäten ohne Zunahme der Gewebs- reaktivität
Bewegungsübu ngen
- aktive (assistive, zentrierende) ROM-Übungen
- aktives Üben zu Hause - extensives
Ausdauertraining (minimal eine Stunde pro Tag) und Entspannungsübungen
- aktives (zentrierendes) Üben in alle Richtungen (systematisch) mit allmählichem Aufbau
- Optimieren der Bewegungskette des Schultergürtels
- sehr häufige aktive Übungen in die Endpositionen in alle Richtungen (systematisch, mobilisierend und propriozeptiv)
Manuelle Therapie
Wirbelsäule/Thorax/Schulter gürtel
- thorakale und zervikale Mobilisationen/Manipulatione n und Weichteiltechniken, sofern mit schmerz- dämpfendem Effekt glenohumeral/skapulothorak al
- schmerzfreie, assistive, niedrig intensive
Mobilisationen
Wirbelsäule/Thorax/Schultergürtel - thorakale und zervikale
Mobilisationen/Manipulationen und Weichteiltechniken, sofern mit schmerzdämpfendem Effekt glenohumeral
- leicht intensive, indirekte glenohumerale Mobilisationen über die Skapula
- leicht intensive glenohumerale Mobilisationen mit Zunahme der Dauer in der Endposition
Wirbelsäule/Thorax/Schultergürtel - thorakale und zervikale
Mobilisationen/Manipulationen und Weichteiltechniken nach Bedarf
glenohumeral
- glenohumerale Mobilisationen in den Endpositionen mit
zunehmender Dauer in der Endposition - dreidimensionale assistive Roll-Schieb-Techniken
Physikal. Modalitäten
Ultraschall-, Wärme-/Kälteanwendungen oder elektrische
Anwendungen (Diathermie) und Low-level-laser-therapy zur Schmerzdämpfung nach aktueller Gewebereaktivität bzw. nach Bedarf
Bewegungsübungen
Übungen bei hoher Gewebsreaktivität (keine Schmerzen erlaubt!)
ruhiges, aktives, zentrierendes bewegen im Rahmen der Schmerzgrenzen,
Auch aktiv-assistiv mit proximaler Handfassung
Mit Faustschluss (Fazilitation der Rotatorenmanschettenzentrierung)
zB Schwung- und Pendelübungen, Seilzugübungen, Ruderübungen, isometrische Übungen, Anteflexion in Rückenlage, skapulothorakales Bewegen, Extensions- und Flexionsübungen der thorakalen WS, Beuge- und Streckübungen für Ellbogen, Handgelenke und Finger
regelmäßiges Ausdauertraining
Entspannungsübungen
Übungen bei mäßiger Gewebsreaktivität
Schmerzen bis 4h nach Belastung erlaubt
Übungen wie oben, Belastung und Bewegungsumfang aufbauend Übungen bei niedriger Gewebsreaktivität
bis 24h Schmerzen nach Belastung erlaubt
Belastungsaufbau in alle Bewegungsrichtungen bis in Endposition, Stretch- und Slideübungen für neurale Strukturen, exzentrische Übungen für Rotatorenmanschette, Optimierung der
skapulothorakalen Funktion und Bewegungskette des Schultergürtels
intensiviertes Ausdauertraining
Manuelle Therapie
Mobilisationen/Manipulationen unter Beachtung der Gewebsreaktivität
Ziel ist Verbesserung der Trophik und Beweglicheit an folgenden Zielstrukturen als Voraussetzung für aktives Üben:
GHG Kapsel
Schulterumspannende Muskulatur und Bindegewebsstrukturen
Nervengleitlager der peripheren Nerven (N. axillaris, N. ulnaris, N. radialis, N.medianus), Plexus brachialis, Nervenwurzeln
HWS (C3-Th1) und BWS (Th2-Th8)
obere Thoraxapertur, Rippen
ACG, SCG, skapulothorakale Gleitebene
Weitere, nicht-physikalische Therapiemöglichkeiten
Orale Analgetika: NSAR können verordnet werden, jedoch keine RCT’s bzgl. Nutzen vorhanden
Orale Kortikosteroide: keine Empfehlung für Routinebehandlung
Kortikosteroid-Injektionen: Intraartikulär (!) und ultraschallgezielt, verbunden mit oder ohne aktive u passive Übungen; z.B. Triamcinolon 20 bis 40mg oder Methylprednisolon 20 bis 40mg plus Lidocain (www.uptodate.com)
Intraartikuläre Dilatation (Distension),
Narkosemobilisation,
Arthroskopische/operative Kapsellösung
Extra-artikuläre Infiltration mit Kollagenasen (Feeley et al. 2017)
Literatur
Butler DS & Moseley LG (2016): Schmerzen verstehen. 3.Auflage, Springer Verlag.
(www.noigroup.com )
Feeley SM, Larson ES, Diduch DR (2017) Adhesive Capsulitis: Current Concepts. Annals of Sports Medicine and Research 4(6): 1124.
Jain TK, Sharma NK (2014): The effectiveness of physiotherapeutic interventions in treatment of frozen shoulder/adhesive capsulitis: A systematic review. Journal of Back and Musculoskeletal Rehabilitation 27, 247-273 („Therapeutic exercises and mobilzation are strongly recommended for reducing pain, improving range of motion (ROM) and function…)
Noten S, Meeus M, Stassijns G, Van Glabbeek F, Verborgt O, Struyf F (2016): Efficacy of Different Types of Mobilization Techniques in Patients With Primary Adhesive Capsulitis of he Shoulder: A Systematic Review. Archives of Physical Medicine and Rehabilitation 97: 815-25 („The Maitland technique and spine mobilizations combined with glenohumeral stretching and both angular and translational mobilizations seem to be recommended for the moment“)
Page MJ, Green S, Kramer S, Johnston RV, McBain b, Chau M, Buchbinder R (2014): Manual therapy and exercise for adhesive capsulitis (frozen shoulder). Cochrane Database Syst. Rev.
(„combination of manual therapy and exercise...not as effective as glucocorticoid injection…“) Prestgaard TA in www.uptodate.com: Frozen shoulder (adhesive capsulitis). Stand 02/2018. („There is no consensus on the best approach to treatment….“)
Signer R, Gafner V, Ernst MJ (2016): Adhäsive Kapsulitis der Schulter - Manuelle Therapie oder Narkosemobilisation. Manuelle Medizin 54: 95-100. („Konservative manual- und
physiotherapeutische Interventionen in Kombination mit einem Heimprogramm sind mittel- und langfristig gleich wirksam wie Narkosemobilisation und Kapselrelease für klinische Outcomes wie Schmerzen, Beweglichkeit und Behinderung im Alltag…“)
Vastamäki H, Vastamäki M in www.ebm-guidelines.com: Frozen Shoulder. Stand 02/2016. („Im Frühstadium intraartikuläre Gukokortikoidinjektionen, Mobilisation in Vollnarkose kann erwogen werden, Physiotherapie ist wirksam“)
Vermeulen HM, Schuitemaker R, Hekman KMC, Burg DH van der, Struyf F. Die SNN Handlungsempfehlung Frozen Shoulder für Physiotherapeuten 2017. Schulternetzwerk Deutschland, August 2017: http://schulternetzwerk.de/Handlungsempfehlung-frozen-shoulder/