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as Bekenntnis zu mehr Wettbe- werb im Gesundheitswesen ge- hört mittlerweile zum guten Ton.Warum auch nicht, scheint man doch damit ein wahres Allheilmittel ge- funden zu haben, das fast jedes Leiden des vermeintlich kranken Gesundheits- systems kurieren kann. Mehr Wettbe- werb fördert Qualität und Transpa- renz, stärkt die Patientenautonomie und senkt obendrein noch die Kosten – so heißt es gemeinhin.
Doch die Gesundheitsberufe sehen solche Verheißungen skeptisch. Vor ei- nem „naiven Glauben an den Wettbe- werb“ warnte Mitte März die Konfe- renz der Fachberufe im Gesundheits- wesen. Und auch das Bündnis Gesund- heit 2000, ein Zusammenschluss von 37 Organisationen des Gesundheitswe- sens, konstatierte bei seiner jüngsten Klausurtagung in Potsdam: Die Ideo- logie des Marktes habe sich in den Köpfen der Politiker und Ökonomen festgesetzt.
Bündel an Marktelementen
Tatsächlich versucht der Gesetzgeber seit Jahren, das Gesundheitswesen stär- ker zu liberalisieren. Setzte der dama- lige Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer zu Beginn der 90er-Jahre die Kassenwahlfreiheit durch, folgte 1997 – mit der Einführung so genannter Struk- turverträge – eine erste Flexibilisierung im Vertragsrecht.
Ein wahres Bündel an Wettbe- werbselementen schnürte jedoch Ulla Schmidt mit ihrem 2004 in Kraft ge- tretenen GKV-Modernisierungsgesetz (GMG). Freie Preise für nicht ver- schreibungspflichtige Arzneimittel, die Zulassung des Arzneiversandhandels, Hausarztsysteme und Vertragsfreiheit in der Integrierten Versorgung sind nur
einige der Elemente, die für mehr Effi- zienz und Qualität sorgen sollen.
Gesicherte Erkenntnisse, dass sich diese Erwartungen erfüllen, gibt es je- doch nicht. Prof. Dr. Jürgen Wasem, Lehrstuhl für Medizinmanagement an der Universität Duisburg/Essen, warnt denn auch vor einer überstürzten Weichenstellung in Richtung Markt.
Zwar sieht auch er die Notwendigkeit für mehr Wettbewerbselemente, doch
„müssen zunächst dringende Vorarbei- ten“ geleistet werden. Für eine Flexi- bilisierung des Vertragsrechts müsse zunächst das Wettbewerbsrecht „scharf gestellt“ werden. Nur so könnten der Missbrauch von Marktmacht durch große Krankenkassen und Risikoselek- tion ausgeschlossen werden, gibt Wa- sem zu bedenken. Nach Ansicht des Züricher Gesundheitsökonomen Dr.
Willy Oggier muss zudem der Finanz- ausgleich zwischen den Krankenkassen morbiditätsorientiert ausgestaltet wer- den, um „Rosinenpickerei“ der Kosten- träger zu vermeiden. Die Krankenkas- sen seien sonst vor allem an Verträgen mit denjenigen Ärzten interessiert, die nur wenig „teure“ Patienten behan- deln.
Nur begrenzt tauglich ist nach Ein- schätzung Wasems ein Wettbewerb über den Leistungsumfang der Krankenkas- sen. Dieser könnte zu einer Selbstselek- tion der Versicherten führen: Die Gesun- den wählten dann möglichst schmale Leistungspakete, die Kranken hingegen umfassendere Angebote. Durch die ge- ringeren Beiträge der Gesunden würde dem System tendenziell Geld entzogen, prognostiziert Wasem. Dieses fehle dann bei der umfangreicheren Versorgung der Kranken. Es sei aber unerlässlich, den Zugang zu notwendigen Leistungen für alle Versicherten sicherzustellen.
Diese Sorge teilen auch die Gesund- heitsberufe. Bei ihrer Klausurtagung
warnte Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der im Bündnis Ge- sundheit vertretenen Bundesärztekam- mer (BÄK), davor, bewährte Struktu- ren zugunsten gewinnorientierter Kon- zentrationsprozesse zu opfern. Schon jetzt sei bei einer sukzessiven Verstaat- lichung der Prozeduren, etwa durch Disease-Management-Programme, ei- ne Entstaatlichung der Versorgungsein- richtungen durch Privatisierungen zu beobachten.
Versorgungsforschung soll Klarheit schaffen
Die Konsequenz ist eine strukturelle Ra- tionierung. Diese Tatsache dürfe die Po- litik den Menschen nicht verheimlichen, forderte Hoppe. Zumal sich fundierte Aussagen über die Folgen einer solchen Politik nur auf Basis wissenschaftlicher Untersuchungen des Versorgungsge- schehens treffen ließen. Auch deshalb werde sich der Deutsche Ärztetag An- fang Mai in Berlin ausführlich mit die- sem Thema befassen und eine Initiative zur Versorgungsforschung diskutieren, kündigte der BÄK-Präsident an.
Wird das Förderprogramm von den Ärztetagsdelegierten beschlossen, könn- ten bis zur nächsten großen Gesund- heitsreform in zwei bis drei Jahren erste Ergebnisse über die Auswirkungen des von der Politik eingeschlagenen Kurses vorliegen. Bis dahin wollen sich auch die im Bündnis Gesundheit 2000 zu- sammengeschlossenen Verbände stär- ker in die Diskussion um die künftige Ausgestaltung des Gesundheitswesens einbringen. Auf ihrer Potsdamer Ta- gung waren sie sich bereits einig, dass die Gesundheitsberufe die „Definiti- onshoheit“ für die Kriterien zur Fort- entwicklung des Gesundheitswesens zurückgewinnen müssen. Samir Rabbata P O L I T I K
Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 1729. April 2005 AA1173