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Archiv "Die Evolution des Gesundheitswesens" (26.04.1979)

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Spektrum der Woche Aufsätze •Notizen

DEUTSCHE S ÄRZTEBLATT

Heft 17 vom 26. April 1979

Die Evolution

des Gesundheitswesens

Michael Arnold

In der Diskussion um die Ko- stenentwicklung im Gesund- heitswesen wird die Eigendy- namik der verursachenden Faktoren kaum je angemes- sen berücksichtigt. Eingebet- tet in den Kontext des sozia- len, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens, muß sich der Gesundheitssektor unvermeidlich in seiner Größe und in seiner Qualität unter dem Einfluß auch systemfrem- der Elemente fortentwickeln.

Die Verbesserung der Leistun- gen der gesetzlichen Kran- kenversicherung, die Folgen einer überzogenen ,Bildungs- politik und die regelmäßigen jährlichen Lohnsteigerungs- raten liegen außerhalb der Verantwortlichkeit der Ärzte- schaft. Sie wird dennoch in der Öffentlichkeit oft als Hauptverantwortlicher für die Kostensteigerungen bezeich- net. Eine Analyse der die wei- tere Entwicklung bestimmen- den Faktoren zeigt, daß die planwirtschaftlich-technokra- tische Steuerung des Gesund- heitswesens bei dem evolutio- nären Charakter des betroffe- nen Wachstumsprozesses nicht machbar ist. Damit ist auch keine durchgreifende, für die Leistungsfähigkeit des Systems unschädliche Ko- stendämpfung möglich.

Ein hochkomplexes System Der Sozialhaushalt der Bundesrepu- blik Deutschland umfaßte 1977 mit 380 Milliarden DM fast 30 Prozent des Bruttosozialproduktes (1,193 Billionen DM). Davon entfielen 120,1 Milliarden DM auf den Sektor „Ge- sundheitswesen" mit seinen Teilbe- reichen Wirbeugung, Krankheit, Ar- beitsunfall und Invalidität. Das ent- spricht dem Gesamtumsatz der vier umsatzstärksten deutschen Indu- strieunternehmen Siemens, VW, Hoechst und Bayer mit 1977 40,41 Milliarden US-$.

Auf diese Höhe hat sich das Sozial- budget innerhalb von nur sieben Jahren verdoppelt, jedoch keines- wegs durch eine besonders stürmi- sche Zunahme des Gesundheitssek- tors allein, wie manche Kommentare zur Kostenentwicklung vermuten lassen könnten. Im Gegenteil hat sein Anteil an den Sozialausgaben in den letzten vier Jahren konstant um 31 Prozent betragen (Sozialbericht 1978 der Bundesregierung). Jährli- che Ausgabensteigerungen von 12 bis 15 Prozent sind aber auf Dauer volkswirtschaftlich nicht zu verkraf- ten, und es wird daher zunehmend die Notwendigkeit einer Kosten- dämpfung betont — nachdem in der Vergangenheit mit immer neuen Maßnahmen allein die Verbesserung der medizinischen Fürsorge gefor- dert worden war.

Wenn nun ein großes Erstaunen über die Höhe der inzwischen für

das Gesundheitswesen erforderli- chen Mittel anhebt, so ist dies wohl auch ein Hinweis darauf, wie wenig voraussehbar die Entwicklung der letzten Jahre war, oder aber, wie we- nig bedacht die doch meist gesetz- lich abgesicherte Fortschreibung der Gesundheitsfürsorge gewesen sein muß.

Nicht nur die enorme Höhe der Mit- tel und die damit auch gegebene volkswirtschaftliche Bedeutung des Gesundheitssektors, sondern die zunehmend kritischer werdende Diskussion um Nutzen und um Effi- zienz der medizinischen Versorgung weisen darüber hinaus auf einen entscheidenden Wandel in den Auf- gaben und im Selbstverständnis der Medizin hin.

Der vom Geiste christlicher Caritas getragenen Krankenpflege früherer Zeiten stand eine grundsätzlich un- begrenzt große Barmherzigkeit als Motivation für die Linderung des menschlichen Leidens zur Verfü- gung. Der modernen Medizin, einge- bettet in den Kontext einer kompli- zierten Sozialgesetzgebung, werden für ihre Aufgaben hingegen Grenzen gezogen, die sich einmal aus den materiellen Voraussetzungen des je- weiligen Landes und aus dem Stand der wissenschaftlich-technischen Entwicklung ergeben.

Zunehmend wird es aber auch schwerer zu entscheiden, was im Bereich der Medizin noch sinnvoll ist und was 11 2. 7! 2.7u,treber sollte_ E>

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Die Evolution des Gesundheitswesens

In einem Arbeitspapier des Bundes- vorstandes der Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokraten im Gesund- heitswesen (ASG) zur Ärzteausbil- dung finden sich denn auch Be- hauptungen von Fehlentwicklungen und Überkapazitäten im Gesund- heitswesen, ist die Rede von dem für die „Gesellschaft heute und künftig Erforderlichem" (Seite 52), vom

„objektiven Anstieg des Bedarfs"

(Seite 4, 14) und vom „äußerst nied- rigen Wirkungsgrad der medizini- schen Versorgung in der Bundesre- publik" (Seite 34). Diese Begriffe werden dann allerdings nicht näher erläutert, und so klingen die Argu- mente zwar durch ihre Wortwahl hart, zerfallen aber bei näherem Hin- sehen zu Glaubensaussagen ohne analytischen Hintergrund oder logi- sche Beweiskraft.

Hier liegen nun in der Tat die eigent- lichen Schwierigkeiten bei der Beur- teilung des Gesundheitswesens, ja, es erhebt sich ernstlich die Frage, ob eine Analyse dieses Bereiches überhaupt gründlich genug durch- zuführen ist, um solche Urteile fällen zu können. Nur auf der Grundlage einer überzeugenden Einsicht in die Vielschichtigkeit der Probleme, so scheint es, könnten wirklich sachbe- zogene Lösungsmöglichkeiten ge- funden werden.

Dies ist eine Forderung, die prima facie von allen Seiten Zustimmung finden dürfte, weil sie vernünftig klingt und die Fähigkeit des Men- schen unterstellt, seine Lebensum- stände rational zu gestalten. Auch diese Forderung wird sich aber als unerfüllbare Leerformel erweisen, wenn es nicht gelingt, Sollwerte zu fixieren, auf die hin sich das System optimieren lassen könnte, oder eben eine sachbezogene Lösungsmög- lichkeit zu definieren.

Es würde die Mittelfestlegung für das Gesundheitswesen erleichtern und die Diskussion versachlichen, wenn den Kosten einer medizini- schen oder gesundheitspolitischen Maßnahme jeweils der volkswirt- schaftliche und ein in Werten faßba- rer persönlicher Nutzen gegenüber- gestellt werden könnte. Aber dies

geht nur in den seltensten Fäl- len und nur unter gröbster Verein- fachung von zahlreichen Annah- men.

Von einer Bestimmung des globalen Nutzens des Gesundheitswesens kann jedenfalls keine Rede sein.

Dies trifft allerdings für die meisten Einrichtungen des öffentlichen Le- bens zu, wie etwa für die Bildung, den Sport, die Kirchen, die Verteidi- gung, ja sogar für die Regierung.

In keinem dieser Bereiche wird je- doch andererseits so viel von Nut- zen, Effizienz und Erfolg geredet, wie auf dem Gesundheitssektor — wo er doch selbst dem Laien unmittel- bar einleuchten dürfte. Die ständig wiederholte Forderung beispiels- weise nach Effizienzkontrolle kann sich daher nicht allein aus der Kost- spieligkeit der Medizin erklären, sondern wohl mehr aus der hohen Wertschätzung der Gesundheit. Ihr Stellenwert im sozialen und indivi- duellen Leben ist besonders hoch, wie auch eine jüngste Umfrage der Barmer Ersatzkasse gezeigt hat: 75 Prozent der Bevölkerung halten die Gesundheit für das höchste Gut im Leben.

Jede kritische Analyse des Gesund- heitswesens sollte gerechterweise von den klar erkennbaren Erfolgen der wissenschaftlichen Medizin aus- gehen, und jeder modische Kritiker sollte sich bewußt machen, daß er vielleicht seine Kritik nur äußern kann, weil ihm die Ergebnisse wis- senschaftlicher Bemühungen das Dahinsiechen beispielsweise an ei- ner Tuberkulose erspart haben. Um bei dieser Krankheit zu bleiben: In den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts starben nach meist langem Siechtum pro Jahr durch- schnittlich 18 von 10 000 Einwoh- nern an Tb, das waren etwa 10 Pro- zent aller Todesfälle. Vor 100 Jahren war der Erreger der klassischen Lungenentzündung noch nicht ein- mal bekannt — 30 Prozent der Er- krankten starben daran — heute ist es fast unmöglich, dem Studenten in der Klinik einen Fall zu demonstrie- ren, weil man die Krankheit zu Hau- se kurieren kann.

Der Diabetes ist selbst im jugendli- chen Alter kein Todesurteil mehr, und viele chirurgische Behand- lungsmöglichkeiten sind auch im höchsten Alter noch gegeben. Ins- gesamt müßte einem vor 100 Jahren praktizierenden Arzt dies als ein schieres Wunder erscheinen — wäh- rend es uns selbstverständlich ge- worden ist. Gerhard Domagk hat einmal gesagt: „Krankheiten, die man heilen kann, interessieren kei- nen mehr". Diese Feststellung macht deutlich, daß ein Nutzen der Medizin überhaupt nicht mehr ins Auge springen kann, wenn eine Krankheit kein medizinisches Pro- blem mehr darstellt — oder gar nicht mehr auftritt. Die Versuche einer Ko- sten-Nutzen-Berechnung betreffen daher vorzugsweise sozusagen „vir- tuelle" Krankheiten.

Berechnungen dieser Art beweisen den hohen Nutzen einer Polio- oder Grippeimpfung als Vorsorgemaß- nahme sowie eines Tuberkulostati- ka- und Psychopharmaka-Einsatzes in der Therapie. Nur sehr vereinzelt ist auch die wirtschaftliche Überle- genheit einer speziellen Therapie- form zu bestimmen: Harald Clade hat 1977 die Kosten der Hämodialy- se den Kosten einer Nierentrans- plantation gegenübergestellt — der rechnerische Nutzen einer Trans- plantation addiert sich in nur drei Jahren auf zu 220 000 DM.

Andererseits ist es nach Manfred Pflanz bereits unmöglich, die wirt- schaftlichen Folgen abzuschätzen, wenn es gelänge, die ischämischen Herzkrankheiten zu reduzieren. Sie haben nämlich selbst auch wieder einen volkswirtschaftlichen „Nut- zen" — für die Industrie, für die Kur- betriebe, für die Ärzte.

Unmöglich aber ist es darüber hin- aus, den Nutzen rein ärztlicher Hilfe und Pflege zu bestimmen: Man kann Erleichterung über das Geborgen- sein im Krankenhaus, man kann Schmerzfreiheit, überhaupt die Wohltat menschlicher Hilfe nicht in eine Kosten-Nutzen-Analyse einge- hen lassen — man kann auch die durch die Medizin erreichte Gesund- heit nicht messen.

1170 Heft 17 vom 26. April 1979 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Zusammensetzung

Euphyllin besteht aus 80,5 Teilen Theo- phyllin-Monohydrat und 19,5 Teilen Äthylendiamin.

Kontraindikationen

Ein zuverlässiger Schutz

vor bronchokonstriktorischen Reizen

bei Tag und bei Nacht.

BYK

bei zu hoher Dosierung oder bei Überem- pfindlichkeit auftreten.

Weitere Angaben zu Euphyllin retard Dosierung

Im Normalfall 2 xtägl. 1 Dragee Packungsgrößen

Euphyllin retard Filmdragees zu 350 mg Packung mit 20 Dragees DM 12,63 Packung mit 50 Dragees DM 27,00 Euphyllin retard mite Filmdragees zu 175 mg Packung mit 20 Dragees DM 9,48 Packung mit 50 Dragees DM 20,83 und Klinikpackungen mit je 500 Dragees.

Byk Gulden Pharmazeutika

D-7750 Konstanz

Indikationen

Bronchitisches Syndrom, Asthma bron- chiale, Lungenemphysem, dyspnoische Zustände pulmonaler. kardialer und zere- braler Genese.

Durch Kombination mit Ephedrin und ephe- drinhaltigen Mitteln können Nebenwir- kungen auftreten bzw. vorhandene Neben- wirkungen verstärkt werden.

Nebenwirkungen

Gastrointestinale Störungen und zentral- nervöse Beschwerden können vereinzelt

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Euphyllin retard läßt sich kaum verbessern.

Auch wenn es immer wieder versucht wird.

Obwohl Wirkungen und Nebenwirkungen nur von Höhe und Verlauf der Plasmaspiegel ab- hängen, verspricht jedes neue Theophyllin- präparat besser verträglich zu sein als seine Vorgänger.

Tatsächlich liegt das Problem einer optimalen Theophyllin-Therapie in der Dosierung, weil Ausscheidung und Metabolisierung der Sub- stanz stark variieren. Die gleiche Dosis, die der eine Patient bestens verträgt, kann bei einem anderen zu Nebenwirkungen führen. Des- wegen ist es entscheidend, die Dosierung für jeden Patienten individuell einzustellen.

Mit den beiden Darreichungsformen Euphyllin retard und Euphyllin retard mite ist eine opti- male Dosisanpassung jederzeit möglich.

Durch die gleichmäßige Wirkstoffabgabe blei-

ben die Theophyllin- Blutspiegel im therapeu-

tischen Bereich, ohne daß es zu Konzentra-

tionsspitzen kommt.

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Spektrum der Woche Aufsätze · Notizen

Die Evolution des Gesundheitswesens

Die Bereitstellung einer umfassen- den ärztlichen Fürsorge, in Verbin- dung mit einer tei Iw eise hochtechni- sierten neuen Art von "Caritas" für jeden einzelnen, ob jung, alt, im Ar- beitsprozeß stehend oder berentet, hat die Kostenentwicklung der letz- ten Jahre gesellschaftspolitisch mo- tiviert. Sie wurde ermöglicht auf dem Boden einer allgemeinen wirt- schaftlichen und sozialen Lei- stungsbereitschaft, die auch das Ge- sundheitswesen mit einschließt. Es ist in die Gesamtheit des wirtschaft- lichen und politischen Lebens ein- gebettet und wird, ja muß sich daher wie dieses weiterentwickeln. Die damit gegebene Parallelität und Abhängigkeit läßt es angemessen scheinen, das Gesundheitswesen als ein hochkomplexesSystem aufzufas- sen, dessen bisherige undzukünftige Entwicklung nicht als einfaches, das heißt von anderen Sektoren des öf- fentlichen Lebens weitgehend unab- hängiges und in seinem Umfang vor- herbestimmbares Wachstum, son- dern als Evolution interpretiert wer- den muß.

Als komplex kann ein System be- zeichnet werden, das nicht so in ei- ner einfachen Ursache-Wirkungs- Beziehung beeinflußbar ist, daß, nach Abklingen der Ursache, das System in sich unverändert in ei- ner Richtung eines einfachen Koor- dinatennetzes weiterbewegt worden ist.

Bei einem solchen System gibt es im Grunde genommen keine einfach voraussehbare Wirkung, weil jeder Anstoß so viele Determinanten be- einflußt, daß letztlich der ganze Umfang und alle Arten ihrer Wir- kung nicht prognostiziert werden können.

Der Begriff Evolution ergibt sich fast zwingend aus der Komplexität. Wir kennen den Begriff speziell aus der Biologie,

wo

die Entwicklung der Ar- ten als Evolution bezeichnet wird.

Gerade dieses Beispiel macht deut- lich, welcher Komplexitätsgrad in ei- nem Evolutionsvorgang vorhanden sein kann: Die Entwicklung des Menschen aus dem organischen Ur-

stoff spottet jeder Wahrscheinlich- keit. Wir glauben, ihn verstanden zu haben- in Wirklichkeit legen wir nur unser grobes Ursache-Wirkungs- Raster auf diesen Prozeß, meißeln somit wenige Stufen heraus, die wir zum Aufbau einer plausiblen Theo- rie verwenden.

Während wir aber im nachhinein den Evolutionsprozeß beschreiben können und zu verstehen meinen, würde doch wohl keiner die Be- hauptung wagen, es wäre möglich gewesen, von dem Urstoff an die weitere Evolution, die schließlich zum Menschen geführt hat, voraus- zusagen. Eine vergleichbare Aussa- ge ließe sich auch über die Evolution des Gesundheitssystems machen. Am Anfang unseres Jahrhunderts war nicht vorauszusehen, welche Entwicklungen hier in nächster Zeit ablaufen würden, und genausowe- nig sind wir heute imstande, die Ent- wicklung für die nächsten Jahrzehn- te zu prognostizieren. Eine wirkliche Planbarkeit des Gesundheitssy- stems ist nicht gegeben, das heißt, es ist nicht möglich, unter Berück- sichtigung aller Parameter das Sy- stem technokratisch zu gestalten, denn es könnten außerdem sowohl völlig unvorhersehbare Entwicklun- gen Einfluß auf das System gewin- nen (und es so verändern) als auch völlig unvorhersehbare Effekte durch einen "planenden" Eingriff hervorgerufen werden. Dies ist eine Folge der hochgradigen Verflech- tung jener Faktoren, die für die Wei- terentwicklung entscheidend sind.

Es lassen sich hierzu sechs Haupt- faktoren nennen:

....

Wissenschaft

....

Arzt

....

Planungsaktivitäten

....

Patient

....

Umwelt

....

Geistig-kulturelles Umfeld .

Keiner dieser Faktoren bestimmt monokausal die Entwicklung, aber

1172 Heft 17 vom 26. April 1979 DEUTSCHES ARZTEBLATT

für die Analyse der Entwicklung müssen die Faktoren einzeln be- schrieben werden.

1. Wissenschaft

Entscheidend für die stürmische Ex- pansion der Medizin in diesem Jahr- hundert waren die Fortschritte der Wissenschaft. Sie schlugen sich in Verbesserungen von diagnostischen und therapeutischen Techniken nie-

der, die in Verbindung mit vermehr-

tem Wissen die Möglichkeiten des Arztes vergrößert haben. Die Medi- zin wird durch die meisten neuen Techniken im allgemeinen nicht bil- liger, sondern teurer, aber sie wird insbesondere auch humaner, siche- rer- vielleicht erfolgreicher.

Durch außerordentlich große wis- senschaftliche Aktivitäten auf dem Pharmasektor konnte die Spezifität der Therapie in vielen Fällen so ver- bessert werden, daß heute in kon- servativen Fächern ähnlich aktiv therapeutisch vorgegangen werden kann wie in der Chirurgie. Erhebli- che wissenschaftliche und finanziel- le Vorleistungen müssen erbracht werden, um solche Erfolge zu erzie- len und dies zeigt, wie sehr der Fort- schritt von der Art des Gesundheits- systems und der Intaktheil der Wirt- schaft abhängt.

Allein in der Bundesrepublik Deutschland wurden für Forschung und Entwicklung auf dem Pharma- sektor 1977 1,25 Milliarden DM aus- gegeben, waren 10 500 Mitarbeiter, unter ihnen 2000 Wissenschaftler tätig. Dabei sind in der Bundes- republik innerhalb von 15 Jahren

"nur" 12,6 Prozent der weltweit neu

entwickelten Wirkstoffe entdeckt worden. Dies zeigt überdies, wie stark die Weiterentwicklung eines nationalen Gesundheitssystems vom internationalen Fortschritt ab- hängt und von ihm beeinflußt wer- den muß.

Leistungen dieser Art können nur erbracht werden, wenn die wirt- schaftlichen Bedingungen es ge- statten. Der industriell-technisch- wissenschaftliche Fortschritt ist da-

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Die Evolution des Gesundheitswesens

her an bestimmte Umsatzzahlen, an die Rentabilität von Entwicklung und Produktion, an den Wettbe- werb, an möglichst weite Anwen- dung und an die Rückmeldung der Erfahrung von vielen Nutzern an den Erzeuger gebunden.

Der Mangel an einem Leistungswett- bewerb und die charakteristischen ökonomischen Grundbedingungen dürften wesentlich dafür verantwort- lich sein, daß sich der medizinisch- wissenschaftliche Fortschritt in plan- wirtschaftlichen Systemen praktisch nicht vollzieht. Von den neuen phar- makologischen Wirkstoffen sind nicht mehr als 6,2 Prozent in den sozialistischen Staaten entwickelt worden — ein Fortschritt mit wirkli- chen Innovationen ist eben nicht planbar, denn das Planbare schließt ja das augenblicklich Nichtvorstell- bare geradezu notwendig aus.

Diese Nichtplanbarkeit und Nicht- voraussehbarkeit des wissenschaft- lichen Fortschrittes macht es un- möglich, seine Rolle für die Weiter- entwicklung des Gesundheitswe- sens abzuschätzen. Die Tatsache aber, daß die Zahl der Wissenschaft- ler in Zukunft weiter ansteigen dürf- te und die beteiligte Industrie ein Wachstum zeigt, läßt erwarten, daß auch der „Fortschritt" weitergeht.

2. Ärzte

Als Folge der Bildungspolitik der sechziger Jahre ist es zu einer Öff- nung und Vergrößerung der tertiä- ren Bildungseinrichtungen gekom- men, deren damals kaum absehbare Folgen nun sichtbar werden: Etwa 11 000 Mediziner pro Jahr stehen uns bevor, und dies bedeutet, daß etwa doppelt so viele Ärzte ausgebil- det werden als benötigt.

Jeder Arzt verursacht Kosten — nicht für sich selbst, sondern durch sich, durch seine Verordnungen, durch sein Wirken, durch den Einsatz von Assistenzpersonal. Man kann davon ausgehen, daß die für ihn aufge- brachten Kosten wesentlich gerin- ger sind als die durch ihn verursach- ten. Damit wird vorstellbar, was es

heißt, wenn wir in zehn Jahren die Zahl der Ärzte drastisch erhöht ha- ben werden!

Bei aller Unsicherheit von Progno- sen dürften die hohen Ärztezahlen zu einem, wenn nicht zu dem die zukünftige Entwicklung des Ge- sundheitswesens entscheidenden Parameter werden. Sie könnten Pro- zesse in Gang bringen, die tiefgrei- fende Änderungen der politischen und sozialen Struktur der Bundesre- publik auslösen würden. Zumindest zwei Alternativen sind zunächst denkbar.

Alternative A

Die Summen für den Gesundheits- sektor bleiben so hoch wie heute respektive steigen nur nach Maßga- be der allgemeinen Teuerung. Dann muß sich bei steigenden Arztzahlen die pro Arzt denkbare Finanzmenge drastisch vermindern mit der Folge einer Reglementierung der Behand- lungsausgaben, um die Kosten pro Behandlungsfall zu limitieren. (Falls, was bei der Erhöhung des Ärztean- gebotes zu erwarten ist, die Be- suchsfrequenz beim Arzt steigt. Die letztere Annahme ist auch gerecht- fertigt, weil bei der Altersstruktur der Bevölkerung sich die Zahl der Rent- ner in Zukunft noch weiter erhöhen wird.) Die Verdienstmöglichkeiten der Ärzte werden sich im Durch- schnitt erheblich verringern und da- mit das Limit unterschreiten, wel- ches für einen freien Beruf erforder- lich ist. Dies wird rasch die Einfüh- rung eines staatlichen Gesundheits- wesens mit angestellten Ärzten, mit Schichtbetrieb oder der Doppelbe- setzung von ärztlichen Funktionen fördern. (Eine Reduktion des Real- einkommens hat seit 1975 bereits stattgefunden, wie eine jüngste Sta- tistik der Landesärztekammer Nie- dersachsen ausweist.)

Die Möglichkeit einer Verstaatli- chung des Gesundheitswesens könnte noch durch Verhaltensände- rungen bei den angehenden Ärzten beschleunigt werden: So scheint die Neigung zu eigenverantwortlicher Praxisführung ab- und die zu einer

abhängigen Berufsausübung mit geregelter Freizeit zuzunehmen.

Alternative B

Die Summen für den Gesundheits- sektor werden den durch die Tätig- keit der Ärzte (und den Stand der Wissenschaft) bestimmten Bedürf- nissen zunächst soweit es die öko- nomischen Verhältnisse gestatten angepaßt, das heißt auch in Zukunft erheblich ansteigen. Die Leistungs- fähigkeit des Gesamtsystems wird erhöht — ohne daß dies allerdings zu einem meßbaren, das heißt monetär meßbaren Nutzen etwa im Sinne ei- nes Anstieges der Gesundheit füh- ren müßte. Die für den Gesundheits- bereich aufzuwendenden Mittel wer- den durch politische Entscheidun- gen in ihrer Höhe festgelegt und er- höht — bis zu einer unbekannten Hö- he. Es gibt ja wie bei der Einkom- mensteuer keine Erfahrung, bis zu welchem Prozentsatz des National- einkommens Mittel für den Gesund- heitssektor bereitgestellt werden können. Es ist daher auch völlig of- fen, welche Folgen ein andauerndes Wachstum des Gesundheitssektors haben könnte. Dabei ist nicht zu er- warten, daß es zu einem einfachen Wachstum — einschließlich Kosten- anstieg — nach Maßgabe der Zunah- me an Arztzahlen kommt, denn ein linearer Anstieg nur der vorhande- nen Funktionen ist nicht wahr- scheinlich.

Dem Anstieg der Ärztezahlen überla- gert sich vielmehr in beiden Fällen noch der wissenschaftliche Fort- schritt und überlagern sich ökono- mische Interessen — um nicht zu sa- gen Zwänge. So ist nach den Erfah- rungen der Vergangenheit davon auszugehen, daß das Ausmaß der Facharzt-Spezialisierung weiter zu- nehmen wird. Aus Wettbewerbs- gründen kommt sozusagen ein Dif- ferenzierungsdruck zustande, der die Zahl ärztlicher Spezialisierungen erhöht mit allen Folgen für die Ko- stenentwicklung. Ebenfalls aus Er- fahrungen ist damit zu rechnen, daß damit die Verbreitung bereits be- kannter, aber komplizierterer dia- gnostischer und therapeutischer

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 17 vom 26. April 1979 1173

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Spektrum der Woche Aufsätze - Notizen

Die Evolution des Gesundheitswesens

Verfahren zunehmen wird und daß außerdem völlig neue Verfahren ent- wickelt werden. Bei steigenden Arzt- zahlen wird das „Know-how" wei- terverbreitet, und dies trifft sich mit dem Bemühen der Industrie, neue Geräte zu entwickeln und die neu entwickelten aus volkswirtschaftli- cher Notwendigkeit auch abzu- setzen.

Der Wunsch nach immer besserer ärztlicher Versorgung wird eher zu- als abnehmen — wobei es unmöglich ist, ein wirkliches Optimum des Mit- teleinsatzes in der Medizin techno- kratisch zu bestimmen. Die Frage, ob die Alternative A oder B eintritt, ist daher rein politischer Natur, in jedem Fall aber von der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung ab- hängig.

Die ökonomischen Bedingungen sind nämlich selbstredend die ent- scheidende Basis für politisches Handeln auch auf diesem Gebiet:

Man kann in der Bundesrepublik nur deshalb etwa 1300 DM pro Kopf und Jahr für das Gesundheitswesen aus- geben, weil unser Pro-Kopf-Natio- naleinkommen mehr als das Zehn- fache davon beträgt. Je höher das Pro-Kopf-Einkommen ist, je höher kann der relative Anteil sein, der für den Gesundheitssektor ausgegeben werden kann — und umgekehrt. So entsprach das Pro-Kopf-National- Einkommen in Ägypten 1975 dem 20. Teil des deutschen, die Pro- Kopf-Ausgaben für das Gesund- heitswesen entsprachen aber nur dem 2000. Teil. Jedes Wirtschafts- wachstum verbessert daher die Möglichkeiten des Gesundheitssy- stems, und jedes Nullwachstum be- deutet Rückschritt.

Eine weitere Zunahme der Kosten ist bei der Fortdauer des wissenschaft- lichen Fortschrittes, der Vermeh- rung an hochtrainiertem Personal und der allgemeinen wirtschaftli- chen Dynamik unausweichlich. Ob- wohl der Verzicht auf Planung eines so komplexen Systems keineswegs mit Chaos oder Planlosigkeit gleich- gesetzt werden darf — da nämlich eine Evolution nicht planlos abläuft, sondern aus zwingender Notwen-

digkeit weitergeht und das Ungeeig- nete selbst eliminiert — will man die weitere Entwicklung „steuern".

3. Planungsaktivitäten

Besonders die im Zuge der Weiter- entwicklung des Gesundheitswe- sens und des Ausbaues der Sozial- gesetzgebung zwangsläufig aufge- tretene Kostensteigerung hat der

Forderung nach Planung und Steue- rung des Gesundheitswesens einen erheblichen Nachdruck verliehen.

Über eine objektive Bedarfsermitt- lung sollen nun Bettenzahlen fest- gelegt und die Größe des Ärztenach- wuchses bestimmt, sollen außerdem zur Effizienzsteigerung Behand- lungsstrategien erfaßt, normiert und kontrolliert werden.

Eine allgemeine Voraussetzung für das Planen ist die Festlegung von Zielen. Notwendig wäre weiterhin die Quantifizierung von Bedürfnis- sen an medizinischen Leistungen in der Bevölkerung, eine Objektivie- rung auch des subjektiven Nutzens medizinischer Fürsorge beim Ein- zelnen, sowie die Optimierung des ärztlichen Vorgehens bei den einzel- nen Krankheiten. Die umfassende Planung eines multifaktoriellen Pro- zesses ist nach M. Füllemann (ETH Zürich) nicht möglich, das heißt eine mehrdimensionale Planung kann nicht gelingen. Man vermag, nicht ohne Schwierigkeiten, bestenfalls die zukünftige Entwicklung eines Faktors zu planen und mit dem Vorbehalt ständiger Korrekturen ein vorher definiertes Ziel zu errei- chen.

Über ein verbindliches Ziel des Ge- sundheitswesens besteht bisher kei- ne Vorstellung, und vielgenannte ta- gespolitische Ziele widersprechen sich sogar — wie zum Beispiel das Ziel, Geld einzusparen und das Ziel, die ausgebildeten Ärzte zu beschäf- tigen. Eine objektive Bedarfsermitt- lung wiederum scheitert am Mangel eines wissenschaftlich abgesicher- ten Verständnisses der komplizier- ten Beziehungen zwischen Bedarf, Nachfrage und Bedürfnis. Die Be- stimmung des Nutzens andererseits

setzt die Festlegung von Gesund- heitsindizes voraus und ihre nach- folgende Quantifizierung, obwohl sie auch subjektive Parameter wie Schmerz, Wohlbefinden oder Angst umfassen müßten. Hierzu ist anzu- merken, daß durch Auflegen eines vorher festgelegten Rasters auf die Wirklichkeit grundsätzlich Meßwerte gewonnen werden können, mit de- nen man eine Art Wissenschaft be- treiben kann. Die Objektivierung gilt aber in diesen Fällen nur für die Meßwertbehandlung, nicht für die Meßwertgewinnung, denn das Ra- ster ist willkürlich gewählt. Mit sol- chen Verfahren wird eine Pseudoex- aktheit erreicht, so daß die Ergeb- nisse wissenschaftstheoretiSch un- haltbar sind. Schließlich kann man auch Behandlungsstandards noch einmal ausdrücklich fordern, ob- wohl sie ja schon in Form des „Ge- mäß-wissenschaftlichen-Erkennt- nissen" vorhanden sind, respektive ihre Nichtbeachtung zum Kunstfeh- ler führt. Insgesamt läßt somit die Forderung nach Planung und Steue- rung des Gesundheitswesens eine völlige Überschätzung des dem Menschen Möglichen erkennen.

Nun wird allerdings tatsächlich ge- plant und zwar offenbar ohne größe- re Rücksicht auf die grundsätzlich vorhandenen genannten Einschrän- kungen. Jede gesundheitspolitische Entscheidung ist ja der Versuch ei- ner geplanten Veränderung des Sy- stems, und zwar im Sinne (oder mit der Absicht) seiner Optimierung. Die Vorstellung eines Optimums ist je- doch nicht auf technokratischem Wege zu gewinnen, sondern nur durch Konsens der Entscheidungs- träger über ein „So-könnte-es-Ge- hen". Wäre unter Berücksichtigung aller beteiligten Parameter durch lo- gische Ableitung eine Lösung zu ge- winnen — und nur dies verdiente die Bezeichnung einer rationalen Pla- nung — dann wäre ein Dissens über politisches Vorgehen kaum ver- ständlich.

Planungsaktivitäten, die trotz Ein- schränkung rationaler Planungs- möglichkeiten die Situation bewußt zu verändern suchen, spielen den- noch eine große Rolle für die Weiter-

1174 Heft 17 vom 26. April 1979 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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AUS DEM HERZ- KREISLAUF- PROGRAMM

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Die Evolution des Gesundheitswesens

entwicklung des Gesundheitswe- sens. Sie sind ein bedeutender Fak- tor unter vielen! Wie dies auch auf andere Faktoren zutrifft, werden durch die Planung Entwicklungen und Fehlentwicklungen ausgelöst und damit doch insgesamt nur die durch „trial and error" bestimmte Evolution des Gesundheitswesens weitergeführt, und zwar zu einem Ziel, das nicht vorherbestimmt wer- den kann.

Niemand hat vor 50 Jahren bei- spielsweise voraussagen können, welche Wirkungen die Medizin ein- mal auf den Gesundheitszustand der heutigen Bevölkerung haben würde

— und niemand kann voraussagen, wie das Morbiditätsspektrum der Bevölkerung des Jahres 2030 ausse- hen wird — aber die Krankenhäuser für diese Zeit und diese Patienten werden heute geplant und gebaut, und sie müssen heute gebaut wer- den.

4. Patienten

Aus Unterlagen der Krankenkassen wie auch aus den Leistungsdaten der Krankenhäuser wird deutlich, daß es trotz aller Anstrengungen der Vergangenheit offensichtlich nicht gelungen ist, den Gesundheitszu- stand der Bevölkerung pauschal zu verbessern, das heißt, die Zahl ob- jektiver oder subjektiver Störungen des Wohlbefindens zu verringern.

Die Zahl stationärer Patienten hat zugenommen, ebenso die Zahl der Konsultationen und auch der Kran- kenstand der Versicherten hat im Laufe der letzten zehn Jahre kon- stant um 5,4 Prozent betragen. Die sicherlich sehr komplexe, auch psy- chologische und soziale, Faktoren einschließende Verursachung die- ses Sachverhaltes entzieht sich je- der Deutung.

Die Verbesserung der Lebenserwar- tung und der Rückgang der Gebur- tenzahl haben beispielsweise zu er- heblichen Veränderungen im Alters- aufbau der Bevölkerung geführt.

Von einer Alterspyramide wie vor 100 Jahren kann daher keine Rede mehr sein, der Altersaufbau ent-

spricht vielmehr dem Bild einer Urne mit schmaler Basis, breitem Bauch und schmaler Spitze.

Der Anteil der Rentner an den Mit- gliedern der gesetzlichen Kranken- versicherung ist diesen Veränderun- gen entsprechend gestiegen und zwar von 10 Prozent 1961 auf 30 Prozent 1977. Der alte Mensch leidet aber meist unter schweren Störun- gen, an chronischen Krankheiten und erfordert ein multidiagnosti- sches Vorgehen. Die Zahl älterer Menschen hat sich so stark erhöhen können, weil insbesondere die In- fektionskrankheiten heute wirksam zu bekämpfen sind, die früher eine teilweise verheerende Wirkung ent- falteten. Noch 1927 entfielen 20 Pro- zent der Todesfälle auf Infektions- krankheiten, während 1977 nur noch 1 Prozent an Infektionskrankheiten verstarben. Zugenommen haben an- dererseits die Kreislauferkrankun- gen von 15 auf 47 Prozent und die bösartigen Neubildungen von 12 auf 20 Prozent.

Welche Ursachen diesen Verschie- bungen zugrunde liegen, ist mit Ausnahme der Infektionskrankhei- ten größtenteils unbekannt. Sicher kann nur ausgesagt werden, daß die Infektionskrankheiten als Todesur- sachen in Konsequenz des medizini- schen Fortschritts in den Hinter- grund getreten sind, daß aber die Gesamtsterblichkeit unverändert 100 Prozent beträgt, denn alle Men- schen müssen sterben. Jene, die nicht an einer Infektionskrankheit sterben, müssen nun an etwas ande- rem sterben.

Ein Teil der zum Tode führenden Koronarerkrankungen oder Neo- plasmen müssen unter diesen Um- ständen notgedrungen „Ersatzto- desursachen" sein. Ihr Entstehen hängt dann aber möglicherweise gar nicht so klar von veränderten Eßge- wohnheiten, oder vom Streß, oder vom Bewegungsmangel ab, wie dies alles wiederum als Ursache der Kreislauferkrankungen diskutiert wird. Hier, in der Beeinflussung der Mortalität und Morbidität wird die Medizin zu einem nicht nur das Le- ben, sondern auch den zukünftigen

Tod des Menschen mitbestimmen- den anthropogenen Umweltfaktor.

5. Umwelt

In der Ursachenforschung vieler nichtinfektiöser Krankheiten konn- ten bisher fast nur die Grenzen des Erkenntnisvermögens ausgelotet werden. Mit Hilfe epidemiologischer Daten und statistischer Methoden der Pathogenese von Krankheiten näher zu kommen, ist außerordent- lich problematisch. So nimmt der Herzinfarkt in den USA in jüngster Zeit ab, und auch in der Bundesre- publik scheint eine Trendwende nachweisbar — aber wir wissen nicht warum. Der Tabakkonsum, einer der Risikofaktoren, steigt an (Einfuhr 1975 = 132 100 t; 1976 = 143 700 t).

Der Pro-Kopf-Verbrauch an Butter- fetten lag 1935/1936 bei 22,2 g, 1965 bei 23,0 g und 1975 bei 18,5 g — daran kann es also nicht liegen. Die Verkehrsdichte nimmt zu, der Alko- holkonsum (von 1950 = 3,6 I auf 1975 = 12,4 I) — es ist verlockend, zeitliche Korrelationen als kausale zu deuten, aber es ist wissenschaft- lich nicht haltbar.

Gebannt starrt man nun auf den Serumcholesterinspiegel, der im Falle seiner Erhöhung diätetisch oder medikamentös gesenkt werden soll, um die Sterblichkeit an Herzin- farkten zu reduzieren. Diese Hypo- these hat nicht nur bereits zu ein- schneidenden Änderungen der Le- bensgewohnheiten bei vielen Men- schen geführt, sondern könnte über kurz oder lang sogar Einfluß auf die landwirtschaftliche Produktion neh- men.

Sofern sich die These der Umwelt- bedingtheit von Krankheiten bestä- tigt, wird man die verantwortlichen Noxen zu eliminieren versuchen, und so eventuell eine Reduktion an entsprechenden Krankheiten errei- chen. Sofern es gelingt, die Herzin- farkthäufigkeit zu senken, wird sich die Lebenserwartung vermutlich er- höhen und eine weitere Todesursa- che verdrängt sein. Um an was zu sterben, werden die Menschen von

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Die Evolution des Gesundheitswesens

Krebs verschont und von der Gefahr des Herzinfarktes befreit? Es gibt viele Hinweise darauf, daß jetzt schon die Zahl der Patienten mit kreislaufbedingten Hirnausfällen zu- nimmt. Wird das unser aller Schick- sal sein? Hier ist zu fragen, was ist das letzte Ziel der Medizin, nachdem die Leidenslinderung ja nicht mehr ihre vordringlichste oder alleinige Absicht ist? Läßt es sich denn über- haupt definieren oder aufzeigen?

Zwei weit auseinanderliegende Be- mühungen der Medizin sollen hier betrachtet werden, die als Indiz da- für gelten können, daß die Verlänge- rung des Lebens zum entscheiden- den Ziel medizinischer Aktivitäten geworden ist: Zum einen die Inten- sivmedizin, zum anderen die Vorsor- gemedizin.

Die Frage, wann die ärztliche Hilfe im Interesse des Kranken aufzuhö- ren habe, wird nicht erst seit heute gestellt. Aber die Wissenschaft und die Medizintechnik haben erst in un- seren Tagen ermöglicht, Kranke für beträchtliche Zeit über jenen Punkt hinaus am Leben zu erhalten, der ohne Maschine ihren Tod gebracht hätte. Die Entwicklung ist inzwi- schen schon so weit gegangen, daß nach verbindlichen Normen gesucht werden muß, um dem Einzelnen das Recht auf einen humanen und wür- digen Tod zu garantieren. Dies muß auf Dauer schwerwiegende Einflüs- se auf das Selbstverständnis der Me- dizin haben.

Da eine medikamentöse Beeinflus- sung nach Manifestation der Erkran- kung häufig nicht mehr möglich ist, werden nun vermehrt Vorsorgemaß- nahmen gefordert, um Gesundheits- schäden gar nicht erst auftreten zu lassen, sie möglichst früh zu erken- nen oder sie noch beeinflussen zu können. Die Vorsorge kostet heute bereits 7,2 Milliarden DM jährlich, obwohl ihr Nutzen monetär kaum und in vielen Fällen medizinisch schwer faßbar ist. In Teilbereichen, wie beim Bronchialkarzinom, wird er von einigen Autoren völlig bestrit- ten. Nur etwa 16 Prozent der Männer und 38 Prozent der Frauen machen Gebrauch von der Vorsorgeuntersu-

chung — ein Hinweis darauf, daß der subjektiv Gesunde im Selbstbe- wußtsein seines Zustandes nicht an die Möglichkeit einer Erkrankung denkt oder denken will. Soll man dies ändern? Wo liegt die wissen- schaftliche und wo liegt die morali- sche Legitimation für eine politisch geplante Medizinierung unseres Le- bens? Für eine scheinbar wissen- schaftlich begründete Steuerung unserer Lebensumstände? Die Vor- sorgemedizin könnte hier Auswir- kungen haben, die weit über das vordergründige Ziel einer besseren Fürsorge hinausgehen.

Es ist eine fast triviale und dennoch wichtige Feststellung: Der Mensch macht das, was er machen kann.

Das soll heißen: Ihm steht nur ein begrenztes Methodenrepertoire für die Erkenntnisgewinnung zur Verfü- gung und dies bestimmt neben In- teresse oder Notwendigkeit Art und Umfang auch von wissenschaftli- chen Untersuchungen. Uns geht es dabei aber nur zu oft wie dem klei- nen Jungen, der den verlorenen Schlüssel unter der Laterne sucht, weil es dort hell ist — obwohl er ihn woanders verloren hat.

Bei der kritisch-analytischen Be- handlung eines komplexen Pro- blems wie der Entwicklung des Ge- sundheitswesens behandeln wir be- vorzugt jene Faktoren, die meßbar sind. Ihre Quantifizierbarkeit ermög- licht uns den Vergleich und die ein- deutige Mitteilung an eine Leser- oder Hörerschaft, gibt uns wohl auch das Gefühl, die weitere Ent- wicklung verstehen oder prognosti- zieren zu können.

Nicht alle Phänomene, die wir beob- achten, sind aber in so eindeutiger Weise erfaßbar und können unmit- telbar überzeugen. Es hängt bei an- deren von der jeweiligen Grund- einstellung ab, ob man einer be- stimmten Deutung folgen kann oder nicht.

So haben sich nicht nur die analy- sierbare und meßbare Morbidität, der Altersaufbau und andere quanti- fizierbare Parameter in der Bevölke- rung oder der Ärzteschaft geändert,

sondern auch in schwer faßbarer Weise die allgemeine Mentalität in der Bundesrepublik.

6. Geistig-kulturelles Umfeld Im geistig-weltanschaulichen Kraft- feld sind in Wechselwirkung mit ver- änderten politischen und wirtschaft- lichen Verhältnissen neue Verhal- tensweisen und Erwartungshaltun- gen entstanden, deren Rückwirkung auf das Wohlbefinden des Einzelnen wie auch auf das Gesundheitswesen im ganzen kaum abzuschätzen sind.

Man kann bestenfalls einige Er- scheinungen aufzählen, die hierin ihre Ursache haben müssen oder könnten, ohne daß damit die zu- grundeliegende Haltung eindeutig erfaßt oder ihre weitergehende Be- deutung abzuschätzen wäre.

Zu nennen sind im einzelnen:

a) Als Folge neuer ökonomischer Verhältnisse, des gewandelten Selbstverständnisses der Frau, einer Änderung der Rolle der Familie ist es zu einem Rückgang der Gebur- tenzahl gekommen. Nur die Konse- quenz für den Altersaufbau der Be- völkerung seien hier genannt.

b) Die Stärkung des Selbstbewußt- seins als mündiger Bürger mit dem Recht unbeschränkter Mitsprache hat auch für seine Rolle als Patient Bedeutung erlangt. Die Konsequen- zen zeigen sich in der Forderung nach verstärkter Aufklärung und kri- tischer Betrachtung des ärztlichen Handelns, einem damit einherge- henden Vertrauensschwund und der gestiegenen Bereitschaft, beim Aus- bleiben eines Erfolges einen ärztli- chen Kunstfehler zu vermuten. Die daraus entstandene Prozeßbereit- schaft hat ihrerseits in den USA be- reits die Operationsfreudigkeit und insbesondere die Sektionsfrequenz entscheidend verringert. Letzteres berichten Dohm und Grundmann auch aus der Bundesrepublik. Be- achtet man, daß zahlreiche Vorstel- lungen von der Pathogenese einer Reihe von Erkrankungen nur durch statistische Auswertungen von Langzeitstudien gewonnen werden,

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 17 vom 26. April 1979 1177

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Die Evolution des Gesundheitswesens

dann wird deutlich, daß die Sek- tionsmüdigkeit ungeahnte Auswir- kungen auf die weitere Entwicklung der Medizin haben kann. Die Sektion deckt u. a. die Fehldiagnosen auf, und wenn nur noch 10 Prozent der Verstorbenen seziert werden, dann wird die wesentliche Kontrolle für die Kliniker wegfallen.

c) Eine in Grenzen hedonistische Grundeinstellung des Einzelnen ist für eine aus ökonomischer Notwen- digkeit unter Konsumzwang stehen- de Gesellschaft vermutlich unver- meidbar. Ihr korrespondiert jedoch ein Verlust von Gemeinschaftsbe- wußtsein, wie es als tragendes Ele- ment der Solidargemeinschaft der Versicherten bisher zugrunde gele- gen hat. Der Versicherte erwartet heute für seinen Beitrag irgendeine Leistung in vergleichbarer Höhe, auch wenn sie medizinisch nicht in- diziert sein mag. Hierher gehören Maßnahmen der Kurmedizin, aber auch die Forderung nach bestimm- ten Medikamenten, einer ungerecht- fertigten Krankschreibung, nach stärkerer Liberalisierung der Abtrei- bung usw. Konsequenzen hiervon sind dann Ausweitungen von Be- handlungskapazitäten — weit über das „eigentlich" Notwendige hinaus

— ohne genau fixieren zu können, was „eigentlich" notwendig ist.

d) Die — oft nur scheinbare — Sicher- heit wissenschaftlicher Theorien, die Zuverlässigkeit technischer Ge- räte und die Perfektion in vielen Teil- bereichen des sozialen Lebens ha- ben zum Entstehen von Standards geführt, die teilweise absurd er- scheinen. Als Paul Ehrlich 1910 das Präparat 606 testete und das Ge- rücht eines Heilmittels gegen die Sy- philis in die Welt ging, sind Hunderte von verzweifelten Patienten nach Hoechst gereist, um für jeden Preis das Medikament so rasch wie mög- lich zu erhalten. Die Entwicklung von Salvarsan war ein Segen für die Menschheit — das gleiche Salvarsan hätte heute keinerlei Chancen, als Arzneimittel zugelassen zu werden.

Dasselbe gilt für Chloramphenicol, für Streptomycin, für viele bisher als nützlich angesehene Medikamente.

Peltzmann hat 1974 die Situation in

den USA untersucht und ist zu der Überzeugung gelangt, daß der Ver- braucher durch den Verkauf wir- kungsloser oder zu rasch vermarkte- ter und daher unter Umständen un- sicherer Medikamente wesentlich geringer geschädigt wird, als durch die verzögerte Einführung von neu- en Mitteln. Die Forderung nach möglichst absoluter Sicherheit be- ruht aber nicht nur auf einfacher Un- kenntnis und naiver Überschätzung der Möglichkeiten des menschli- chen Tuns, sondern zeigt auch die allgemeine Vermessenheit und Überheblichkeit, zu welcher der Mensch angesichts von vielen Erfol- gen gekommen ist. Er will einfach nicht mehr akzeptieren, daß jedes Leben tagtäglich Risiko beinhaltet, er will, daß die kleinste Störung sei- nes Befindens behoben wird und wird auch in Zukunft auf der Grund- lage dieser Haltung und eines stän- dig verfeinerten Standards seine Forderungen nach Weiterentwick- lung des Gesundheitswesens stel- len.

Die Frage was Gesundheit ist, läßt sich dabei nicht für alle Menschen gleich beantworten, vielmehr ist dies im hohen Umfang von sozialen Nor- men abhängig, die sich im Laufe des gesellschaftlichen Entwicklungs- prozesses differenzieren. Hier sei nur auf die umfangreiche Berichter- stattung in Fernsehen und Zeitun- gen über Gesundheitsprobleme hingewiesen, welche die Eigenbe- obachtung der Patienten fördern und sie immer rascher zum Arzt füh- ren.

e) Die technische Zivilisation ist durch den Wunsch des Menschen gefördert worden, sich vor den Un- billen der Natur und den•Wechselfäl- len des Lebens so weit als eben möglich zu schützen. Dies ist ihm in einer kaum vorstellbaren Weise ge- lungen: Unabhängig von jahreszeit- lichen Vegetationsschwankungen verfügen wir über einen Überfluß an Nahrung, Licht und Wärme, Mobili- tät und Zerstreuung, Arbeitserleich- terungen und unbegrenzte Informa- tionsmöglichkeit, Rechtssicherheit und soziale Absicherung sind Selbstverständlichkeiten des heuti-

gen Lebens. Das damit entstandene Gefühl allgemeiner materieller Si- cherheit hat aber die Notwendigkeit verringert, in der Vorstellung von ei- nem paradiesischen Jenseits Trost für die Beschwernisse des Diesseits zu suchen. Dies und andere Fakto- ren haben eine Rolle bei der Eman- zipation des modernen Menschen von überkommenen spirituellen Be- zügen gespielt. Der kulturelle My- thos, in dem der Mensch früher auf- gewachsen 'st, war aber nicht nur Nährboden türweitere Leistungen in Kunst und Wissenschaft, sondern er lieferte auch die tragende Vorstel- lung, um den Tod zu überwinden.

Mit der Emanzipation vom religiösen Glauben ist diese Möglichkeit in weitem Umfang genommen worden und dies muß sich zwangsläufig auch auf die Haltung zur Krankheit als einem fast unausweichlichen Vorspiel des Todes gegenüber aus- wirken.

Der Tod,

ein Versagen der Medizin?

Der Arzt war früher der persönliche Helfer in leiblicher Not, und man er- wartete von ihm, daß er die unver- meidbaren Leiden des Lebens lin- derte. Dies ist weder die alleinige Funktion, die heute der Patient von der Medizin und seinem Arzt erwar- tet, noch entspricht es dem, was sich der Arzt und die Medizin selbst zum Ziel gesetzt haben. Es geht nicht mehr nur um Linderung des Leidens im Rahmen der dualen Arzt- Patienten-Beziehung, es geht um die Beseitigung der Krankheit, es geht um ihre wissenschaftliche Überwindung und keine Grenze scheint zu weit, kein Einsatz zu hoch, um dies zu erreichen.

Die Krankheit selbst droht das vor- dergründige Objekt des naturwis- senschaftlichen Mediziners zu wer- den — nicht mehr so sehr der Patient.

Es geht letztlich um die faktische Überwindung des Todes, wenn auch vorerst nur jeweils zu einem be- stimmten Zeitpunkt, zu dem eben ei- ne Krankheit eintritt, dies scheint uneingestanden das letzte Ziel der modernen Medizin zu sein.

1178 Heft 17 vom 26. April 1979 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

(11)

Gesundheitswesen

Dies könnte auch die tiefere Ursache dafür sein, den Tod des Patienten so oft als ein Versagen der Medizin zu empfinden -einer Medizin, die heu- te Dinge ermöglicht, wie sie vor 50 Jahren undenkbar schienen und die, so gesehen, so erfolgreich war wie nie zuvor. Die viel weiter gehende Frage jedoch, ob damit der Mensch auch glücklicher geworden ist, sei dahingestellt. Die vor 50 Jahren un- denkbare und unvorstellbare Ent- wicklung der Medizin hat sich aus logischer Notwendigkeit und ohne globale Planung im freien Spiel un- zähliger Kräfte und durch die Elimi- nation von falschen Lösungen und die Förderung richtiger ergeben.

Solche Erfahrungen und die Beteili- gung so vieler, außerordentlich schwer überschaubarer Faktoren sollten ein Anlaß sein, auch für die nächsten 50 Jahre der Evolution zu vertrauen und mit einer grundsätzli- chen Steuerung Zurückhaltung zu

üben. Die Entwicklung des Gesund-

heitswesens wird in jedem Falle wei- tergehen, aber weder seine Ziele noch seine Grenzen sind technokra- tisch zu bestimmen.

(Nach einem am 21. März 1979 im Rahmen einer Gesundheitspoliti- schen Fachtagung der Hermann-Eh- lers-Stiftung in Bremen gehaltenen Vortrag)

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med. Michael Arnold Anatomisches Institut

der Universität Tübingen Lehrstuhl 111

Osterbergstraße 3 7400 Tübingen 1

Empfehlungen für den Sprachbehinderten- Unterricht

Die Ständige Konferenz der Kul- tusminister der Länder hat jetzt

"Empfehlungen für den Unterricht

in der Schule für Sprachbehin- derte (Sonderschule)" erlassen, nachdem zuvor schon entspre- chende Richtlinien für den Son- derunterricht verhaltensgestörter und lernbehinderter Kinder verab- schiedet worden waren. Die Emp- fehlungen sollen für schulpflichti- ge Kinder mit schweren Sprach- störungen gelten, denen allein mit schulbegleitenden oder zeitlich begrenzten stationären Behand- lungen nicht geholfen werden kann, darunter hochgradige Ent- wicklungsverzögerungen der Sprache mit den Symptomen des multiplen oder universellen Stam- meins und/oder des Dysgramma- tismus, früh erworbenen Störun- gen der ausgebildeten Sprache wie Aphasie, Dysphasie, zentrale Entwicklungsbehinderungen der Sprache wie Hörstummheit, aku- stische Agnosie, Stottern und Pol- tern.

..,. Die Kultusministerkonferenz empfiehlt eine umfassende son- derpädagogische Diagnose, die in Zusammenarbeit von Ärzten, Psy- chologen und Lehrern erstellt wer- den soll. Darauf solle eine gezielte Sprachtherapie aufbauen, bei der die individuell eingeschränkten Fähigkeiten in den Bereichen der Sprachaufnahme, der Sprachver- arbeitung und der Sprachgestal- tung, ferner der Atmung, Stimm- gebung, Artikulation, Motorik, Sensorik sowie des Sozialverhal- tens behandelt werden sollen. Die Therapien sollen nach Möglichkeit schon im Vorschulalter einsetzen und später als begleitende Indivi- dual- oder Gruppentherapien zu- sätzlich zur sprachtherapeuti- schen Förderung im Unterricht weitergeführt werden.

Die Kultusminister wollen die Son- derschule für Sprachbehinderte

Spektrum der Woche Aufsätze ·Notizen NACHRICHTEN

als eine "Durchgangsschule" ver- standen wissen, die das Über- wechseln der Schüler in die allge- meine Schule (nach der Grund- schulzeit) anstreben soll.

Die konkreten Unterrichtsempfeh- lungen sehen gezielte Förderun- gen in den sprachlichen, senso- motorischen, psychosozialen und kognitiven Bereichen vor. Dabei sollen der Wortschatz erweitert und gefestigt, die Sprachfreude geweckt und die Sprachmelodie gefördert werden. Die Wahrneh- mung soll verbessert und die Be- wegungskoordination der Sprach- motorik geübt werden. Psychische Hemmungen sollen abgebaut, das Selbstwertgefühl gestärkt und So- zialverhalten eingeübt werden. Schließlich sollen die Worttindung gefördert und das Sprachver- ständnis erweitert werden. Neben den pädagogischen Maßnahmen während des Unterrichts und den begleitenden medizinischen und psychologischen Therapien sehen die Empfehlungen auch vor, die Eitern gezielt in die Probleme ein- zuführen und sie über die Mög- lichkeiten der ärztlichen, sonder- pädagogischen und psychothera- peutischen Behandlungsmöglich- keiten aufzuklären. Die Kultusmi- nisterkonferenz beabsichtigt, die Serie ihrer Sonderschulempfeh- lungen durch weitere Richtlinien für geistig behinderte, blinde, sah- behinderte, gehörlose, schwerhö- rige und körperbehinderte Kinder

fortzusetzen. CU

Schwerbehinderte:

Freifahrten angestrebt

Schwerbehinderte, deren Er- werbsfähigkeit um wenigstens 50 Prozent gemindert ist, sollen künf- tig öffentliche Nahverkehrsmittel kostenfrei benutzen können. Ein entsprechendes Gesetz verab- schiedete der Deutsche Bundes- tag am 29. März einstimmig. Falls der Bundesrat zustimmt, wird die Neuregelung voraussichtlich im Spätsommer dieses Jahres in Kraft

treten. EB

DEUfSCHES ARZTEBLATT

Heft 17 vom

26.

April1979 1179

Referenzen

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