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ntihistaminika der ersten Ge- neration (AH1G), die im frei- en Verkauf in Apotheken erhältlich sind, bergen als Hypnotika und Se- dativa für Kinder und Jugend - liche zahlreiche Sicherheitsrisiken.Ihre Verwendung sollte daher einge- schränkt werden, fordert die Kom- mission für Arzneimittelsicherheit im Kindesalter (KASK) der Deut- schen Gesellschaft für Kinder- und
Jugendmedizin in einem aktuellen Positionspapier.
Antihistaminika der ersten Ge - neration (zum Beispiel Doxyla- min, Diphenhydramin, Dimenhy- drinat [Diphenhydramin-Theophyl- linat], Promethazin) sind als Anti - emetika und – in Kombination mit anderen Wirkstoffen – in Husten- und Erkältungspräparaten weit ver- breitet. Da ihre sedierende Wirkung allgemein bekannt ist, kann man davon ausgehen, dass diese Produk- te ebenfalls zur Beruhigung bezie- hungsweise auch zur Ruhigstellung
außerhalb ihrer Zulassung (off-la- bel use) eingesetzt werden – auch von Haus- und Allgemeinärzten.
Pädiatrische Pharmakologie: Ne- ben der antihistaminischen und an - tiallergischen Wirkung entfalten AH1G zentralnervöse und anticho - linerge (antimuskarinerge) Wirkun- gen. Während die Hemmung des pe- ripheren H1-Rezeptors die allergi- sche Symptomatik unterdrückt, ver-
ursacht die Blockade der zerebra- len H1-Rezeptoren zentralnervöse Symptome. Dadurch tritt bereits bei üblicher Dosierung ein ausgeprägter und langandauernder (> 24 Stun- den) sedierender Effekt ein, der bei älteren Kindern zu Tagesmüdigkeit, Benommenheit, Konzentrationsstö- rungen, bei toxischer Dosis sogar zu Halluzinationen und Krämpfen füh- ren kann. Bei Säuglingen ist dage- gen vermehrt mit zentralen Atem- störungen und – im ungünstigsten Fall – mit einem kardiorespiratori- schen Kollaps zu rechnen.
Die anticholinerge, Atropin-ähn- liche (Neben-)Wirkung ist nicht nur für die erwünschte antiemeti- schen Wirkung, sondern auch für häufig zu beobachtende uner- wünschte Mundtrockenheit, Sekret- eindickung (cave: obstruktive Atem- störung!), Blasenentleerungsstörung, Obstipation, tachykarde Herzrhyth- musstörung (QT-Zeitverlängerung) und unter Umständen für das zen- trale anticholinerge Syndrom ver- antwortlich zu machen.
Nach Angabe der Fachinformati- on sind vor allem Kinder bei ei- ner Dimenhydrinatvergiftung durch eine zentrale Vagusblockade le- bensbedrohlich gefährdet.
Aus diesen Gründen wurden für die Behandlung von Allergien die AH1G weitgehend durch neuere, nicht sedierende H1-Rezeptorant - agonisten ersetzt. Aber wegen der sedierenden, allgemein zentralner- vös dämpfenden und damit auch antiemetischen Eigenschaft sind diese „Altsubstanzen“ weiterhin in verschiedenen Darreichungsformen verfügbar. Für Kinder ab dem sechs- ten Lebensmonat können beispiels- weise ohne Rezept in den Apotheken erworben werden:
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Doxylamin als Sedaplus® Saft oder als Mereprine® Sirup zur Be- handlung von Unruhe, Erregungszu- ständen und Schlafstörungen●
Diphenhydramin sowie Di- menhydrinat mit der ausgeprägtes- ten antimuskarinergen Wirkung als Emesan® Kinderzäpfchen bezie- hungsweise als Vomex A® Saft und Vomacur/Vomex A® Suppositorien zur symptomatischen Behandlung von Übelkeit und Erbrechen●
Doxylamin mit Extrakten von Weißdorn, Mistel, Passionsblume, Hopfen und Hafer in dem (harm- PÄDIATRIERezeptfreie Antihistaminika bergen Risiken für Kleinkinder
Für eine Reihe von Präparaten mit Antihistaminika der ersten Generation fordert die Kommission für Arzneimittelsicherheit im Kindesalter der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin die Rezeptpflicht.
Problembewusst- sein stärken: Ärz- te und Apotheker sollten Eltern ver- mehrt über die möglichen Risiken von Antihistaminika der ersten Genera -
tion aufklären.
Foto: mauritius images
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14. September 2012 A 1823 los erscheinenden) pflanzlichenSaft Curatan nach E. Gallner als Se- dativum
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Doxylamin, Ephedrin, Dex- trometorphan und Paracetamol in Wick MediNait® ErkältungssirupKombinationsprodukte mit zentral wirksamen Substanzen Das ungünstige Nutzen-Risiko-Ver- hältnis der AH1G-Monosubstanzen wird durch die Komedikation mit weiteren zentral-wirksamen Substan- zen (Dextromethorphan, Ephedrin) in Kombinationsprodukten zusätz- lich negativ beeinflusst (CYP2D6- Stoffwechselweg). Erschwerend kommt hinzu, dass der CYP2D6- Metabolismus nicht nur einen deut- lichen genetischen Polymorphis- mus aufweist, sondern im ersten Lebensjahr auch einem funktio - nellen Reifungsprozess unterwor- fen ist. Erwachsenen werden die
„Alt-Antihistaminika“ wegen ihres ungünstigen Nebenwirkungsprofils nicht mehr empfohlen.
Angesicht der vielfältigen offe- nen Fragen zur Pharmakokinetik und -dynamik der AH1G stellt sich die Frage, welche Daten zur Wirk- samkeit und Verträglichkeit die Hersteller beim Abschluss der Nachzulassung im Jahre 2005 dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte vorgelegt haben.
In den Jahrzehnten zuvor hatte man aus missverstandener Rück- sichtnahme auf die Durchführung von aussagekräftigen Zulassungs- studien bei Kindern (insbesondere bei Säuglingen und Kleinkindern) verzichtet.
Zum jetzigen Zeitpunkt, in dem die Hersteller nicht mehr in der Pflicht zu stehen scheinen, ist es we- sentlich schwieriger, belastbare Hin- weise oder gar Beweise zur Bedenk- lichkeit dieser Wirkstoffgruppe bei Kleinkindern in Deutschland zusam- menzutragen. Dies gilt vor allem für den missbräuchlichen Einsatz.
Die Ein- bis Dreijährigen sind aus zweierlei Gründen vor AH1G- haltigen Arzneimitteln besonders zu schützen: In dieser frühen Ent- wicklungsphase reagieren Kinder allgemein auf ZNS-wirksame Wirk- stoffe (Morphin, Nikotin, GABAer- ge Antikonvulsiva) gesteigert mit
Atemdepression und Krämpfen, mit
„paradoxen“ Reaktionen wie Unru- he und Erregung sowie mit einer ge- steigerten Neurotoxizität mit Spät- folgen für die weitere zerebrale Ent- wicklung. Erst jenseits des zweiten Lebensjahrs, wenn die von caudal nach rostral fortschreitende zere - brale Entwicklung ihren Höhepunkt überschritten hat, nimmt diese er- höhte Vulnerabilität ab (6).
Zudem sind Ein- bis Dreijährige wegen hoher Prävalenz an Atem- wegsinfektionen (sechs pro Jahr), die meist von Unruhe, Husten und Erbrechen begleitet sind, am stärks- ten mit AH1G-haltigen Arzneimit- teln exponiert. Während die sedie- rende Wirksamkeit gut belegt ist, ist der Nutzeffekt bezüglich der sym - ptomatischen Behandlung der Atem- wegsinfekte wissenschaftlich eher widerlegt. Ähnliches trifft für die Antibiotikaverordnungen zu, die häufig (80 Prozent) nicht indiziert sind. Beide Phänomene werden of- fensichtlich durch die enorme Er- wartungshaltung seitens der unter Druck stehenden Eltern verursacht.
In den letzten Jahren mehren sich die Bedenken vor allem, wenn Kleinkinder AH1G-haltige Husten- und Erkältungsmittel einnehmen.
So wird zunehmend gefordert, auf- grund sorgfältiger Anamneseerhe- bung gezielt toxikologische Unter- suchungen vorzunehmen und neben der unbeabsichtigten auch die be -
absichtigte Überdosierung in Erwä- gung zu ziehen.
In den USA mussten die Centers of Disease Control and Prevention bei den Berichten über Notaufnah- men von Vergiftungsfällen mit Hus- ten und Erkältungsmitteln im Jahr 2008 bei circa 50 Prozent der be- troffenen Kinder unter zwei Jahren als naheliegende Erklärung für die Intoxikation von einer beabsichtig- ten Überdosierung durch den Be- treuer ausgehen.
Zurzeit werden in Deutschland leider aber nur im Ausnahmefall bei plötzlichem Kindstod und ande- ren ungeklärten Todesursachen im Säuglings- und Kleinkindalter to - xikologische Untersuchungen, die auch die AH1G-haltigen-Husten- mittel einbeziehen, vorgenommen;
dies obwohl in einem hohen Pro- zentsatz respiratorische Infektionen mit Hustenproblemen vor dem Tod angegeben werden (7).
Hoher Prozentsatz von
„Under-Reporting“
Diese toxikologische Unterbewer- tung mag auch dadurch bedingt sein, dass diese leicht verfügbaren OTC-Produkte als harmlos betrach- tet wurden und werden. In der Tat liegt in Deutschland nur wenig be- lastendes Datenmaterial vor. Es ist aber davon auszugehen, dass neben der geringen toxikologischen Unter- suchungsrate in der Rechtsmedizin auch mit einem hohen Prozentsatz von „Under-Reporting“ bei den für Arzneimittelsicherheit zuständigen Institutionen zu rechnen ist (1–5).
In Frankreich sind AH1G -haltige Arzneimittel wegen des ungünsti- gen Nutzen-Risiko-Verhältnisses für Säuglinge und Kleinkinder bereits kontraindiziert (8). Und in den USA ist der Vertrieb von AH1G- haltigen Kombinationsprodukten ge- gen Husten- und Erkältungskrank- heiten bei Kindern unter vier (sechs) Jahren eingestellt worden.
Diese Vorgehensweise sollte auch in Deutschland erfolgen.
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Prof. Dr. med. Hannsjörg W. Seyberth für die Kommission für Arzneimittelsicherheit im Kindesalter der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin
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Literatur im Internet:www.aerzteblatt.de/3712
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Steigerung des Problembewusstseins und der UAW- Melderate bei Ärzten, Apothekern und Eltern durch Aufklä- rungsinitiativen in Fachzeitschriften und der Laienpresse.●
Kooperation zwischen den Zulassungsbehörden, Arzneimittelkommissionen, Gerichtsmedizinern, Giftin - formationszentralen, Kostenträgern und Arzneimittelher- stellern zur Erstellung einer besseren Datenlage in Deutschland.●
Erfassung der AH1G-Umsätze ähnlich wie bei der KiGGS- Erhebung, die ergab, dass in den letzten Jahren der Antibiotikaverbrauch bei Kindern gestiegen ist.●
Erweiterung der Fachinformation, Begrenzung der Packungsgröße und Rezeptpflicht für Kinder/Jugendliche.●
Vor Vollendung des dritten Lebensjahr sollten alle AH1G- haltigen Arzneimittel nur noch nach einer gründli- chen Nutzen-Risiko-Abwägung von Kinder- und Jugend- ärzte verordnet werden können.MASSNAHMENKATALOG
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LITERATURVERZEICHNIS HEFT 37/2012 ZU:
PÄDIATRIE
Rezeptfreie Antihistaminika bergen Risiken für Kleinkinder
Für eine Reihe von Präparaten mit Antihistaminika der ersten Generation fordert die Kommission für Arzneimittelsicherheit im Kindesalter der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin die Rezeptpflicht.
LITERATUR
1. Baker AM, Johnson DG, Levisky JA, Hearn WL, Moore KA, Levine B, Nelson SJ: Fatal diphenhydramine intoxication in infants. J Forensic Sci 2003; 48: 425–8.
2. Vennemann B, Bajanowski T, Karger B, Pfeiffer H, Köhler H, Brinkmann B: Suffoca- tion and poisoning—the hard-hitten sode of Munchausen syndrome by proxy. Int J Legal Med 2005; 119: 98–102.
3. Wingert WE, Mundy LA, Collins GL, Chmara ES: Possible role of pseudoephendrine and other over-the-counter cold medications in death of very young children. J Forensic Sci 2007; 52: 487–90.
4. Rimsza ME, Newberry S: Unexpected infant death associated with use of cough and cold medications. Pediatrics 2008; 122:
318–22.
5. Dart RC, Paul IM, Bond GR, Winston DC, Manoguerra AS, Palmer RB, Kauffman RE, Banner W, Green JL, Rumack BH: Pediatric fatalities associated with over the counter cough and cold medications. Ann Emerg Med 2009; 53: 411–7.
6. Seyberth HW, Kauffman RE: Basics and dy- namics of neonatal and pediatric pharma- cology. Handb Exp Pharmacol 2011; 205:
3–49.
7. Findeisen M, Vennemann M, Brinkmann B, Ortmann C, Röse I, Köpcke W, Jorch G, Ba- janowski T: German study on sudden infant death (GeSID): design, epidemiology and pathological profile. Int J Legal Med 2004;
118: 163–9.
8. Report of Commission nationale de phar- macovigilance at Afssaps, Mai 2010;
ansm.sante.fr/var/ansm_site/storage/origi nal/application/
18773e236e1d85d687a28d6e2f44878d.