Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 15⏐⏐10. April 2009 251
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elche Therapie ist indiziert: Bypassoperation (arteriokoronarer Bypass, ACB) oder perkuta- ne Koronarintervention (PCI) oder ausschließlich medikamentöse Behandlung? Die Frage ist für den Patienten mit koronarer Herzkrankheit (KHK) von vi- talem Interesse. Er erwartet vom behandelnden Arzt eine ausgewogene Information über diejenige Be- handlung, die in seinem individuellen Fall den größ- ten Erfolg erwarten lässt. Aber gerade im Falle der Therapie der KHK ließ die Ausgewogenheit der ärztli- chen Aufklärung häufig zu wünschen übrig. Insofern ist die von einem interdisziplinären Autorenteam ver- fasste Übersichtsarbeit zur interventionellen Differen- zialtherapie der chronischen KHK sehr zu begrüßen.Diskussionen zwischen Kardiologen und Herzchir- urgen über den Stellenwert der interventionellen The- rapie verwirrten in der Vergangenheit oft mehr, als dass sie zur Klärung beitrugen. Insbesondere dann, wenn die Kontroversen nicht wissenschaftlich be- gründet, sondern polemisch ausgetragen wurden – mit Äußerungen wie „die Herzchirurgie wird überflüssig, weil die Fortschritte der PCI nicht mehr einholbar sind“ oder „die Herzchirurgie ist der PCI ganz eindeu- tig überlegen.“
Solch einseitige Betonung eines Fachgebietes ist heute ebenso unangebracht wie die mangelnde Darle- gung von Behandlungsoptionen: die Glaubwürdigkeit des Spezialisten wird in Frage gestellt, das Vertrauen des Patienten in seinen Arzt schwindet.
Es gilt vielmehr darzulegen, dass die verschiedenen Behandlungsoptionen je nach den Umständen bei Pa- tienten mit einer chronischen KHK ausgezeichnete Ergebnisse erzielen können. Ob das eine oder das an- dere Verfahren besser ist, kann nur individuell ent- schieden werden. Das für einen Patienten aussichts- reichste Verfahren zu wählen, ist eine Aufgabe, die in komplexen Fällen Spezialisten und Hausärzte nur ge- meinsam lösen können.
Um zur Differenzialindikation von PCI und ACB sowie zu weiteren strittigen Fragen der Behandlung einen Beitrag zur Konsensfindung zu leisten, erarbei- teten die zuständigen Fachgesellschaften im Rahmen des Programms für Nationale Versorgungsleitlinien (Träger: Bundesärztekammer, Kassenärztliche Bundes- vereinigung und Arbeitsgemeinschaft der wissenschaft-
lichen medizinischen Fachgesellschaften [AWMF]) zwischen den Jahren 2002 und 2006 eine Versor- gungsleitlinie (Bekanntmachungen: Nationale Versor- gungsLeitlinie Chronische KHK. Dtsch Arztebl 2006;
103[44]: A 2968 ff).
Die Empfehlungen dieser S3-Leitlinie wurden von Experten aus sechs wissenschaftlichen Organisatio- nen konsentiert: der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) sowie den Deutschen Gesellschaften für Allgemeinmedizin und Familien- medizin (DE-GAM), für Innere Medizin (DGIM), für Kardiologie (DGK), für Prävention und Rehabilitati- on von Herz-Kreislauferkrankungen (DGPR) und für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie (DGTHG). Die vorliegende, aktualisierte Übersichtsarbeit geht aus dieser Nationalen Versorgungsleitlinie hervor und ist auf Initiative der DGK und der DGTHG entstanden.
Die Nationale VersorgungsLeitlinie (NVL) KHK wurde im August 2006 als Leitlinie der Bundesärzte- kammer beschlossen.
Mehr als zwei Jahre nach der Veröffentlichung ist allerdings festzustellen, dass sie in der Versorgungs- routine nicht in dem Umfang angekommen ist, wie sich dies Herausgeber und Autoren gewünscht haben.
Die Probleme im Zusammenhang mit der mangeln- den Befolgung der NVL-Empfehlungen im Praxisall- tag wurden kürzlich in einem Expertengespräch der Deutschen Herzstiftung diskutiert. Die geladenen Fachleute, namhafte Herzchirurgen und Kardiologen, erhoben keinerlei Einwände gegen die Aussagen der Nationalen VersorgungsLeitlinie Chronische KHK.
Als kritischste Punkte für die Implementierung der Leitlinienempfehlungen identifizierte die Expertenrun- de die mangelnde Absprache der Ärzte untereinander sowie die unzureichende Information des Patienten im Rahmen der Auswahl des Behandlungsregimes. Die Entscheidung, ob eine Bypassoperation oder eine PCI gewählt wird, werde stark davon beeinflusst, wer die Patienten informiert. Meist seien es die Kardio- logen, die von den Patienten mit einer chronischen KHK zuerst aufgesucht würden. Sie stellten die Dia- gnose, urteilten und (be)handelten. Ohne Diskussion erführen Patienten oft nicht, dass in ihrem Fall eine Bypassoperation möglicherweise die bessere Option wäre. Auch der umgekehrte Fall käme gelegentlich EDITORIAL
Interdisziplinäre
Entscheidungsfindung
Expertenstatement zur Therapie bei chronischer koronarer Herzkrankheit Hans-Jürgen Becker, Günter Ollenschläger
Deutsche Herzstiftung e.V., Frankfurt:
Prof. Dr. med. Becker Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin, Berlin:
Prof. Dr. rer. nat.
Dr. med.
Ollenschläger Editorial zum
Beitrag:
„Differenzialtherapie der chronischen koronaren Herzkrankheit“
von Ruß, Cremer, Krian, Meinertz, Werdan und Zerkowski auf den folgenden Seiten
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vor. Der Patient werde vom weniger erfahrenen Kar- diologen zum Herzchirurgen geschickt und operiert, ohne zu wissen, dass eine PCI für ihn die bessere Al- ternative gewesen wäre.
Alle Teilnehmer des Expertengesprächs hielten es deshalb für nötig, dass in kritischen Konstellationen Kardiologen und Herzchirurgen gemeinsam die Ent- scheidung über das jeweilige Verfahren treffen. Sie waren sich zudem einig, dass richtige Aufklärung und Beratung des Patienten in kritischen Bereichen nur nach offener Diskussion zwischen Kardiologen und Herzchirurgen erfolgen kann. Die Entscheidung sollte die Erwartungen des Patienten berücksichtigen und die kurz- und langfristigen Vor- und Nachteile der Therapiemöglichkeiten abwägen. Das Ergebnis dieser Entscheidung wird entweder vom Kardiologen oder vom Herzchirurgen mit dem Patienten besprochen.
Der Hausarzt ist zwingend mit einzubeziehen.
Für die Deutsche Herzstiftung als eine der größten Patientenorganisationen auf dem Gebiet der Herz- Kreislauferkrankungen steht der Herzpatient im Mit- telpunkt der Bemühungen um Prävention und Auf- klärung. Die vorliegende Übersichtsarbeit unterstützt ihr Anliegen auf vorbildliche Weise und dokumentiert einen Meilenstein in der Zusammenarbeit von Herz- chirurgie und Kardiologie mit dem Ziel der bestmög- lichen Information und Therapie des Patienten bei chronischer KHK. Die Publikation belegt, dass sich die scheinbar konkurrierenden Verfahren ACB und PCI sinnvoll in ein komplementäres Behandlungskon- zept einordnen.
Dass es gelungen ist, sowohl auf der Grundlage von Studienergebnissen als auch von Diskussionsrunden und Expertengesprächen einen interdisziplinären Konsens zur interventionellen/operativen Differen- zialtherapie bei chronischer KHK zu finden, verdient größte Anerkennung. Unser Dank gilt daher allen Au- toren und Beteiligten.
Die Ausführungen der Autoren sind ein Appell an die Verantwortlichen im Gesundheitswesen, noch stärker als bisher auf die interdisziplinäre Entschei- dungsfindung bei der Behandlung von Menschen mit chronischer KHK hinzuwirken.
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.
Anschriften der Verfasser Prof. Dr. med. Hans-Jürgen Becker Deutsche Herzstiftung e.V.
Vogtstraße 50 60322 Frankfurt
Prof. Dr. rer. nat. Dr. med. Günter Ollenschläger Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin Wegelystraße 3
10623 Berlin
Interdisciplinary Decision Making—Expert Statement on the Treatment of Chronic Coronary Artery Disease
Dtsch Arztebl Int 2009; 106(15): 251–2 DOI: 10.3238/arztebl.2009.0251
The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de
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Berichtigung
In dem Beitrag „Vorsorgemuffel oder Screeningversa- ger? Vorsorgeverhalten von Patienten mit kolorektalem Karzinom in der Region Leipzig“ von Konrad Schopp- meyer et al. in Heft 12 des Deutschen Ärzteblattes vom 20. März 2009 sind zwei Fehler aufgetreten.
1. In der Legende zu Grafik 2heißt es: „Vorsorgeun- tersuchungen in den 10 Jahren vor Diagnostestel- lung bei a) allen Patienten (n = 212)“. Diese An- gabe ist falsch. Die richtige Zahl lautet: „... bei a) allen Patienten (n = 204)“.
2. Bei der Grafik 4 bist die Beschriftung der x-Ach- se „Monate nach negativer Koloskopie“ falsch.
Die richtige Bezeichnung lautet: „Jahre nach ne- gativer Koloskopie“. Ferner ist die Höhe der Bal- ken (Anzahl der Patienten) nicht korrekt. Die ex- akte Balkenhöhe ist in der folgenden Grafik 4 b
korrigiert: Zeitspanne zwischen letzter unauffälliger Vorsorgeuntersuchung und Diagnose des kolorektalen Karzinoms (Koloskopie [n = 25])