Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 47½½½½24. November 2000 AA3125
S E I T E E I N S
B
udgetierung führt zu Rationie- rung. Diese von der Ärzteschaft unbeirrt wiederholte Feststellung für das Gesundheitswesen hat jetzt offenbar auch der Sachverständi- genrat zur Begutachtung der ge- samtwirtschaftlichen Entwicklung übernommen.Im jüngsten Jahresgutachten stel- len die fünf „Wirtschaftsweisen“ die Beitragssatzstabilität für die Gesetz- liche Krankenversicherung (GKV) infrage. Während Politiker stets behaupten, die Ärzte forderten mehr Geld für das Gesundheitssy- stem, um ihre eigenen Honorare zu verbessern, meinen die Gutachter:
„Höhere Beitragssätze stellen kei- ne Fehlentwicklungen dar, wenn die ihnen zugrunde liegenden Ausga- bensteigerungen das Ergebnis ver- änderter Krankheitsspektren, demo- graphischer Entwicklungen, medizi-
nisch-technischen Fortschritts oder geänderter Präferenzen sind.“
Eine Steilvorlage für die Ärzte:
Veränderte Krankheitsspektren?
Chronische Erkrankungen haben in den letzten Jahren deutlich zuge- nommen und belasten die Budgets im Gesundheitswesen dauerhaft.
Demographische Entwicklungen?
Die Lebenserwartung steigt, die Geburtenrate ist rückläufig. Folglich gibt es immer weniger junge GKV- Versicherte, die die Krankenversi- cherung der Rentner subventionie- ren können. Zwar ist es falsch, dass jeder versicherte Rentner dem Sy- stem besonders viel Geld kostet.
Die durchschnittlichen Aufwendun- gen je Rentner in der GKV sind aber deutlich höher (1998: 6 372 DM) als die der erwerbstätigen Mitglieder (1998: 2 460 DM); jeweils einschließ- lich der beitragsfrei Mitversicherten.
Medizinischer Fortschritt? Bio- und gentechnische Anwendungen eröff- nen neue Behandlungsalternativen und revolutionieren die Medizin – gewiss nicht zum Nulltarif. Geänder- te Präferenzen? Die privaten Aus- gaben der Bundesbürger für Ge- sundheitsleistungen steigen konti- nuierlich. Vielleicht auch ein Zei- chen dafür, dass immer mehr Men- schen den Druck des Arbeitsmark- tes spüren und es sich einfach nicht mehr leisten können, krank zu sein und nicht zu „funktionieren“.
Bleibt zu hoffen, dass Bundes- kanzler Gerhard Schröder, dem das Jahresgutachten in Berlin überge- ben wurde, und Bundesgesundheits- ministerin Andrea Fischer die Si- gnale wahrnehmen (wollen). Es gibt gute Argumente, sich vom Diktum der Beitragssatzstabilität zu verabschieden. Jens Flintrop
Wirtschaftsgutachten
Steilvorlage
D
ie Enthüllung von Greenpeace kam genau passend. Einen Tag be- vor die Konferenz der zwanzig Staa- ten zur Revision des Europäischen Patentübereinkommens in München begann, „entdeckte“ Greenpeace wieder einmal ein dubioses Patent.Das Patentamt hatte es einem austra- lischen Unternehmen auf die Erzeu- gung von Chimären aus Mensch und Tier erteilt. Die Patenterteilung liegt schon zwei Jahre zurück. Green- peace dürfte den Vorgang schon seit einiger Zeit kennen und trat jetzt da- mit in die Öffentlichkeit, um in die Münchener Beratungen auch die um- strittene Frage der Erteilung von Pa- tenten auf Leben hineinzuzwingen.
Das Europäische Patentamt ist hierin in den vergangenen Monaten
mehrfach ins Fettnäpfchen getreten.
Die Patentämtler erscheinen über- rascht davon, dass ihre doch ei- gentlich so technischen Entschei- dungen in der Öffentlichkeit für Unruhe sorgen und auf Unverständ- nis stoßen.
Mit Patenten wird geistiges Ei- gentum geschützt. Eine Patentertei- lung bedeutet nicht die Genehmi- gung, etwas unter Umgehung von Gesetzen zu tun, geschweige denn die Erlaubnis, gegen ethische Nor- men zu verstoßen. So etwa ist die Argumentation des Patentamtes.
Greenpeace und viele andere, die in solchen Fragen ähnlich denken, argumentieren auf einer anderen Ebene. Sie zielen auf verbindliche gesetzliche Regelungen, mit denen
bestimmte Patente auf Leben unter- sagt werden sollen.
In der Tat wäre das Aufgabe für den Gesetzgeber. Aber welchen?
Nicht einmal in Europa konnte man sich bisher in bioethischen Fragen auf strikte ethische Normen verständi- gen. Dennoch – die europäischen Ge- setzgeber, vielleicht das Europaparla- ment, sollten sich an die Erarbeitung von Normen machen. Die Erwartun- gen dürfen freilich nicht zu hoch ge- schraubt werden. Europa, insbeson- dere die Europäische Union, ist zwar, wie neuerdings versichert wird, eine Wertegemeinschaft. Doch nach allen Erfahrungen mit bioethischer Nor- mierung wird hierbei die wirtschaft- liche Verwertung als höchster Wert gehandelt. Norbert Jachertz