DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
ie Diskussion um die ge- setzliche Absicherung des allgemeinen Pflegerisikos verläuft in einseitigen Bah- nen. Dadurch wird der Blick für an- dere wesentliche Reformpunkte, die mit dem überaus kostenträchtigen Projekt zusammenhängen, verstellt.
Konkret: Die reformpolitische Dis- kussion konzentriert sich bisher fast ausschließlich auf Fragen der Ko- stenträgerschaft und den Umfang der Leistungspflicht sowie organisa- torische Fragen der Finanzierung.
Ebenso wichtige Fragen der Art und Weise, wie die Pflegeleistungen er- bracht, wie sie organisiert und die Qualitätssicherung sowohl im ambu- lanten als auch im stationären Be- reich gewährleistet werden sollen, sind bislang entweder völlig ausge- klammert oder nur beiläufig andis- kutiert worden. Ebenso in den Hin- tergrund gerückt worden sind Fra- gen einer Überprüfung der Bela- stungsfähigkeit der Familien, der so- zialen Absicherung der Pflegeperso- nen und Fragen der Wahrung des Persönlichkeitsrechts von Pflegen- den. Darauf aufmerksam gemacht zu haben, ist das Verdienst eines viel beachteten interdisziplinären Sym- posions der Gesellschaft für Versi- cherungswissenschaft und -gestal- tung (GVG), das erfreulicherweise über die reine Ist-Analyse hinaus- ging (die Protokollbroschüre liegt in- zwischen gedruckt vor und kann bei der Gesellschaft, Prälat-Otto-Mül- ler-Platz 2, W-5000 Köln 1, angefor- dert werden).
In der aktuellen sozial- und ge- sundheitspolitischen Debatte geht es hauptsächlich um pragmatische Lö- sungsansätze für die Finanzierung und die sozialversicherungsrechtli- che Ausgestaltung einer sozialen Pflegeversicherung — in einem eigen- ständigen, haushalts- und finanzie- rungstechnisch abgegrenzten fünften Sozialleistungszweig unter dem
„Dach" der gesetzlichen Kranken- versicherung. Die Ist-Analyse der derzeitigen Versorgungssituation („Defizit-Diagnose") ist ziemlich komplett und widerspruchsfrei. Da- gegen ist bei der Frage der zielge- rechten Organisation und Kostenträ- gerschaft im Pflegebereich der Blick in eine Richtung verstellt worden:
nämlich die nur eine denkmögliche Alternative der Finanzierung über kollektive Beiträge (der Versicher- ten und ihrer Arbeitgeber) oder über eine reine Steuerfinanzierung (letz- tere wird aber wegen der angespann- ten finanziellen Situation der öffent- lichen Hände kaum politisch reali- sierbar sein). Dagegen wird völlig au- ßer acht gelassen, daß die Finanzie- rungslast bei der Absicherung des Pflegerisikos durchaus auch auf mehrere Finanziers, Versicherungs- träger und verschiedene Leistungs- bereiche verteilt werden kann. So könnten beispielsweise die Bundes- länder dazu animiert werden, ihre
Pflegerisiko:
Konzepte mit Schietlage
Landespflegegesetze zu verabschie- den, wie dies bereits in Berlin, Bre- men und in Rheinland-Pfalz gesche- hen ist, so das Votum des Hambur- ger Sozialrechtlers Prof. Dr. jur. Ger- hard Igl auf dem GVG-Forum. Aber auch andere Lösungskonzepte wer- den auf Bundesebene erörtert, die die Finanzierungslasten auf mehrere Schultern verteilen wollen (Bundes- ärztekammer, DAG u. a.), die organi- satorische Abwicklung aber bei einem Träger bündeln wollen (so auch das Bundesarbeitsministerium).
Es ist keine Frage, daß im Zuge einer umfassenden konzeptionsori- entierten Lösung der Pflegeproble- matik in erster Linie nicht nur Finan- zierungsfragen, sondern auch emi- nent wichtige Organisations-, Quali- täts- und vor allem Angebotsfragen (Infrastruktur) erörtert und adäquate Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt werden müssen. Bei einer organisier- ten, gesetzlich abgesicherten Pflege- sicherung (möglicherweise in einem eigenständigen Zweig der sozialen Sicherung bei Anbindung an die
GKV) wird auch die Nachfrage nach Pflegeleistungen, nach Institutionen, kompetenten Trägern und vor allem nach qualifiziertem Pflegepersonal steigen.
Gegenwärtig trägt der „Pflege- markt" noch sehr die Kennzeichen eines reinen „Nachfragemarktes", noch zu wenig die eines „Anbieter- marktes". Gerade die richtige, ziel- adäquate Organisation des Lei- stungsangebots determiniert auch die Preise und die Höhe des Finan- zierungsbedarfs. Dem Bundesar- beitsministerium und dem zuständi- gen Abteilungsleiter, Ministerialdi- rektor Karl Jung, ist in diesem Punkt zuzustimmen: Künftig sollte ein plu- ralistisches, wettbewerbsorientiertes Angebot ineinandergreifender am- bulanter Pflegedienste und stationä- rer sowie teilstationärer Pflegeein- richtungen in freigemeinnütziger, privater oder öffentlicher Träger- schaft organisiert und vorgehalten werden.
Gewiß: Ein ausreichendes und sogar noch erweitertes Angebot schafft auch Nachfrage. Dies setzt ei- ne neue Kostenlawine in Gang und treibt die Beitragssätze in die Höhe.
Um so mehr sollte das Augenmerk auch auf die richtige Gestaltung und die Dimensionierung des Angebotes in pluraler und wettbewerbsori- entierter Trägerschaft gerichtet wer- den.
Bei den von der Bundesregie- rung avisierten Lösungsmöglichkei- ten sollte von vornherein ein Fehler vermieden werden, den das „nieder- ländische Modell" vorexerziert hat:
Dort wurden zunächst nur für die stationäre Pflege Leistungen ge- währt (die ambulante Pflege blieb ausgeklammert), was einen enormen Kostenboom und einen Nachfrage- sog ausgelöst hatte. Diesen Kon- struktionsfehler will Bonn ausschal- ten. Aber auch die Leistungsgewäh- rung muß eingegrenzt und kontrol- liert werden: Jede Absicherung des Pflegefallrisikos oberhalb des Sozial- hilfeniveaus, was zweifellos erforder- lich und politisch gewollt ist, wird ei- ne zusätzliche Nachfrage nach Pfle- geleistungen auslösen, die nicht durch noch so winkeladvokatische Restriktionen zurückgestutzt werden kann. Dr. Harald Clade A-2542 (22) Dt. Ärztebl. 88, Heft 30, 25. Juli 1991