• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Einhundert Jahre medizinischer Fortschritt: Leuchtspuren und Sorgenfurchen" (28.04.1995)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Einhundert Jahre medizinischer Fortschritt: Leuchtspuren und Sorgenfurchen" (28.04.1995)"

Copied!
3
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

THEMEN DER ZEIT

Es liegt nahe, im Grußwort zum 98. Deutschen Ärztetag die Jahrhun- dert-Elle an den medizinischen Fort- schritt zu legen. In der Tat hat die Me- dizin im letzten Jahrhundert größere Erfolge erzielt als in der 24mal so großen Zeitspanne seit Hippokrates.

Sie sind ganz überwiegend dem natur- wissenschaftlichen Denken, Forschen und Experimentieren zu verdanken.

Es gibt keinen Grund, auf diesem na- turwissenschaftlichen Weg nicht fort- zuschreiten — allerdings: humanitär und ökonomisch nachdenklicher.

Die ärztliche Kunst wuchs nicht im gleichen Maße wie die medizini- sche Wissenschaft. Manches vom gu- ten alten Arzttum wurde verdrängt oder vergessen, weil es sich angesichts eines wirksamen Arzneischatzes und eines handlichen Apparatearsenals zu erübrigen schien. Manches ärztliche Gespräch verkümmerte zum Auf- klärungsgespräch über Risiken und Techniken, die die Medien in den Vordergrund gerückt hatten, oder zum bloßen Petitum für „informed consent". Auf der Strecke blieben Zeit, Bereitschaft und schließlich auch die Fähigkeit, Mitgefühl, Ver- ständnis, Teilhabe glaubhaft zu be- kunden, überzeugend zu trösten und Hoffnung zu übertragen.

Unser neues Faktenwissen ver- doppelt sich etwa alle acht Jahre. Oh- ne Spezialisierung und Eingrenzung wäre rascher Fortschritt unmöglich.

Die Sektorisierung der praktizierten Medizin hat jetzt einen kritischen Punkt erreicht. Nicht nur der ganz- heitliche Überblick, auch das Interes- se an den inneren Korrelationen und den relevanten sozialen, familiären, beruflichen, äußeren Bezügen unserer Kranken droht verlorenzugehen.Die naturwissenschaftlich betriebene Me-

AUF S AT ZE

Ein Grußwort von Professor Dr. Dr. h. c.

Hans Erhard Bock, Ehrenpräsident des 98. Deutschen Ärztetages

dizin ist exakter, aber sicher auch ma- terialistischer geworden, nicht nur in ihrem technischen, sondern auch in ihrem wirtschaftlichen Denken — he- donistischer und egoistischer. Unsere Umwelt ist dies in noch viel stärkerem Maße. So werden berufliche Verfrem- dungen und Akzentverschiebungen (zum Beispiel von der Jederzeitigkeit selbstloser Hilfsbereitschaft zu einer enger begrenzten Dienststundenbe- reitschaft) kaum wahrgenommen Pflichterfüllung in der Dienstzeit und Anspruch auf freizeitliche Selbstver- wirklichung sind äquivalent gewor- den. Abgerechnet wird für Einzellei- stungen, nicht für das Ganze einer mehrdimensionalen individuellen Ge- nesungshilfe oder Rettung.

Wir bratichen als Gegengewicht zum Hochspezialisten den Allge- meinarzt als Familienarzt, als Nothel- fer außerhalb der Office-Stunden — im Urlaub, bei Unglücksfällen, im Alter bei Multimorbidität, bei vielen Begut- achtungen. Kompetente Generali- sten, entscheidungsfreudige und handlungsbereite Consiliarii werden prä- wie postoperativ benötigt.

Einst galt unbestritten: „Summa lex salus aegroti". Eine paternale oder pastorale Sorgehaltung und Sor- gewaltung war damit verbunden. — Zeitgeist und Jurisprudenz verlangen

— grundgesetzentsprechend — jetzt auch ein „et voluntas aegroti". Daß nichts gegen den erklärten Willen ei- nes Kranken erfolgen darf, ist selbst- verständlich. — Doch: „ Was krank all- gemein sei, das hängt weniger vom Ur- teil der Ärzte als vom Urteil der Pati- enten ab — und von den herrschenden Auffassungen der jeweiligen Kultur- kreise" (Jaspers).

Krank ist ein weitgehend subjek- tives Befindlichkeitsurteil. Mitunter

handelt es sich nur um eine „Unpäß- lichkeit". Krankheit darf nicht zur ge- fälligen Paßform — womöglich mit Ge- fälligkeitsattestierung — degenerieren.

Wir leben in einer zu permissiven Ge- sellschaft. Ein Drittel unserer sta- tionären Patienten ist selbstverschul- det oder selbstmitverschuldet lebens- gefährlich krank Die Compliance der Patienten ist aus unterschiedlichen Gründen unbefriedigend: Vorsorge- termine werden nicht wahrgenom- men, wichtige Impftermine versäumt.

Wer die zwei Weltkriege mit ihren Be- gleitumständen und Folgen miterlebt hat, weiß, daß Menschen, je nachdem wie sich der Wind gedreht hat und welche Zwecke sie verfolgen, auch

„unanständig schnell gesund oder krank werden" können.

Juristisch bestätigte Mündigkeit schließt weder listige noch unlautere Vorteilssuche aus. Salus und voluntas des Menschen werden ewig asymme- trisch bleiben (sogar bei unseren ärzt- lichen Kollegen, wenn sie selbst Pati- enten sind).

Umfragen ergeben, daß etwa 10 Prozent der Menschen — offenbar konstitutionell — immer mit irgend et- was unzufrieden sind. Die Asymme- trie von salus aus ärztlicher Sicht und voluntas aus Patientenmund kostet uns Ärzte viel Zeit und Kraft, die effi- zienter genützt sein könnten. Es klafft ein Hiatus, dessen Überbrückung nur durch Vertrauen in den Arzt, das heißt in sein Wissen, seine Erfahrung, sein Können, vor allem aber durch die Vertrauenswürdigkeit seines Gewis- sens und Verantwortungsbewußtseins möglich ist. Gerechtigkeitssinn und überzeugende Standfestigkeit braucht ein Arzt besonders in unsi- cheren Zeiten. In der Ausbildung sollte dem mehr Gewicht beigemes- sen werden.

Leuchtspuren

In Leuchtspur spannen sich vier Bögen über unser medizinisches Jahr- hundert:

Die Entwicklung der bildgeben- den Verfahren

1895 entdeckte Röntgen die X- Strahlen. Eine neue Sicht und Lokali- sierung von Krankheitsprozessen wurde möglich, wichtig auch für Vor-

Einhundertbahre medizinischer Fortschritt

Leuchtspuren

und Sorgenfurchen

A-1224 Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 17, 28. April 1995

(2)

THEMEN DER ZEIT

wie Nachsorge. Die weitere Entwick- lung bildgebender Verfahren als So- nographie, Echokardiographie, Com- putertomographie, Kernspintomo- graphie und anderer ist atemberau- bend. Molekularbiologie, Nuklear- medizin, Immunologie und Genetik haben unsere Vorstellungen vom le- bendigen Geschehen in Gesundheit und Krankheit auf immer tieferen Bohrebenen bereichert und sogar darstellbar gemacht. Das Wunderba- re hat seine Erscheinungs- und Dar- stellungsform gewandelt, seinen

„Charakter".

Die sozial-medizinische Siche- rung von Bismarck (1883) bis Blüm und Seehofer

1883 begann die Bismarcksche Sozialgesetzgebung. Über Unfall- pflichtversicherung 1886, Invaliden- und Altersversicherung 1890 sind wir heute bis zum Gesundheitsstruktur- und Reformgesetz und zur Pflegever- sicherung gelangt. Die heute bis zur ärztlichen Praxisexistenzgefährdung gehenden Einschränkungen werden Gegenstand dieses Ärztetages sein müssen. Wir müssen sparen, das ist je- dem klar. In „exzentrischer Positiona- lität" (Plessner) sieht sich das einfa- cher an als aus konzentrischer Betrof- fenheit. Man wird an die Eingliede- rung der Ärzte in die Reichsgewerbe- ordnung 1869 erinnert, die Virchow gegen Nasse durchsetzte. Auf Wies- badener Internistenkongressen nah- men mehrfach Präsidenten dazu Stel- lung: Erb 1905, Brauer 1922, Zinn 1929. — Hochschulen und Ärztekam- mern gehörten bei beruflichen Ent- würfen viel früher zusammen, um schon prämonitorisch Schaden zu ver- hüten; nur re-agierend kann man nur noch realistisch das Beste daraus zu machen versuchen.

Für den Arzt hat der Patient im Mittelpunkt zu stehen. Bei jeder Pla- nung und Veränderung ist zu fragen:

Was bedeutet sie für das Wohl des Pa- tienten? Verbesserung? — medizi- nisch, wirtschaftlich, mitmenschlich, zeitökonomisch? Der berühmte Tü- binger Internist Carl Liebermeister hat vor 106 Jahren in seiner Wiesba- dener Eröffnungsrede gesagt: „ Wo es sich um Standesinteressen handelt, ist immer zuerst zu fragen nach den Inter- essen des Publikums und der Kran- ken. Nur was diesen entspricht, das

AUFSÄTZE

liegt im wahren Interesse des ärztli- chen Standes. . . Jede Maßregel, wel- che im Interesse des ärztlichen Standes vorgeschlagen wird, sollte nicht be- gründet werden durch den Hinweis auf den ärztlichen Stand, sondern auf die Interessen der Gesamtbevölkerung;

denn diese allein sind maßgebend."

Allerdings sollte sich die Gesell- schaft klarmachen, daß Ärzte Freibe- rufstätige sind, die ihre Existenz mit schwerer Arbeit und ungewöhnli- chem Engagement sichern müssen.

Ihrem Berufsethos entsprechend, „je- derzeit für jedermann hilfreich da zu sein", leisten sie ein Arbeitspensum, das sie oft am Familienleben und an ihrer — heute so selbstverständlich von anderen geforderten und praktizier- ten — Selbstverwirklichung hindert.

Sie haben die Pflicht, für ihre Exi- stenzgrundlage zu kämpfen. Wir müs- sen den Abgeordneten der Ärztetage daher dankbar sein, daß sie das Opfer der Standesvertretung in aufreiben-

98. Deutscher Ärztetag Progamm der Eröffnungsveranstaltung im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle

am 23. Mai 1995

1 Musikalische Einleitung 2. Begrüßung durch den Präsi- denten der Landesärztekammer Ba- den-Württemberg, Prof. Dr. Fried- rich-W. Kolkmann

3. Totenehrung

4. Verleihung der Paracelsus- Medaille der deutschen Ärzteschaft

5.Ansprache des Ministerpräsi- denten des Landes Baden-Württem- berg, Erwin Teufel

6. Ansprache des Oberbürger- meisters der Landeshauptstadt Stutt- gart, Dr. h.c. Manfred Rommel

7. Ansprache des Bundesmini- sters für Gesundheit, Horst Seehofer

8. Referat des Präsidenten der Bundesärztekammer und des Deut- schen Ärztetages, Dr. Karsten Vihnar

9. Nationalhymne

Musikalische Einleitung: Stuttgarter Ärz- teorchester unter Leitung von Wolfgang G.

Hofmann

Im Anschluß an die Eröffnungsveranstal- tung geben der Ministerpräsident der Lan- desregierung Baden-Württemberg, Erwin Teufel, und der Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Stuttgart, Dr. Manfred Rommel, im Foyer des Beethovensaals der Stuttgarter Liederhalle einen Empfang für die Gäste und Teilnehmer des 98. Deut- schen Ärztetages

den Sitzungen bringen und das Ärztli- che bei allen Wirtschafts- und Ökono- miepflichten so hoch halten.

Volkswirtschaftler von Berufs-, Krankenhaus- und sogar Kulturver- waltungen haben das Krankenhaus als ein gewinnbringendes Wirtschafts- unternehmen entdeckt und immer emsiger mit Computerhilfe bis in die letzten Ecken auszunutzen verstan- den. Gewiß müssen wir sparen, aber nicht durch kaufmännische Manipu- lationen und trickreiche Umvertei- lung. Abstellen von Mißbräuchen und Mißständen ist das Gebot!

Die Integration der Person 1895 gaben Freud und Breuer ih- re Studien über Hysterie bekannt Die Rolle des Unterbewußten, der Tiefenperson und des „Es", „Ich" und

„Über-Ich"; vor allem die Bedeutung der Verdrängung, wurden erkannt Die Rolle der Psyche im Krankheits- geschehen als Mitursache der Krank- heitsgestaltung ist schon von den Gründern der Deutschen Gesell- schaft für Innere Medizin (und immer wieder von ihren Vorsitzenden seit hundert Jahren) als vernachlässigte Dimension erkannt und ihre stärkere Berücksichtigung eingefordert wor- den. Auch heute empfinde ich noch ein Defizit im Verständnis, im Einge- hen und in der Nutzung der psychi- schen Faktoren. Die Übertreibungen monokausaler Psychogenese (zum Beispiel von Krebsleiden) sind über- wunden. — Jede Begegnung eines Lei- denden mit seinem Helfer sollte einen Plazeboeffekt haben — wie auch jede Aushändigung eines Rezeptes und insbesondere jedes Therapiegespräch einen psychotherapeutischen Zusatz- effekt haben sollte.

Rationalisierung der Indikations- lehre

Das reicht von der klinischen Pharmakologie über die Fertilisati- onsmedizin bis zu den gentechnisch herstellbaren Medikamenten und bis zur Transplantations- und Prothesen- medizin. Leider sind wichtige For- schungsgebiete durch mancherlei Vorurteile, durch zu rigorosen Daten- schutz und mangelnde Weltoffenheit behindert. Unsere ärztliche Zukunfts- verantwortung (Jonas) ist sehr groß.

Sie bedarf natürlich des ständigen Ge- leites höchst sachverständiger Ethik- kommissionen.

A-1226 (28) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 17, 28. April 1995

(3)

THEMEN DER ZEIT

Sorgenfurchen

Nach den vier Leuchtspuren über unserer Jahrhundertlandschaft muß ich nun vier Sorgenfurchen ziehen. —

„Die Sorge geziemt dem Alter, damit die Jugend eine zeitlang sorglos sein kann." Goethe sagt das in Wilhelm Meisters Lehrjahren (1777-1796).

Arbeitslosigkeit

Arbeitslosigkeit ist das größte Unglück, das einen Menschen treffen kann, vor allem, wenn er gerade für einen Beruf ausgebildet, voller Wis- sens- und Betätigungsdrang Erfah- rungen sammeln muß oder, wenn er — schon berufserfahren — gar aussteigen muß. Heute werden mehr Medizin- studenten zugelassen, als die Fakultä- ten verkraften können. Wer aber die Hürden strenger Prüfungen genom- men hat, muß eingegliedert werden.

Wir brauchen eine Notgemeinschaft zur Vermittlung von Gastarztstellen.

Die rücksichtslose Feststellung, es sei- en keine Stellen vorhanden und Un- terbezahlung sei weder vertretbar noch gewerkschaftlich erlaubt, darf in solcher Notsituation nicht bindend sein. Ich erinnere an die Jahre 1945 bis 1950. Da waren auch keine Stellen da für die aus dem Krieg Heimkeh- renden. Als geschäftsführender Ober- arzt habe ich möglichst vielen eine Ausbildungschance geboten, im

„gentlemen's agreement", daß hoch- wertige Ausbildung mit vielseitiger Erfahrungssammlung als Zukunfts- kapital viel wichtiger ist als das War- ten auf tarifordnungsgemäße Entloh- nung. Es muß versicherungstech- nisch, gewerkschaftlich und juristisch möglich gemacht werden, ehrenhafte Gastarztverträge (bei offenem Visier, das heißt ohne immanente Einklage- absicht) mit voller ärztlicher Ausbil- dungsmöglichkeit zu schaffen.

Vernachlässigtes Wissenschafts- bewußtsein

Die an der Hochschule gelehrte und praktizierte Medizin ist zugleich die bestdokumentierte Erfahrungs- medizin. Sie hat eine eindeutige na- turwissenschaftliche Seite und als Er- fahrungsheilkunst eine deutungs-of- fenere historische Seite. Wenn heute bis zu 40 Prozent unserer Nachwuchs- ärzte keine Doktordissertation zum Abschluß bringen, ist der ärztliche Horizont gefährdet. Wer nie eine wis-

AUFSÄTZE

senschaftliche Arbeit — und sei sie nur

„über einen (exemplarischen) Fall von . . ." vollendet hat und die damit verbundenen Schwierigkeiten der Materialbeschaffung, der Quellensu- che, der Literaturauswertung und Er- gebnisformulierung im Positiven wie im Negativen nicht erlebt hat, verpaßt die rechte Sicht auf Wissenschaft und Forschung; er verfällt nur allzu leicht der heute wieder grassierenden Para- medizin und ist in Gefahr, gläubiger Gefolgsmann von Parolen und Über- schriften aus halbwissenschaftlichen Zeitungen oder Fernsehsendungen zu werden.

Schwindende Kollegialität Kollegialität gehört zur ärztli- chen Deontologie (Pflichtenlehre) und bedeutet Zueinanderstehen, nicht nur in wirtschaftlicher Gebührenordnungsnähe, auch nicht nur bei gesellschaftlicher Niveaupfle- ge, sondern vor allem zur Wahrung ärztlicher Gesinnungsgemeinschaft.

Kollegialität bedeutet Mitverantwor- tung für das Arztbild in der Öffent- lichkeit und für die Ethik ärztlichen Handelns. Kollegialität ist eine Brin- geschuld. Sie ist pflegebedürftig.

Auch der ärztliche Konkurrenz- kampf beginnt heute früher. In der Ausbildung wird über mangelnde Mitteilsamkeit der Älteren geklagt.

Weder das PJ-Jahr noch die AiP-Aus- bildung erbringen dadurch den größt- möglichen Nutzen. Horst Bourmer hat noch andere Beispiele genannt.

Curriculum-Mängel

Hochschulen wie Ärztekammern sollten sorgsam darüber wachen, daß der pädagogische Ausbildungsauf- trag, beste Ärzte auszubilden und nicht nur Staatsexamenswissensträ- ger, nicht noch mehr gefährdet wird.

Verteuerung, Finanznot und Spar- pflicht unserer Epoche verlangen möglichst kurze Krankenhausverweil- zeiten und begründen eine Verlage- rungstendenz in semi-, vor- oder nach- klinische und ambulante Behandlung.

— Weder Student noch Assistent kön- nen ein ganzes Krankheitsbild am gleichen Patienten kennenlernen.

Selbst neuartige medikamentöse Be- handlungen müssen vom Hausarzt zu Ende geführt werden, obwohl er noch keinerlei Kenntnis von den Komplika- tionen und Besonderheiten hat. Ver- streute Erfahrungssammlung fällt

dürftiger aus und dauert immer länger als konzentriert darauf gerichtete Be- obachtung von vielen „gleichen" Fäl- len. — Die Erziehung zu einer psycho- somato-sozialen Krankheitsauffas- sung ist kaum möglich, weil der Kli- nikarzt den Patienten nur in seinen al- lerschwersten Stadien sieht. Wir brau- chen unbedingt Leichtkrankenhäuser, die billiger sind und längere Verweil- zeiten zur besseren Ausbildung in al- len ärztlichen und pflegerischen Sach- und Persönlichkeitsfragen ermögli- chen. Die Preisgabe der alten traditio- nellen Poliklinik, deren Krankengut ein Spiegel der späteren Praxis sein sollte, wird durch eine Addition von hochspezialisierten Ambulanzen (die selbstverständlich für die Forschung absolut nötig sind) nicht wettgemacht.

Der Student erlebt zu wenig von sei- ner Umgangspflicht mit den derzeiti- gen Chronikern und multimorbiden Alten. Die Lehrbeauftragten für All- gemeinmedizin, die in sehr dankens- werter Weise mit hohem Idealismus ihr Krankengut und ihre Praxiserfah- rungen in den Unterricht einbringen, können nur zu einem Teil ersetzen, was der Universität heute an poliklini- schem Krankengut fehlt.

Seit meinem zehnten Lebensjah- re wollte ich Arzt werden, „so gut wie unser Hausarzt Dr. Sperling in Wal- tershausen".

Nun bin ich Ehrenpräsident eines Deutschen Ärztetages geworden (und habe das Gefühl: mit einer Tau- be statt eines Sperlings in der Hand).

Lassen Sie mich danken für die große Ehrung, die ich darin sehe, vorn Ver- trauen der ganzen deutschen Ärzte- schaft aus West und Ost (wo ich meine Famulaturen und Praxisvertretungen absolvierte) zum Ehrenpräsidenten berufen zu sein.

Rudolf Virchow bekannte sich zu zwei „Fehlern" (wie er scherzhaft sag- te), nämlich:

1. auch die Praktiker für wackere Beobachter zu halten und

2. an die Therapie zu glauben.

Ich bekenne mich noch zu einem dritten:

3. Ich glaube an hippokratisches Arzttum, heute und in Zukunft.

Dem 98. Ärztetag wünsche ich reiche, tragfähige und zukunftswei- sende Ergebnisse.

Hans Erhard Bock, Tübingen A-1228 (30) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 17, 28. April 1995

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Und hätte man sich nicht fragen müs- sen, ob die Behauptung, Soldaten sind Mörder, nicht doch in ihrem beabsichtigten Gehalt „ab- surd und zutiefst ehrabschneidend" für alle

Gesundheitspolitische Ziele könnten bei Anwendung neuer Ver- fahren in der Regel mit größerer Si- cherheit oder geringeren Nebenwir- kungen erbracht werden, oder bisher

Wenn es uns gelingt, Patienten- probleme auf der für sie jeweils effizi- enten Stufe der Versorgung zu lösen, so werden wir nicht nur die Rationierungstendenzen der Politik

Mit Schmunzeln haben wir festgestellt, daß sich durch die Hintertür auch bei dem Verfasser, Herrn Rüdi- ger Meyer, noch diese falsche Modellvorstellung einge- schlichen hat..

Ärzte- Präsident Vilmar betonte: „Die enorme Arbeitsbelastung der Ärz- te infolge enger oder zu enger Stellenpläne in den Krankenhäu- sern und die schematischen und

Kaum je sind die Kranken- hausambulanzen in die Ko- stendämpfungsüberlegun- gen einbezogen worden, obwohl gerade dort erheb- liche Einsparungen mög- lich wären, wenn man sich auch

In einer weiteren Broschüre mit dem Titel „Tipps für das richtige Verhalten im Schadensfall“ sind für den Arzt wichtige Hinweise, wie er mithelfen kann, Schäden zu vermeiden

Die Produkt- palette von Knoll enthält auch heute noch neben hochmo- dernen Therapeutika wie Verapamil (Isoptin®) zahlreiche Spezialitäten, die schon vor Jahrzehnten entwickelt worden