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ayerns Sonderregelung zum Abtreibungsrecht ist vorerst in weiten Teilen außer Kraft gesetzt worden. Das hat das Bundesverfassungsgericht Ende Ju- ni in Karlsruhe in einer einstweiligen Anordnung entschieden. Damit dür- fen ein Münchner Arzt und sein Nürnberger Kollege, die das Verfah- ren angestrengt hatten und die nach eigenen Angaben jährlich mehr als die Hälfte der rund 10 000 Schwan- gerschaftsabbrüche in Bayern vor- nehmen, vorerst weiterpraktizieren.Nach den bayerischen Sonder- regelungen zum Abtreibungsrecht, wonach Ärzte höchstens ein Viertel ihrer Einnahmen aus Schwanger- schaftsabbrüchen beziehen dürfen, hätten beide Ärzte bis zum 1. Juli ih- re Praxen schließen müssen. Dage- gen hatten die beiden Ärzte Verfas- sungsbeschwerde eingelegt.
Das Bundesverfassungsgericht bewertete die Anträge der beiden Ärzte als „zulässig und nicht offen- sichtlich unbegründet“. Die Richter bezogen sich in ihrer einstweiligen Anordnung auf den im BVG-Urteil von 1993 enthaltenen „Sicherstel- lungsauftrag“, also die Pflicht zu ei- ner wohnortnahen Beratung und Be- treuung. Auf einen anderen Satz in diesem Urteil hatten sich dagegen in erster Linie die bayerischen Gesetze bezogen, die mit CSU-Mehrheit vor einem Jahr im Landtag verabschie- det worden waren. Der Landesregie- rung war im Bundesrecht die Fest- stellung von der Rechtswidrigkeit der Abtreibungen nicht genügend umgesetzt. Mit ihrer Weltanschau-
ung ist es daher auch nicht vereinbar, daß Arztpraxen zugelassen werden, die einen Großteil ihrer Einkünfte aus Schwangerschaftsabbrüchen be- ziehen. Für dieses Lebensschutzkon- zept hatte das Gericht offensichtlich auch Verständnis. Denn es räumte in seiner Begründung ein, daß der Ge- setzgeber vorübergehend an der Verwirklichung seines Konzeptes zum Schutz des ungeborenen Lebens gehindert werde. Allerdings könne dies bei Geltung des Gesetzes auch in naher Zukunft nicht erreicht wer- den. Denn zum Schutzkonzept für das ungeborene Leben gehöre auch, daß jede Schwangere in der Nähe des Wohnsitzes eine intensive ärztliche Beratung und gegebenenfalls eine kompetente ärztliche Versorgung er- langen könne.
Wohnortnahe Versorgung
Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 27. Mai hatten nach Angaben des Gerichts erst sechs Krankenhäuser und nur 14 der rund 1 000 bayerischen Gynäkologen den Antrag auf Erlaubnis zur Durch- führung von Schwangerschaftsab- brüchen gestellt. Damit könne der ursprünglich zum 1. Juli vorgesehe- ne Wegfall der Praxen der beiden Ärzte, die weit mehr als die Hälfte aller Schwangerschaftsabbrüche in Bayern vorgenommen hätten, nicht ausgeglichen werden. Viele Frauen würden dann veranlaßt, Abtreibun- gen außerhalb Bayerns vornehmen
zu lassen. „Dort gelten aber keine den angegriffenen Regelungen ver- gleichbare Bindungen, so daß der vom bayerischen Gesetzgeber be- zweckte zusätzliche Schutz nicht eintritt“, betonte das Gericht. Über- dies würden die gesundheitlichen Risiken für die Frauen durch das längere Reisen erhöht.
Bayerns Ministerpräsident Ed- mund Stoiber (CSU) wies darauf hin, daß inzwischen bereits zwölf Krankenhäuser und 56 Arztpraxen zu Schwangerschaftsabbrüchen be- reit seien. Das hatte eine im Auftrag des Sozialministeriums von der Kas- senärztlichen Vereinigung Bayerns organisierte Fragebogenaktion er- geben. Stoiber äußerte sich zuver- sichtlich, daß bis zum Zeitpunkt der erneuten Entscheidung die flächen- deckende wohnortnahe Versorgung mit Abtreibungsmöglichkeiten in Bayern gewährleistet werden kön- ne. Eine Änderung des Schwange- renhilfeergänzungsgesetzes sei da- mit nicht erforderlich.
Ganz anderer Ansicht ist dage- gen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU). Für sie steht fest, daß die bayerischen Bestimmungen mit Bundesrecht nicht zu vereinba- ren sind. Das BVG jedenfalls kündig- te für das in einigen Monaten zu er- wartende Verfahren in der Hauptsa- che eine gründliche Prüfung der Fra- ge an, inwieweit der Gesetzgeber überhaupt in „Ergänzung“ zum Bun- desrecht habe tätig werden dürfen.
Auch das Grundrecht der Ärzte auf Berufsfreiheit bedürfe einer genaue- ren Prüfung. Gisela Klinkhammer A-1911
P O L I T I K LEITARTIKEL
Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 28–29, 14. Juli 1997 (15)