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Archiv "Psychische Störungen bei Patienten im Allgemeinkrankenhaus" (16.05.1997)

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Academic year: 2022

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um Erfahrungsspektrum vieler niedergelassener oder klinisch tätiger Ärzte gehört die Wahr- nehmung auffälliger psychi- scher Symptome bei körperlich Kran- ken. Oft erscheint jedoch zweifelhaft, ob den entsprechenden Beobachtun- gen tatsächlich Krankheitswert zu- kommt und ob eine Behandlungsent- scheidung getroffen werden muß. Die Hinzuziehung eines psychiatrischen beziehungsweise psychosomatischen Konsiliars kann sich in dieser Situation als hilfreich erweisen, wird jedoch im Klinikalltag aus verschiedenen Grün- den ausgesprochen selektiv genutzt (4). Ein wesentliches Problem stellt in Deutschland die vielerorts mangelhaf- te Verfügbarkeit qualifizierter Konsili- arleistungen dar. Praktisches und wis- senschaftliches Interesse an der Dia- gnostik und Behandlung psychischer Störungen bei körperlich Kranken war in Deutschland bisher überwiegend in der psychosomatischen Medizin und der medizinischen Psychologie er- kennbar (21) und meist speziellen Fra- gestellungen (zum Beispiel der Trans- plantationsmedizin) gewidmet. Im psychiatrischen Fachgebiet hat dieser Aufgabenbereich bis vor wenigen Jah- ren eher geringe Beachtung gefunden, obwohl die umfangreichste konsiliari- sche Versorgungsleistung von psych- iatrischen Abteilungen oder hinzuge- zogenen niedergelassenen Nerven- ärzten getragen wird. In jüngster Zeit ist jedoch auch im psychiatrischen Be- reich ein zunehmendes Interesse an der Thematik zu erkennen, das sich unter anderem in der Einrichtung ei- nes Fachreferats bei der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psycho- therapie und Nervenheilkunde und der Herausgabe eines praktischen Leitfadens (33) äußert.

Psychische Störungen kommen bei Allgemeinkrankenhauspatienten ausgesprochen häufig vor. Ein Überblick über die insbesondere im angloamerikanischen Sprachraum

verfügbare wissenschaftliche Litera- tur läßt darauf schließen, daß etwa bei 30 bis 60 Prozent der Patienten während der Krankenhausbehand- lung psychische Störungen oder eine erkennbare psychopathologische Symptomatik vorliegen (14, 25, 26).

Die vorliegenden Studien zur Präva- lenz variieren allerdings erheblich im Hinblick auf die gewählten Untersu- chungsfelder, Stichproben und psych- iatrisch-diagnostischen Methoden.

Die weitaus meisten Untersuchungen liegen aus internistischen Fachabtei- lungen vor. Arbeiten, die sich auf an- dere Stichproben, zum Beispiel aus chirurgischen oder neurologischen Abteilungen, beziehen, sind wesent- lich seltener. In methodischer Hin- sicht ist außerdem von Bedeutung, ob eine dimensionale Einschätzung psy- chopathologisch faßbarer Syndrome (zum Beispiel Depressivität) oder ei- ne kategoriale Zuordnung zu pyschia- trischen Erkrankungseinheiten ent- sprechend einer Klassifikation (zum Beispiel depressive Episode nach ICD-10 oder major depression nach DSM-IV) vorgenommen wurde.

Psychische Störungen bei All- gemeinkrankenhauspatienten lassen sich in vier große Erkrankungsgrup-

pen einteilen: depressive Störungen, körperlich begründbare Störungen (organische Psychosyndrome), Al- kohol-, beziehungsweise Substanz- mißbrauch sowie weitere Störungen.

Depressive Störungen

Bei 22 bis 61 Prozent (9, 34), im Mittel bei etwa 25 Prozent, internisti- scher Krankenhauspatienten werden Symptome einer depressiven Störung beobachtet, wenn Screeninginstru- mente zur dimensionalen Einschät- zung eingesetzt werden. Wird, even- tuell zusätzlich, eine Erkrankungsdia- gnose gestellt, so ergibt sich mit guter Übereinstimmung eine Prävalenzrate von etwa 15 Prozent für das aktuelle Vorliegen einer depressiven Störung (11, 23, 35). Für über 65jährige Pati- enten wurden Prävalenzraten ähnli- cher Größenordnung berichtet (7, 16). Die wenigen Untersuchungen aus chirurgischen Abteilungen (22) lassen ebenfalls auf eine Depressions- häufigkeit von etwa 15 Prozent schließen. Es ist umstritten, ob De- pressionen gehäuft mit bestimmten somatischen Erkrankungen, wie Krebserkrankungen, assoziiert sind.

Bei neurologischen Patienten sind de- pressive Störungen offenbar sehr häu- fig, bei etwa 30 bis 35 Prozent, vorzu- finden (8, 27). Besondere Aufmerk-

Psychische Störungen bei Patienten im

Allgemeinkrankenhaus

Obwohl insbesondere Studien aus dem englischen Sprachraum zeigen, daß psychische Störungen bei Allgemeinkrankenhauspatienten häufig vorkommen und vermutlich auch erheblichen Einfluß auf den Verlauf somatischer Er- krankungen haben, hat diese Thematik in Deutschland bisher vergleichsweise wenig Beachtung gefunden. Dieser Sachverhalt ist um so kritischer zu sehen, als vielfältige Hinweise dafür vorliegen, daß die derzeitige konsiliarische Ver- sorgung von somatisch kranken Patienten mit psychischen Störungen unzu- reichend ist. Die Möglichkeit zur Sekundärprävention psychischer Störungen bleibt im Krankenhaus oft ungenutzt, mit negativen Konsequenzen nicht nur für die Patienten selbst, sondern vermutlich auch für die ärztliche Weiterbildung.

Volker Arolt Martin Driessen Horst Dilling

Klinik für Psychiatrie (Direktor: Prof. Dr. med.

Horst Dilling) der Medizinischen Universität zu Lübeck

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samkeit wurde in jüngster Zeit der Komorbidität von zerebralen Insulten und psychischen Störungen gewid- met: Bei bis zu 50 Prozent dieser Patienten wurden während des aku- ten Erkrankungsstadiums depressive Störungen diagnostiziert (36). De- pressionen bei somatisch Kranken ha- ben einen geringeren Schweregrad als bei psychiatrischen Patienten und können eine Reaktion auf die somati- sche Erkrankung im Sinne eines de- pressiven Modus der Krankheitsver- arbeitung sein (31); sie hängen ursäch- lich aber auch oft mit bereits vorbeste- henden psychischen Problemen und sozialen Schwierigkeiten zusammen (25, 26). Es handelt sich jedoch um zu- verlässig diagnostizierbare und auch behandlungsbedürftige psychische Störungen, die nicht als vermeintlich normale Begleitreaktionen körperli- cher Erkrankungen mißverstanden werden sollten.

Körperlich begründbare Störungen

Körperlich begründbare Störun- gen (organische Psychosyndrome) kommen in internistischen Abteilun- gen im aktuellen zeitlichen Quer- schnitt mit Häufigkeiten zwischen neun und etwa 33 Prozent (20) vor.

Die veröffentlichen Prävalenzraten sind nur schwerlich vergleichbar, da sich die untersuchten Stichproben hinsichtlich ihres Anteils an über 65jährigen Patienten erheblich unter- scheiden. Dieser Faktor fällt hinsicht- lich der Häufigkeit körperlich be- gründbarer Störungen weit mehr ins Gewicht als mögliche Differenzen, die sich aus der Anwendung dimensiona- ler Skalen oder kategorialer diagno- stischer Methoden ergeben. Die Ar- beitsgruppe um Cooper führte die in Deutschland bislang einzige Untersu- chung zur Häufigkeit kategorial er- faßter psychischer Störungen durch.

Sie untersuchte Patienten im Alter von 65 bis 85 Jahren in Mannheimer Allgemeinkrankenhäusern und er- mittelte eine Punktprävalenz von neun Prozent. Diese Rate liegt im in- ternationalen Vergleich eher niedrig.

Die meisten Studien zeigen auch, daß akute organische Psychosyndro- me etwa mit gleicher Häufigkeit bei

internistischen Patienten auftreten wie chronische, dementielle Erkran- kungen.

Alkoholmißbrauch und Abhängigkeit

Mißbrauch und Abhängigkeit von psychotropen Substanzen stellen im Allgemeinkrankenhaus ebenfalls ein häufiges Problem dar. Während die Prävalenz des Gebrauchs von illegalen Drogen sehr starken regionalen Schwankungen unterliegt, sind Mißbrauch und Abhängigkeit von Al- kohol international weit und ver- gleichsweise gleichförmig verbreitet.

Die folgenden Angaben beziehen sich daher auf diese Erkrankungsgruppe.

Ein Hauptproblem der epidemiologi- schen Alkoholismusforschung besteht in der unklaren Definition der Erkran- kungseinheiten und der Abgrenzung von schädlichem Gebrauch und Ab- hängigkeit. Eine Übersicht über die methodisch akzeptablen Studien er- gab, daß bei 10 bis 20 Prozent der Pati- enten in internistischen und chirurgi- schen Abteilungen eine alkoholbezo- gene Störung angenommen werden muß (11, 28, 30). Frühere Unter- suchungen aus dem deutschen Sprachraum (5, 6, 29) ergaben Präva- lenzraten von etwa 10 bis 15 Prozent.

Die jüngst veröffentlichte, methodisch sehr gründliche Untersuchung von John und Mitarbeitern (18), die sich auf internistische und chirurgische Ab- teilungen eines Lübecker Allgemein- krankenhauses bezieht, kam zu dem Ergebnis, daß bei 12,7 Prozent der Pa- tienten aktuell eine Alkoholabhängig- keit und bei weiteren 4,8 Prozent ein Alkoholmißbrauch besteht, darüber hinaus bei 9,7 Prozent der Verdacht auf Vorliegen einer alkoholbezogenen Störung. In den vorliegenden Untersu- chungen besteht Konsens dahinge- hend, daß Männer etwa dreimal häufi- ger als Frauen betroffen sind.

Andere psychische Störungen

Bei insgesamt etwa zehn Prozent somatisch Kranker bestehen andere als die genannten psychischen Störun- gen, so zum Beispiel Angsterkrankun-

gen, somatoforme Störungen, Schizo- phrenien und Persönlichkeitsstörun- gen. Die Prävalenzangaben der weni- gen Studien, die sich mit den genann- ten Störungseinheiten befassen, schwanken stark und lassen verläßli- che Schätzungen derzeit noch nicht zu.

Die Lübecker Allgemein- krankenhausstudie

Eine Übertragung der Ergebnis- se von Studien aus dem angloameri- kanischen Sprachraum auf deutsche Verhältnisse ist aufgrund wesentlicher Unterschiede in den jeweiligen medi- zinischen Versorgungssystemen pro- blematisch. Für den deutschen Sprachraum lagen, mit Ausnahme von Studien zum Alkoholismus und der Mannheimer Studie an 65- bis 85jährigen Patienten, bislang keine Untersuchungen vor, die eine Schät- zung der Punktprävalenz psychischer Störungen erlauben. Wie internatio- nal ist auch in Deutschland weitge- hend unklar, welcher Behandlungsbe- darf im Zusammenhang mit dem Vor- liegen psychischer Störungen bei Pa- tienten in allgemeinen Kranken- häusern besteht. Erst eine möglichst valide Schätzung beider Sachverhalte erlaubt eine realitätsgerechte Planung von Versorgungsleistungen. In diesem Zusammenhang ist evident, daß die bisher vorliegenden Untersuchungen in wesentlich geringerem Maße als Planungsgrundlage herangezogen werden können als die bekannten Er- hebungen aus der Allgemeinbevölke- rung (10, 12) oder Allgemeinarztpra- xen (39, 24) im deutschsprachigen Raum.

Die Lübecker Allgemeinkran- kenhaus(LAK)-Studie wurde in vier Lübecker Krankenhausabteilungen, jeweils zwei internistischen und zwei chirurgischen, durchgeführt, die eine für die Versorgung von Allgemein- krankenhäusern typische Struktur auf- wiesen. Auf die Methodik der Unter- suchung wird an anderer Stelle aus- führlich eingegangen (2); sie soll hier nur kurz dargestellt werden. Im zeitli- chen Querschnitt wurden alle Patien- ten von insgesamt 15 Stationen während 14tägiger Perioden unter- sucht. Eine Untersuchung wurde von 21 (4,8 Prozent) Patienten abgelehnt,

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17 (3,9 Prozent) waren zu schwer er- krankt, als daß eine Untersuchung zu- mutbar gewesen wäre. N = 400 Patien- ten (je 200 aus internistischen und chir- urgischen Abteilungen) wurden einge- hend untersucht. Die Patienten waren zwischen 18 und 97 Jahren alt, der Me- dian lag bei 66 Jahren. Der Frauen- anteil betrug 48,3 Prozent.

Die Untersuchung wurde von sechs Fachärzten für Psychiatrie (mit Zusatzbe- zeichnung „Psychothera- pie“) durchgeführt. Bei der psychiatrischen Untersu- chung kam ein standardisier- tes Interviewverfahren, das composite international dia- gnostic interview (CIDI), zur Anwendung. Dieses Diagno- seinstrument wurde in den USA entwickelt und im Auf- trag der WHO ins Deut- sche übersetzt (38). Es er- möglicht eine computerge- stützte psychiatrische Dia- gnose nach ICD-10 und DSM-III-R (beziehungswei- se DSM-IV) und zeichnet sich durch eine hohe Reliabi- lität aus. Das diagnostische Vorgehen ist dadurch ge- kennzeichnet, daß mit Hilfe von sektionsweise vorgege- benen Fragen und Antwort- möglichkeiten alle psychia- trisch relevanten Störungen angesprochen und erfaßt werden. Basierend auf die- sem Verfahren, wurde in der LAK-Studie jedoch als Er- gänzung ein zusätzliches kli- nisches Interview durchge- führt. Diese Erweiterung des diagnostischen Vorgehens erschien im Hinblick auf die

durch körperliche Erkrankungen er- heblich komplizierte Sachlage, aber auch unter Berücksichtigung der zu er- wartenden Verleugnungstendenzen von seiten der Patienten sowie anderer Erwägungen geboten. Sämtliche er- hältliche Angaben von betreuenden Ärzten, Krankenpflegepersonal und Angehörigen wurden einbezogen. Es wurden verschiedene diagnostische Klassifikationen (ICD-9, ICD-10, DSM-III-R) benutzt; im Rahmen der vorliegenden Arbeit werden ICD-10- Diagnosen referiert. Neben der Dia-

gnostik psychischer Störungen wur- den, im Gegensatz zu bisher vorliegen- den Arbeiten, verschiedene pharma- ko-, psycho- und soziotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten benannt.

Tabelle 1 gibt die wesentlichen Ergebnisse im Hinblick auf die Punkt- prävalenz psychischer Störungen wie-

der. Aufgeführt werden neben CIDI- Diagnosen auch klinische Diagnosen mit einem relevanten Schweregrad

>2 (vergleiche 10, 12), das heißt, es lagen krankheitswertige Symptome vor, die zu subjektiv belastenden Ein- schränkungen und Behinderungen führten. Die häufigsten Störungs- gruppen sind Depressionen, psycho- organische Störungen und alkoholbe- zogene Störungen. Werden im Hin- blick auf Alkoholmißbrauch/-abhän- gigkeit, wie in vielen Studien üblich, lediglich Patienten unter 65 Jahren

einbezogen, ergibt sich eine Präva- lenzrate von 13,2 Prozent (CIDI: 9,0 Prozent); Männer sind etwa sechsfach überrepräsentiert. Bei 44,4 Prozent der Patienten mit Alkoholabhängig- keit bestand mindestens eine weitere, komorbide psychische Störung (1). Es zeigt sich, daß sich auf der Basis klini- scher Diagnostik eine höhere Gesamtprävalenz ergibt als unter ausschließlicher Ver- wendung des CIDI. Während die Übereinstimmung (auch fallweise) zwischen beiden Verfahren im Bereich organi- scher Psychosyndrome sehr hoch ist, wirkt sie im Bereich der Depressionen durch das CIDI zugunsten der depressi- ven Episoden verschoben. Im Hinblick auf die meisten Störungseinheiten werden durch das CIDI insgesamt weniger Erkrankungen er- faßt als mit Hilfe des zusätzli- chen klinischen Vorgehens.

Die wesentlichen Gründe für die benannten Unterschiede sind zum einen darin zu su- chen, daß die Störungskate- gorie der depressiven Reakti- on auf der Basis des CIDI nicht erfaßt werden konnte.

Wesentliche Gründe waren jedoch zum anderen, daß die diagnostischen Urteile der an der Untersuchung beteilig- ten, langjährig erfahrenen Psychiater wahrscheinlich weniger durch Verleugnungs- mechanismen der Patienten (zum Beispiel bei Alkoholab- hängigkeit, Depression) be- einflußt wurden und auch auf umfassenderer Informations- sammlung aus allen zur Ver- fügung stehenden Quellen beruhten.

Es ist zu vermuten, daß bei aus- schließlicher Anwendung des CIDI eine Kerngruppe eher schwererer Störungen abgebildet wird.

Im Hinblick auf alle in Tabelle 1 aufgeführten Erkrankungsgruppen ist zu berücksichtigen, daß aus Grün- den der Übersichtlichkeit lediglich die Hauptdiagnosen (aktuell klinisch im Vordergrund stehende Diagnosen) genannt wurden. Eine Schätzung der

„wahren“ Häufigkeit aktuell vorlie- gender psychischer Störungen bezie- Tabelle 1

Häufigkeit aktuell vorliegender psychischer Störungen (ICD-10) bei N = 400 internistischen und chirurgischen Allgemeinkrankenhaus- patienten (Prozent)

Diagnostisches Vorgehen

ICD-10 Diagnose CIDI klinische

Untersuchung

Depressive Episode 7,5 3,8

Dysthymia 0,8 4,3

Depressive Reaktion – 7,3

Organische

Psychosyndrome 17,5 16,5

davon: Demenzen – 11,0

Alkoholmißbrauch 1,8 1,8

Alkoholabhängigkeit 2,5 4,5

Anderer Substanz-

mißbrauch 0,3 1,8

Angststörungen 0,8 1,0

Somatoforme und

dissoziative Störungen 1,8 3,3

Andere Störungen 0,3 2,8

Psychische Störungen,

insgesamt 33,0 46,8

Angegeben ist die Punkt(Sieben-Tages-)prävalenzrate psychi- scher Störungen, das heißt Störungen wurden als vorhanden gewertet, wenn sie in einem Zeitraum von sieben Tagen vor der Untersuchung vorgelegen hatten. Die psychiatrische Diagnostik erfolgte bei jeweils 200 internistischen und chirurgischen Patien- ten auf der Grundlage 1. der alleinigen Anwendung eines stan- dardisierten Verfahrens, des composite international diagnostic interview (CIDI; WHO, 1992), 2. einer Ergänzung durch eine zusätzliche psychiatrisch-klinische Untersuchung.

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hungsweise Störungsgruppen fällt al- so wegen der Nichtberücksichtigung von Nebendiagnosen eher konserva- tiv aus. Hinsichtlich der Prävalenzra- ten einzelner diagnostischer Katego- rien ist auch bemerkenswert, daß eine fast deckungsgleiche Verteilung in der internistischen wie der chirurgischen Stichprobe vorliegt.

Werden die in der LAK-Studie erhobenen Prävalenzraten (klinische Diagnostik) mit den entsprechenden Raten psychischer Störungen in der Allgemeinbevölkerung, wie sie sich aus den Untersuchungen von Dilling und Mitarbeitern (10) sowie Fichter (12) ergeben, verglichen, so zeigt sich, daß im Allgemeinkrankenhaus drei Störungsgruppen oder Störungen überrepräsentiert sind: psychoorgani- sche Störungen, Alkoholabhängigkeit und depressive Reaktionen. Sämtli- che anderen diagnostischen Kategori- en entsprachen hinsichtlich ihrer Vor- kommenshäufigkeit der Allgemein- bevölkerung (2).

Schätzung des Behandlungsbedarfs

Es kann nicht davon ausgegan- gen werden, daß alle Patienten mit diagnostizierten Störungen auch im Krankenhaus psychiatrisch behand- lungsbedürftig sind. Andererseits kann eine Behandlung in speziellen Fällen notwendig oder sinnvoll sein, auch wenn die Fallkriterien zur Stel- lung einer Diagnose nicht erfüllt sind (25, 26). Eine Schätzung des psych- iatrischen/psychosomatischen Be- handlungsbedarfs wäre von erhebli- chem Wert, da insbesondere auf die- ser Grundlage Überlegungen zur Pla- nung von Versorgungsleistungen an- gestellt werden können. Im Rahmen bisheriger Studien ist dieser Schritt je- doch meist nicht unternommen wor- den. Wesentliche Gründe hierfür sind die methodischen Schwierigkeiten, die sich im Zusammenhang mit der Operationalisierung komplexer Be- handlungsentscheidungen ergeben, aber auch die Tatsache, daß viele Er- hebungen von zwar trainierten, kli- nisch jedoch meist unerfahrenen Un- tersuchern durchgeführt wurden.

Im Rahmen der LAK-Studie wurden für jeden untersuchten Patien-

ten im Sinne einer Expertenschätzung differenziert Behandlungsindikatio- nen benannt, die in Tabelle 2zu Grup- pen zusammengefaßt sind. Dabei war maßgeblich, welche fachlich-diagno- stischen (Konsil) beziehungsweise therapeutischen Möglichkeiten für den Patienten als sinnvoll im Rahmen der Krankenhausbehandlung angese- hen wurden. Das methodische Defizit einer möglicherweise unbefriedigen- den Reliabilität wurde in Kauf genom- men, um wenigstens einen groben An- halt für das Ausmaß des Behandlungs- bedarfs zu erhalten. Andererseits konnte bei den Untersuchern auf- grund langer klinischer Zusammenar- beit (drei bis zwölf Jahre) mit tägli- chen Fallkonferenzen und langjähri- ger Konsiliarpraxis von ähnlichem Be- urteilungsverhalten ausgegangen wer- den.

Bei den meisten Patienten mit psychischen Störungen (81,7 Pro- zent), aber auch bei einigen Patienten ohne Erfüllung der Fallkriterien (8,5 Prozent), wurde mindestens ein Kon- siliarbesuch aus diagnostischen oder therapeutischen Gründen als sinnvoll angesehen. Lag eine psychische Störung vor, so wurde eine fachspezi-

fische Mitbetreu- ung in mehr als zwei Sitzungen bei 26,3 Prozent dieser Patienten als indi- ziert beurteilt. Bei der überwiegen- den Mehrheit der Patienten mit psy- chischen Störun- gen bestand ein spezifischer Be- handlungsbedarf (Tabelle 2). Irgend- eine Form der Be- handlung war bei 80,6 Prozent die- ser Patienten indi- ziert; werden so- ziale Hilfen (Haus- haltshilfen, Heim- unterbringung, Fa- milienpflege und andere) ausge- nommen, so be- steht bei 70,4 Pro- zent ein spezifi- scher Behand- lungsbedarf. Psy- chotherapie (überwiegend supportiv, vergleiche [3]) oder Pharmakothera- pie waren bei 67,7 Prozent indiziert, Psychotherapie allein bei 23,1 Pro- zent, Pharmakotherapie allein bei 18,8 Prozent und eine Kombination von beiden bei 25,8 Prozent. Die mei- sten dieser Indikationen wurden als über den Krankenhausaufenthalt hin- ausreichend beurteilt. Eine fachspezi- fische, also psychiatrische/psycho- somatische/psychotherapeutische am- bulante Weiterbehandlung wurde bei 40,4 Prozent, eine stationäre bei 8,6 Prozent der Patienten mit psychi- schen Störungen als indiziert ange- sehen.

Schlußfolgerungen

Angesichts der Ergebnisse aus der LAK-Studie kann gefragt werden, ob eine Verallgemeinerung zu einer Überschätzung der „wahren“ Präva- lenzraten psychischer Störungen führt, aber auch des „wahren“ Be- handlungsbedarfs in der Realität der Krankenversorgung. Gegen diese Überlegung spricht, daß die gefunde- nen Prävalenzraten gut mit Untersu- Tabelle 2

Behandlungsindikationen (Prozent) bei N1 = 400 internistischen und chirurgischen Patienten (Gesamtstichprobe) und N2 = 186 Patienten mit aktuell vorliegenden psychischen Störungen (klinische Diagnosen)

Art der Intervention Patientenstichprobe mit psychischen alle Störungen (N1 = 400) (N2 = 186) Im Krankenhaus:

Psychotherapeutische

Intervention 27,5 48,9

Psychopharmakotherapie 20,8 54,7

Soziale Hilfen 22,3 43,5

Verlegung in Fachabteilung/

-klinik 6,5 12,9

Nach Entlassung:

Fachspezifische

Weiterbehandlung 24,8 49,0

ambulant 20,0 40,4

stationär 4,8 8,6

Die für jeden Patienten detailliert benannten psychiatrischen/

psychosomatischen/psychotherapeutischen Behandlungsempfeh- lungen wurden zu Gruppen zusammengefaßt. Es konnten mehre- re Behandlungsempfehlungen, jedoch nur aus den unterschied- lichen Verfahrensgruppen, angegeben werden.

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chungen aus dem angloamerikani- schen, aber auch dem deutschen Sprachraum übereinstimmen (2). Le- diglich die Häufigkeit der organi- schen Psychosyndrome liegt höher als in der Mannheimer Untersuchung;

diese Differenz ist jedoch aufgrund methodischer Unterschiede der Stu- dien erklärbar (2). Es erscheint auch durchaus plausibel, daß bei etwa 80 Prozent der klinisch bedeutsamen Störungen eine Form eines psychiatri- schen/psychosomatischen/psychothe- rapeutischen Interventionsbedarfs besteht.

Eine Antwort auf die Frage, von welcher Seite diese Leistungen im kli- nischen Alltag erbracht werden müß- ten, ist in allgemeingültiger Weise nicht zu geben; sie muß auf die Kom- petenzen der jeweis vorhandenen Fachabteilungen bezogen sein. Dies- bezüglich könnte in Zukunft einer in- tensiveren, fächerübergreifenden Ko- operation zwischen Psychiatrie, Psy- chosomatik und medizinischer Psy- chologie gerade im Konsiliar-/Liai- sonbereich wesentliche Bedeutung zukommen. Es erscheint außerdem durchaus denkbar, daß ein Teil der nötigen Interventionen von psychoso- matisch-psychotherapeutisch vorge- bildeten Internisten im Rahmen der Station geleistet werden kann. Auch der rechtzeitige Einsatz von einfach handhabbaren und kaum zeitkonsu- mierenden psychiatrischen Scree- ning-Instrumenten durch die behan- delnden Ärzte oder auch das Pflege- personal kann sich in diesem Zusam- menhang als wertvoll erweisen. Letzt- lich kann jedoch nur mit Hilfe kon- trollierter Interventionsstudien ge- zeigt werden, inwieweit sich die im Zusammenhang mit einer Schätzung des Behandlungsbedarfs aufgeworfe- nen Probleme in der Praxis sachge- recht lösen lassen.

Die derzeit in vielen Klinken vor- gehaltene, fachspezifische, konsilia- rische Versorgungsleistung (17) er- scheint jedoch unzureichend. Werden zum Beispiel die Leistungen der ausgesprochen „konsilaktiven“ Lü- becker psychiatrischen Hochschulkli- nik (2000 Konsile/Jahr) analysiert (4) und mit einem theoretisch hochge- rechneten Bedarf verglichen, dann zeigt sich eine Bedarfsdeckung von durchschnittlich etwa zwölf Prozent.

Es wird dabei auch deutlich, daß psychiatrische Konsile offenbar über- wiegend bei Patienten mit einer in verschiedener Hinsicht besonders auffälligen psychopathologischen Symptomatik angefordert werden.

Die konsiliarische Betreuung von Pa- tienten mit weniger dramatischen Symptomen (depressive Reaktionen, neurotische Störungen, Demenzen) ist demgegenüber deutlich schlechter.

Diese Beobachtung entspricht Er- gebnissen aus der internationalen Literatur (26).

Ist angesichts des bereits erheb- lichen und weiter zunehmenden Ko- stendrucks im Gesundheitswesen überhaupt eine Erweiterung von Lei- stungsangeboten zu erwarten? In den USA ist die Konsiliar-/

Liaisonpsychiatrie (die ein eigenes Teilgebiet innerhalb der Psychiatrie darstellt) nach einer stürmischen Entwicklung in den 70er Jahren etwa ab Mitte der 80er Jahre aufgrund zu- nehmenden ökonomischen Drucks unter erheblichen Rechtfertigungs- zwang geraten. Auch dieser Tatsache verdanken wir eine Reihe von Unter- suchungen, die belegen, daß eine psychiatrische Komorbidität meist mit einer verlängerten Dauer des Krankenhausaufenthalts assoziiert ist (15, 32).

Rechtzeitige psychiatrische In- terventionen scheinen zu einer Ver- kürzung der Liegezeit und zu Kosten- ersparnissen zu führen (37). In jüng- ster Zeit mehren sich die Hinweise darauf, daß eine psychiatrische Ko- morbidität den Verlauf somatischer Erkrankungen ungünstig beeinflußt.

So konnte zum Beispiel in einer me- thodisch überzeugenden Studie ge- zeigt werden, daß das Vorliegen einer depressiven Symptomatik nach ei- nem Herzinfarkt als signifikanter, prädiktiver Faktor für eine höhere kardiale Mortalität gelten muß (13).

In Deutschland ist erst in den letzten Jahren im Gesundheitswesen eine Situation entstanden, in der die Knappheit der Ressourcen spürbar wird. Die Befürchtung jedoch, daß sich durch eine bessere personelle Ausstattung oder überhaupt erst durch die Einrichtung von Konsiliar- diensten zwangsläufig finanzielle Verluste ergeben, erscheint nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand nicht

gerechtfertigt. Angesichts unseres zunehmenden Wissens hinsichtlich der negativen Einflüsse unbehandel- ter psychiatrischer Komorbidität auf Behandlung und Verlauf somatischer Erkrankungen, aber auch der erheb- lichen sekundären Kosten, die durch unerkannte und chronifizierte psy- chische Störungen selbst verursacht werden (19), wird sich daher in Zu- kunft auch unter dem Kostenge- sichtspunkt die Frage stellen, ob ihre eher geringe Beachtung und damit die Einschränkung einer wichtigen Möglichkeit zur Sekundärprävention verantwortbar sind. Es sollte außer- dem nicht übersehen werden, daß Allgemeinkrankenhäuser wesentli- che Weiterbildungsstätten für später niedergelassene Allgemeinärzte sind.

Die bekannten, jüngst erneut be- stätigten geringen Fallerkennungsra- ten für psychische Störungen in All- gemeinpraxen (24) können im Zu- sammenhang mit einer Weiterbil- dungspraxis gesehen werden, die hin- sichtlich der Berücksichtigung ko- morbider psychischer Störungen in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern, Defizite auf- weist.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1997; 94: A-1354–1358 [Heft 20]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordern über die Verfasser.

Anschrift für die Verfasser

Priv.-Doz. Dr. med. Volker Arolt Klinik für Psychiatrie

Medizinische Universität zu Lübeck 23538 Lübeck

Danksagung

Die Autoren sind den folgenden Kollegen zu Dank verpflichtet: Dr. A. Bangert-Ver- leger, Dr. H. Neubauer, Dr. A. Schür- mann und Dr. W. Seibert für ihre aktive Mitarbeit an der LAK-Studie sowie Prof.

Dr. H.-P. Bruch, Prof. Dr. J. Durst, Prof. Dr.

H. L. Fehm, Prof. Dr. T. Hütterroth für ihre interessierte Bereitschaft, Patienten ihrer Abteilungen untersuchen zu lassen.

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