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Manuale psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen

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Academic year: 2022

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Manuale psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen

(2)

Martin Holtmann

Psychiatrische Syndrome nach

Hirnfunktionsstörungen

1 3

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1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

Priv.-Doz. Dr. med. Martin Holtmann Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters

Klinikum der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Deutschordenstr. 50

60528 Frankfurt

ISBN-13 978-3-540-48850-7 Springer Medizin Verlag Heidelberg

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Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Ge- währ übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden.

Planung: Renate Scheddin Projektmanagement: Renate Schulz Lektorat: Dr. Christiane Grosser, Viernheim Design: deblik Berlin

SPIN 11816720

Satz: medionet Prepress Services Ltd., Berlin Druck: Stürtz GmbH, Würzburg

Gedruckt auf säurefreiem Papier 2126 – 5 4 3 2 1 0

(4)

Für Johanna, Luisa, Lolo, Lilo,

Krabbe und Pünktchen.

(5)

VII

Vorwort

Psychiatrische Syndrome nach Hirnfunktionsstörungen umfassen psychische Krank- heiten mit nachweisbarer Ätiologie in einer Hirnerkrankung, einer Hirnverletzung oder einer anderen Schädigung, die zu einer Hirnfunktionsstörung führt. Es handelt sich um Störungsbilder im Grenzgebiet von Kinder- und Jugendpsychiatrie, Neuropädiatrie, all- gemeiner Kinderheilkunde und Neurochirurgie, bei denen für die Diagnostik und Th e- rapie dringend erforderlich ist, dass diese verschiedenen Fachdisziplinen eng zusammen- arbeiten.

Durch die eigene Begleitung von Kindern mit Hirnfunktionsstörungen, zunächst im Epilepsiezentrum Bethel, nun in der universitären Kinder- und Jugendpsychiatrie, ist mir wiederholt deutlich geworden, wie bei allen Vorteilen durch die zunehmende Spezialisie- rung in den Neurowissenschaft en, der Kinderpsychiatrie und der Pädiatrie gemeinsame Aspekte in den Hintergrund zu treten drohen.

In diesem Buch wird daher der Versuch unternommen, das komplexe Wissen über die psychiatrischen Syndrome nach Hirnfunktionsstörungen kompakt und praxisnah zusam- menzutragen, um so als Entscheidungshilfe bei der Diagnostik und Th erapie dienen zu können.

Die ersten beiden Kapitel widmen sich der Geschichte der Störungsbilder (7 Kap. 1) und ihrer Defi nition und Klassifi kation (7 Kap. 2).

Im Zentrum des Buches stehen zwei Kapitel, die sich den psychiatrischen Syndromen nach Hirnfunktionsstörungen auf unterschiedliche Weisen nähern: ausgehend vom psy- chopathologischen Befund, bei dem diff erenzialdiagnostisch an zugrunde liegende Hirn- funktionsstörungen gedacht werden sollte (7 Kap. 3) und ausgehend von bekannten orga- nischen Grunderkrankungen, die mit Hirnfunktionsstörungen einhergehen (7 Kap. 4).

Verschiedene Aspekte der Entstehung der psychiatrischen Syndrome stellt 7 Kap. 5 dar, während die 7 Kap. 6 und 7 störungsspezifi sche Diagnostik und Diff erenzialdiagnos- tik behandeln. Möglichkeiten psychotherapeutischer, neuropsychologischer, pharmako- therapeutischer und rehabilitativer Interventionen werden in 7 Kap. 8 vorgestellt.

Der letzte Teil (7 Kap. 9 und 10) befasst sich mit Verlauf und Prognose der psychiat- rischen Syndrome nach Hirnfunktionsstörungen und mit Schwerpunkten künft ig zu leis- tender Forschungsarbeit.

Das Buch richtet sich an Mediziner, Psychologen, Pädagogen und Pfl egekräft e, die an der Versorgung von psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen mit Hirnfunktions- störungen mitwirken; darüber hinaus an alle Leser, die mehr über diese Gruppe von Kin- dern und Jugendlichen mit ihren komplexen Symptomen und Schwierigkeiten wissen möchten.

Frankfurt, im Herbst 2007 Martin Holtmann

(6)

IX

Inhaltsverzeichnis

1 Ein Blick zurück: Zur Geschichte

der Störung . . . 1

2 Worum es geht: Defi nition und Klassifi kation . . . 5

2.1 Defi nition . . . 6

2.2 Leitsymptome . . . 9

2.3 Verhaltensphänotypen . . . 11

3 Organische psychiatrische Syndrome und Verhaltens auff älligkeiten . . . 15

3.1 Akute organische psychiatrische Syndrome . . . 16

3.2 Verlust erworbener Fertigkeiten und Demenz . . . 17

3.3 Leichte kognitive Störung . . . 18

3.4 Störungen der Aufmerksamkeit . . . 18

3.5 Organische Persönlichkeitsstörungen . 20

3.6 Organische depressive Störungen . . . . 22

3.7 Suizidalität . . . 23

3.8 Organische Angststörungen . . . 24

3.9 Organische maniforme Störungen . . . 24

3.10 Organische Halluzinosen, Psychosen und wahnhafte Störungen . . . 25

3.11 Organische aggressive Störungen . . . . 26

3.12 Syndromaler Autismus . . . 29

4 Hirnfunktions störungen bei organischen Erkrankungen . . . 33

4.1 Meningitis und Enzephalitis . . . 34

4.2 Schädel-Hirn-Trauma . . . 38

4.3 Infantile Zerebralparese . . . 45

4.4 Epilepsiesyndrome . . . 48

4.5 Hirntumoren . . . 61

4.6 Schlaganfälle . . . 64

4.7 Phakomatosen (Neurofi bromatose 1, tuberöse Sklerose) . . . 65

4.8 Juvenile neuronale Ceroid-Lipofuszinose 68 4.9 Morbus Wilson . . . 69

4.10 Huntington-Chorea . . . 69

4.11 Adrenoleukodystrophie . . . 70

4.12 Lupus erythematodes und zerebrale Vaskulitiden . . . 72

4.13 Metachromatische Leukodystrophie . . 74

4.14 Fetales Alkoholsyndrom . . . 75

4.15 Rett-Syndrom . . . 75

4.16 Fragiles-X-Syndrom . . . 78

4.17 Prader-Willi-Syndrom . . . 79

4.18 Angelman-Syndrom . . . 80

4.19 Sanfi lippo-Syndrom (Mukopolysaccharidose III) . . . 80

4.20 Deletion 22q11.2 . . . 82

5 Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungs psychopathologie . . . 85

5.1 Biologische Faktoren . . . 86

5.1.1 Erhöhtes Risiko für psychiatrische Störungen . . . 86

5.1.2 Geburtskomplikationen . . . 88

5.1.3 Minimale zerebrale Dysfunktion (MCD)? 90

5.1.4 Auswirkungen der Lateralisation einer Hirnfunktionsstörung . . . 91

5.1.5 Gen-Umwelt-Interaktion am Beispiel des modifi zierenden Einfl usses von ApoE auf den Verlauf nach Schädel- Hirn-Trauma . . . 93

5.2 Psychologische und Umweltfaktoren . . 96

6 Der Blick auf das Besondere: Störungspezifi sche Diagnostik . . . . 101

6.1 Symptomatik und störungsspezifi sche Entwicklungsgeschichte . . . 102

6.2 Störungsrelevante Rahmenbedingungen . . . 102

6.3 Apparative und Labordiagnostik . . . 104

6.3.1 Apparative Diagnostik . . . 104

6.3.2 Laboruntersuchungen . . . 106

6.4 Psychopathologie . . . 106

(7)

X Kapitel 1 · Ein Blick zurück: Zur Geschichte der Störung

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

6.5 Neuropsychologische Untersuchung . . 110

6.5.1 Intelligenzdiagnostik . . . 111

6.5.2 Verfahren zur Feststellung des allgemeinen Entwicklungsstandes . . . 119

6.5.3 Neuropsychologische Testbatterien . . . 121

6.6 Ausschlussdiagnostik, entbehrliche Diagnostik . . . 124

6.7 Schweregradeinteilung . . . 124

7 Unterscheiden ist wichtig: Diff erenzialdiagnostik und multiaxiale Bewertung . . . 125

7.1 Identifi zierung von Leitsymptomen und weitereren Symptomen und Belastungen unter multiaxialen Gesichtspunkten . . 126

7.2 Diff erenzialdiagnose und Hierarchie des diagnostischen und therapeutischen Vorgehens . . . 127

8 Was zu tun ist: Interventionen . . . . 129

8.1 Auswahl des Interventionsettings . . . . 131

8.2 Behandlungsprogramme und ihre Komponenten . . . 133

8.2.1 Psychotherapeutische und psycho- edukative Strategien. . . 133

8.2.2 Neuropsychologische Behandlungs- programme . . . 139

8.2.3 Pharmakotherapeutische Strategien . . 144

8.3 Rehabilitation, Jugendhilfe und Schwerbehindertenrecht . . . 154

8.3.1 Rehabilitation . . . 155

8.3.2 Jugendhilfe . . . 159

8.3.3 Schwerbehindertenrecht . . . 161

8.4 Ethische Fragen . . . 162

9 Der Blick voraus: Verlauf und Prognose . . . 163

10 Was wir nicht wissen: Off ene Fragen und zukünftige Forschungsdesiderate . . . 167

10.1 Welche Interventionen wirken . . . 168

10.2 Wie das Teilhaberecht hirnfunktions- gestörter Patienten in Versorgungs- konzepten umgesetzt werden kann . . 168

10.3 Wie Schutzfaktoren im Verlauf von Hirnfunktionsstörungen wirken . . . 169

10.4 Wie das Verständnis biologischer Korrelate verbessert werden kann . . . . 170

10.5 Wie die künftige Klassifi kation neuro- psychologischer Symptome aussehen könnte . . . 171

10.6 Welche Bedeutung organische Befunde bei sog. endogenen Syndromen haben 171

10.7 Welche Rolle genetische Faktoren spielen . . . 172

Literatur . . . 173

Sachverzeichnis . . . 189

(8)

1

Ein Blick zurück:

Zur Geschichte der Störung

(9)

2 Kapitel 1 · Ein Blick zurück: Zur Geschichte der Störung

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

Spätestens seit den Zeiten der hippokratischen Medizin werden zwei Arten psychischer Erkran- kungen unterschieden: solche, die im psychischen Bereich selbst entstehen, und solche, die sich auf medizinische Grunderkrankungen zurückfüh- ren lassen. Diese ätiologische Diff erenzierung in endogene und exogene psychiatrische Störungen wurde im Verlauf der (Medizin-)Geschichte wei- terentwickelt. Eindrucksvolle klinische Berichte fi nden sich aus den Frühzeiten der Psychiatrie Anfang des 19. Jahrhunderts. So beschrieb etwa Christian Friedrich Nasse, der Begründer der

»Zeitschrift für psychische Ärzte«, sehr genau mögliche organische Ursachen psychischer Auf- fälligkeiten: »Der Reiz, welcher das Gehirn bei Seelenverückungen so verändert, kann verschie- dener Art sein: ein nach innen ragendes Schädel- dach, ein Gewächs im Gehirn, oder auf Typhus«

(zit. nach Nissen 1990). Nasse warnt aber davor, in jeder psychiatrischen Erkrankung eine Folge

»von krankhaft en Veränderungen im Schädel«

zu sehen.

Das Bemühen, die Unterscheidung in endo- gene und exogene Störungen auch für das Kin- desalter fruchtbar zu machen, ist seit den Anfän- gen einer alters- und entwicklungsgerechten Klassifi kation zerebraler Erkrankungen in der zweiten Hälft e des 19. Jahrhunderts belegt. So weist H. Schüle (1878) in seinem »Handbuch der Geisteskrankheiten« darauf hin, dass »Defect- und Entartungszustände im Kindesalter … im Gefolge interkurrenter körperlicher Erkran- kungen« auft reten können. Und in einer Fallse- rie gibt Berkhahn (1834–1917) für die Hälft e von 28 psychisch kranken Kindern an, dass die Ursa- che ihrer Auff älligkeiten in einer organischen Erkrankung gelegen habe (Infektionskrank- heiten, Konvulsionen, Chorea, Epilepsie, Inso- lation, Hydrozephalus); bei drei weiteren sei die Störung »erblich«, drei hätten eine »verkehrte Erziehung« gehabt, fünf seien »durch Schreck«

erkrankt, ein Kind »durch Lesen von Ritterro- manen« und eines durch »sitzende Lebensweise

und schlechte Kost« (zit. nach Nissen 1990). Das Zusammenspiel organischer und psychosozialer Ursachen bei der Entstehung kindlicher psy- chischer Störungen wird von Kahlbaum (1884) geschildert. Es sei nicht selten, dass ein psychi- atrischer Patient »in frühester Kindheit schwer krank gewesen sei, … (etwa) an einer Kopf- resp.

Geisteskrankheit«. Zusätzlich seien die Kinder aber häufi g durch den frühen Tod ihrer Eltern verunsichert worden.

Eine erste terminologische Abgrenzung und Diff erenzierung exogen verursachter psy- chischer Störungen erfolgte durch Bonhoeff er (1908) mittels der Begriff e der »exogenen psy- chischen Reaktionstypen« (im Rahmen interni- stischer Erkrankungen) und des »organischen Psychosyndroms« als Bezeichnung für zerebrale Erkrankungen mit chronischem Verlauf.

Häufi ge Ursachen hirnorganischer Psycho- syndrome bei Kindern waren im 19. und begin- nenden 20. Jahrundert, abhängig von den histo- rischen Rahmenbedingungen, frühkindliche Ernährungsstörungen, Infektionen (etwa infol- ge der Encephalitis-lethargica-Epidemie 1919–

1921), Kernikterus, später auch Impfschäden (insbesondere Enzephalitiden und Enzephalo- pathien nach Pockenimpfungen).

Unser heutiges Verständnis kinderpsychiat- rischer Syndrome nach Hirnfunktionsstörungen ist immer noch massgeblich geprägt durch die grundlegenden Arbeiten von Rutter et al. (1970, 1976) im Rahmen der epidemiologischen Isle-of- Wight-Studien. Eine Längsschnittstudie an allen Kindern der Isle of Wight konnte einen starken Zusammenhang zwischen neurologischen Stö- rungen und psychiatrischen Auff älligkeiten belegen. In Folgestudien wurde zudem aufge- zeigt, dass diese Assoziation auch bei Berück- sichtigung möglicher konfundierender Faktoren (wie etwa Intelligenz und körperliche Behinde- rung) bestehen blieb und auch für erworbene Hirnschädigungen gilt.

(10)

Ein Blick zurück: Zur Geschichte der Störung 3

1

Auch die großen deutschen prospektiven Studien zur Entwicklungspsychopathologie von Kindern und Jugendlichen, die Rostocker Längs- schnittstudie (ROLS) und die Mannheimer Risi- kokinderstudie, waren von Beginn an darauf ausgelegt, die Wechselwirkungen zwischen orga- nischen Belastungen und psychosozialen Risi- kofaktoren und deren Eff ekte auf die kindliche Entwicklung zu erfassen (z. B. Laucht et al. 2000;

Meyer-Probst u. Reis 1999). Insbesondere die ROLS zielte darauf ab, die Interaktionswirkungen zwischen frühkindlichen zerebralen Belastungs- faktoren und Umweltverhältnissen durchschau- barer zu machen, Ursachen und Bedingungen psychischer Entwicklungsunterschiede aufzu- zeigen und die Kenntnisse zur prognostischen Urteilsbildung zu vertiefen (während Kinder mit schweren körperlichen Behinderungen und genetischen Erkrankungen in der Mannheimer Studie ausgeschlossen wurden).

Das Verständnis der Auswirkungen von Hirn- funktionsstörungen im Kindes- und Jugendalter, wie es in der vorliegenden Arbeit dargelegt wird, lässt sich nicht trennen von der Debatte um den Begriff der sog. minimalen zerebralen Dysfunk- tion (MCD). Andere Begriff e für die Symptom- konstellation, die mit der MCD verbunden wird, sind der von Lempp (1964) eingeführte Terminus eines »frühkindlich-exogenen Psychosyndroms«

oder das von Corboz (1966) defi nierte »psycho- organische Syndrom im Kindes und Jugendal- ter« (POS). Anhand der Entwicklung der Dis- kussion um das MCD-Konstrukt lässt sich gut die methodische und wissenschaft liche Fort- entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiat- rie sowie die zunehmende Diff erenzierung äthi- opathogenetischer Vorstellungen nachvollzie- hen (Lehmkuhl u. Melchers 2001a). Mithilfe des MCD-Konzeptes war versucht worden, für eine Vielzahl von Lern- und Verhaltensstörungen, die durch psychosoziale Faktoren nicht zu erklä- ren waren und für die ein »harter« Beleg einer Hirnschädigung nicht erbracht werden konnte,

dennoch eine plausible Erklärung zu fi nden. Die anfängliche Bedeutsamkeit des Konstruktes liegt darin, eine zuvor nicht erkannte und in ihrer Ent- wicklung beeinträchtigte Gruppe von Kindern näher beschreiben und untersuchen zu können.

In dem Maße, in dem aber die hinter dem allge- meinen Begriff der MCD sich verbergenden spe- zifi scheren Störungsbilder erkannt und beschrie- ben wurden, musste das MCD-Konzept infrage gestellt werden.

In diesem Zusammenhang stellt die Quer- schnittsuntersuchung von Esser und Schmidt (1987; vgl. auch Schmidt et al. 1987) einen ent- scheidenden Fortschritt und eine empirische Fundierung der Diskussion um Hirnfunktions- störungen dar. An einer Feld- und Inanspruch- nahmepopulation 8-jähriger Kindern wurden die Basisannahmen eines einheitlichen Syn- droms, wie es für die MCD postuliert wurde, empirisch überprüft : einheitliche Psychopatho- logie, gemeinsame Ätiologie, erhöhte psychiat- rische Störungsrisiken.

Esser und Schmidt (1987) konnten bele- gen, dass sich hinter der postulierten MCD kein einheitliches Syndrom verbirgt. Die Autoren schlugen vor, anstelle des MCD-Konstruktes auf das Konzept der Teilleistungsschwächen zurück- zugreifen. Aber noch in neueren, insbesondere neuropädiatrischen und entwicklungsneurolo- gischen Lehrbüchern, lebt die MCD ungeachtet aller Schwächen dieses Konstruktes als Terminus und zuweilen auch als Erklärungsmodell fort (etwa bei Michaelis u. Niemann 2004).

Neben den Fortschritten in Klassifi kation und Diagnostik wurden auf der Grundlage neu- rowissenschaft licher, psychiatrischer und psy- chologischer Erkenntnisse auch eine ganze Rei- he von Interventionsmethoden entwickelt, um die häufi g im Rahmen von Hirnfunktionsstö- rungen auft retenden motorischen, kognitiven, emotionalen, motivationalen und psychosozi- alen Störungen zu behandeln. Ein erster Schritt in der Entwicklung neuropsychologischer

(11)

4 Kapitel 1 · Ein Blick zurück: Zur Geschichte der Störung

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

Behandlungsmethoden erfolgte in den Hirn- verletztenlazaretten des 1. Weltkrieges, in denen hirnverletzte Soldaten eine ihren Erfordernis- sen entsprechende Behandlung erfuhren (histo- rischer Überblick in Gauggel 2003). Während des 2. Weltkrieges fand diese Entwicklung, u. a.

aufgrund der Vertreibung vor allem jüdischer Wissenschaft ler, zunächst ein Ende. Die Zusam- menarbeit von Psychologen und Ärzten wurde dann bei der Erforschung des Zusammenhangs zwischen dem Aufb au und den Strukturen des Gehirns und seinen Funktionen seit Mitte der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts wiederbe- lebt. Psychologen wurden in klinischen Ein- richtungen bei der Diagnostik von Patienten mit Erkrankungen des Gehirns aktiv und gaben auch Hinweise auf die mögliche Lokalisation der Läsion. Solche Informationen waren damals ins- besondere für Neurochirurgen von erheblicher Bedeutung, da diese noch nicht über bildge- bende Verfahren wie beispielsweise die Compu- tertomographie oder die Kernspintomographie verfügten.

Angesichts der Erkenntnis, dass das Gehirn selbst nach einer schwerwiegenden Schädigung noch eine erhebliche Plastizität besitzt, wurde seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts das Augenmerk auch auf die systematische Entwick- lung von neuropsychologischen Behandlungme- thoden hirnfunktionsgestörter Patienten gelegt.

Demgegenüber steht die systematische Erfor- schung psychotherapeutischer und pharmako- therapeutischer Behandlungsansätze speziell für Kinder und Jugendliche mit Hirnfunktionstö- rungen und ihren psychiatrischen Folgen noch am Anfang.

(12)

2

Worum es geht:

Defi nition und Klassifi kation

2.1 Defi nition – 6

2.2 Leitsymptome – 9

2.3 Verhaltensphänotypen – 11

(13)

6 Kapitel 2 · Worum es geht: Defi nition und Klassifi kation

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

2.1

Defi nition

Psychiatrische Syndrome nach Hirnfunktions- störungen umfassen psychische Krankheiten mit nachweisbarer Ätiologie in einer Hirnerkran- kung, einer Hirnverletzung oder einer anderen Schädigung, die zu einer Hirnfunktionsstörung führt.

Praktisch alle bekannten psychopatholo- gischen Symptome, Syndrome und Persönlich- keitsakzentuierungen können auch Resultat einer systemischen oder einer hirnorganischen Erkrankung sein, d. h., sie können prinzipiell auch durch Hirnfunktionsstörungen induziert werden (Lishman 1987).

Im klinischen Querschnittsbild sind die Syn- drome nach Hirnfunktionsstörungen psychopa- thologisch oft nicht eindeutig von den bekannten endogenen oder psychogenen Störungen zu unterscheiden. Daher ist das Eingangskriteri- um für ihre Diagnose das Vorhandensein einer organischen Erkrankung, die anerkannterma- ßen zu einer Funktionsstörung des Gehirns füh- ren kann. Diese Funktionsstörung kann eine pri- märe Schädigung sein, bei Krankheiten, Verlet- zungen oder Störungen, die das Hirn direkt oder in besonderem Maße betreff en und deren Kor- relat oft morphologisch fassbar ist. Die Funkti- onsstörung kann aber auch eine sekundäre Schä- digung, z. B. bei Systemerkrankungen oder Stö- rungen, die auf das Gehirn nur als eines von vielen anderen Organen oder Körpersystemen übergreifen.

In diesem Zusammenhang ist es notwendig, den Begriff der Hirnfunktionsstörung genauer einzugrenzen und zu operationalisieren. Esser und Schmidt (1987) schlagen vor Verände- rungen der neurophysiologischen, neuropsy- chologischen und Leistungsparameter zu ver- wenden, um Hirnfunktionsstörungen objektiv zu erfassen.

!

In der Vergangenheit wurde eine Vielzahl von Begriff en zur Bezeichnung psychiatrischer Syndrome nach Hirnfunktionsstörungen einge- führt, so etwa

akute exogene Reaktionstypen (Bonhoeff er), organisches Psychosyndrom (Bleuler), organische oder symptomatische Psychosen, hirnorganisches Psychosyndrom,

psychoorganische Störung,

organische Persönlichkeitsstörungen (von Baeyer),

Durchgangssyndrom (Wieck),

psychoorganisches Syndrom im Kindes und Jugendalter (Corboz),

frühkindlich-exogenes Psychosyndrom (Lempp),

körperlich begründbare psychische Stö- rungen.

Die auf unterschiedlichen, z. T. divergierenden Konzepten beruhende und oft verwirrende historische Terminologie wurde durch die Ein- führung diagnostischer Manuale einheitlicher (Maurer u. Wetterling 2006). Aber noch in den aktuellen Versionen der Manuale zur Klassifi ka- tion psychischer Störungen, dem DSM-IV-TR (APA 2004) und der ICD-10 (WHO 1992), treten unterschiedliche Konzepte zu Tage. Der Bezug zur »körperlichen Begründbarkeit« ist aber in beiden Klassifi kationssystemen gewahrt.

Die ICD-10 spiegelt das »klassische« Kon- zept exogener Störungen wider, demzufolge organische psychischen Syndrome als recht gut abgrenzbare Entität angesehen werden. Dem- zufolge werden dort »organische psychische Störungen« zusammen in einem Kapitel (F0) abgehandelt. Psychische Störungen, Persön- lichkeits- und Verhaltensstörungen nach Hirn- funktionsstörungen bzw. Krankheiten oder Schädigungen des Gehirns fi nden sich speziell in den Kapiteln F06 und F07. Nicht ganz in Über- einstimmung mit diesem umfassenden Konzept fi nden sich allerdings einzelne Störungsbilder, 55

55 55

5 5 5 5

(14)

2.1 Defi nition 7

2

die mit psychiatrischen Auff älligkeiten orga- nischer Genese einhergehen, darüber hinaus verstreut in den Kapiteln F02 (Demenzen infol- ge von organischen Erkrankungen) und F8 (z. B.

Landau-Kleff ner-Syndrom). Durch Alkohol und andere psychotrope Substanzen induzierte psy- chische Störungen werden in der ICD-10 (wie auch im DSM-IV) in einer eigenständigen dia-

Leitsymptome

Psychische Krankheiten mit nachweisbarer Ätiologie in einer zerebralen Krankheit, einer Hirnverletzung oder

einer anderen Schädigung, die zu einer Hirnfunktionsstörung führt (ICD-10)

erhebliche Störungen

• kognitiver Funktionen

• des Sensoriums

• Demenz (F00–F03)

• amnestisches Syndrom (F04)

• Delir (F05)

• minimale kognitive oder sensorische Defizite

• symptomatische unspezifische Phänomene (ähnlich den Syndromen aus F02-F06)

bedingt durch psychotrope Substanzen, die unter F10–F19

klassifziert sind?

psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (F10–F19)

psychiatrische Symptomatik ähnlich oder identisch mit einem der

unter F02 bis F05 aufgeführten Syndrome?

Sonstige psychische Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder

einer körperlichen Krankheit (symptomatische Störungen) (F06)

Persönlichkeits- und Verhaltens- störungen aufgrund einer Krankheit.

Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns (F07 )

nicht näher bezeichnete, organisch bedingte Persönlichkeits- und

Verhaltensstörungen (F09)

ja nein

ja nein

ja nein

ja nein

Abb. .. Klassifi kation und Diff erenzialdiagnosen psychiatrischer Syndrome nach Hirnfunktionsstörungen. (Nach DGKJP et al. 2007)

.

(15)

8 Kapitel 2 · Worum es geht: Defi nition und Klassifi kation

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

gnostischen Rubrik geführt (F10–F19), obschon diese psychopathologischen Syndrome dem Wesen nach zur Gruppe der psychiatrischen Syndrome nach Hirnfunktionstörungen gehören (. Abb. 2.1). Ähnliches gilt für Verhaltensauf- fälligkeiten im Rahmen von Intelligenzminde- rungen, die ohne nähere Beschreibung und Dif- ferenzierung der Symp tome in Kapitel F7 der ICD-10 klassifi ziert werden, etwa als Intelligenz- minderung mit »deutlicher Verhaltensstörung, die Beobachtung und Behandlung erfordert«.

ICD-10-Kriterien für eine psychische Störung nach Hirnfunktionsstörung (WHO 1992)

. Vorhandensein einer organischen Erkrankung, die direkt oder indirekt eine Störung der Hirnfunktion bewirken kann.

. Zeitlicher Zusammenhang zwischen der Entwicklung der zugrunde liegen- den organischen Erkrankung und dem Auftreten des psychiatrischen Syn- droms.

. Besserung des psychiatrischen Syn- droms nach Rückbildung der organisch- en Erkrankung.

. Ausschluss einer anderen Verursachung des psychiatrischen Syndroms.

Wenn die Kriterien 1, 2 und 4 der ICD-10 zutreff en, kann eine kausale Beziehung zwi- schen organischer Störung und neuropsy- chiatrischem Syndrom angenommen wer- den. Triff t Kriterium 3 zusätzlich zu, erhöht dies deutlich den Sicherheitsgrad der dia- gnostischen Zuordnung. Allerdings ist dieses Kriterium praktisch wenig bedeut- sam, da es erst nach Besserung der Sympto- matik erhoben werden kann und somit für die therapeutische Entscheidung unerheb- lich ist.

Im DSM-IV fi ndet sich im Unterschied zur ICD- 10 kein eigenes Kapitel zu organischen psy- chischen Störungen; auf die explizite Qualifi zie- rung als »organisch bedingt« wird verzichtet, um nicht anzudeuten, andere psychische Störungen wie Schizophrenien oder aff ektive Störungen ermangelten einer organischen Basis. De facto aber werden in der korrespondierenden noso- logischen Rubrik die analogen Störungen wie in der ICD-10 aufgeführt. Dabei wird eine Diff e- renzierung vorgenommen in

kognitive Störungen (Delir, Demenz), Störungen im Zusammenhang mit psycho- tropen Substanzen und

psychische Störungen infolge eines medizi- nischen Krankheitsfaktors.

Die letzteren Störungen werden abhängig von ihrer Symptomatik gemeinsam mit den bekannten psychiatrischen Störungsbildern ähnlicher Symptomatik in den entsprechenden Kapiteln abgehandelt, etwa die depressive Stö- rung infolge eines medizinischen Krankheitsfak- tors im Kapitel aff ektive Störungen.

DSM-IV-Kriterien für eine psychische Störung nach Hirnfunktionsstörung (APA 2004)

. Allgemeine Kriterien für die entsprech- ende psychische Störung (z. B. aff ektive Störung) müssen erfüllt sein.

. Deutliche Hinweise, dass die psychische Störung direkte Folge eines med- izinischen Krankheitsfaktors ist.

. Das Syndrom kann nicht durch eine andere psychische Störung besser erk- lärt werden.

. Das Syndrom tritt nicht nur im Rahmen eines Delirs auf.

Nicht immer werden sich die neuropsychiat- rischen Folgen einer Hirnfunktionsstörung 5

5 5

(16)

2.2 Leitsymptome 9

2

zwanglos einer Kategorie der Klassifi kationssy- steme zuordnen lassen. Dies kann z. B. der Fall sein, wenn Patienten nur wenige Symptome auf- weisen oder nicht alle Kriterien für das Vollbild eines psychiatrischen Syndroms erfüllen (»oli- gosymptomatische Fälle«; Wetterling 2002). In diesem Zusammenhang sei auf die Vor- und Nachteile kategorialer Klassifi kationssysteme im Vergleich zu einer dimensionalen Betrachtungs- weise verwiesen, auf die weiter unten eingegan- gen wird. Auch subsyndromale Störungen kön- nen aber zu erheblichen Einschränkungen bei den betroff enen Kindern und Jugendlichen füh- ren. Daher werden in dieser Monographie auch neuropsychiatrische Störungen angeführt, die nicht das Vollbild einer Diagnose, etwa nach ICD-10, erfüllen.

2.2

Leitsymptome

Psychiatrische Syndrome nach Hirnfunktions- störungen lassen sich in akute und chronische Formen unterteilen.

Im Kindesalter kann jede akute Erkrankung, gleich ob infektiöser, raumfordernder, trauma- tischer oder metabolisch-toxischer Art, eine Hirnfunktionsstörung mit konsekutivem psychi- atrischen Syndrom verursachen.

Zu diesen akuten Syndromen zählen demen- zielle, delirante und amnestische Zustandsbilder sowie Intoxikationen. Diese akuten Krankheits- bilder werden im Folgenden nicht detailliert behandelt. Ausführliche Darstellungen zu ihrer Diagnostik und Behandlung fi nden sich etwa bei Wetterling (2002).

Demenzielle, delirante und amnestische Syn- drome werden in ihren typischen kognitiven Störungen auch als psychoorganische Syndrome ersten Rangs bezeichnet (Kapfh ammer 2001).

Ihnen sind nosologisch als psychoorganische

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Syndrome zweiten Rangs zahlreiche chronische psychische Störungen an die Seite gestellt, die nicht diese symptomatologische Hinweiskraft auf organische Krankheitsprozesse besitzen.

Für die chronischen Syndrome lassen sich kaum pathognomonische, spezifi sche Leit symp- tome abgrenzen, da praktisch alle beobacht- baren psychopathologischen Symptome, die im Rahmen »endogener« Störungen ohne feststell- bare körperliche Schädigung auft reten, auch Folge einer Hirnfunktionsstörung sein kön- nen.

Ein einheitliches »organisches Psychosyn- drom« kann nicht belegt werden. Der Unter- schied zwischen psychiatrischen Auff älligkeiten

»normaler« und hirnfunktionsgestörter Kin- derund liegt off enbar in der quantitativen Aus- prägung, nicht in der Verdichtung (Lehmkuhl u.

Th oma 1989). Lässt man mit Fragebögen Eltern ein breites Verhaltensspektrum ihrer hirnge- sunden oder hirngeschädigten Kinder einschät- zen, so ergeben sich zwar deutliche Gruppen- unterschiede, wobei hirnfunktionsgestörte Kin- der in ihrem Verhalten anhaltend und in einem hohen Prozentsatz, d. h. bis zu 60, ausgeprägte Symptome aufweisen. Die Resultate der Fak- torenstruktur zeigen allerdings für beide Grup- pen überraschend hoch übereinstimmende Fak- toren (Hyperkinese, soziale Anpassung, emoti- onale Labilität, Intelligenz und Konzentration).

Hieraus schlussfolgern Lehmkuhl und Mel- chers (2001b), dass das hirnorganische Achsen- syndrom im Wesentlichen strukturgleiche, psy- chische Funktionen bei hirngeschädigten wie gesunden Kindern kennzeichnet.

Daher ist es folgerichtig, dass im DSM-IV die nach Hirnfunktionsstörungen auft retenden Syndrome in den entsprechenden Kapiteln (z. B.

zu psychotischen Störungen) aufgeführt und als »psychische Störung aufgrund eines medizi- nischen Krankheitsfaktors« bezeichnet werden, sodass neben den allgemeinen Kriterien für die organische psychische Störung die spezifi schen

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10 Kapitel 2 · Worum es geht: Defi nition und Klassifi kation

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Kriterien des jeweiligen psychiatrischen Syn- droms erfüllt sein müssen.

Wesentliches Merkmal aller psychiatrischen Syndrome nach Hirnfunktionsstörungen sind auff ällige und tiefgreifende Veränderungen mit einem zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Auftreten des psychischen Syndroms und der zugrunde liegenden Erkrankung und einer Rückbildung der psychischen Störung, sollte sich die organische Grunderkrankung bessern.

Bei den chronischen psychiatrischen Syndromen infolge von Hirnfunktionsstörungen können sowohl kognitive Symptome auft reten als auch psychiatrische Symptome im engeren Sinn.

Somit werden im DSM organisch bedingte Störungen mit vorwiegend kognitiven Beein- trächtigungen von solchen mit vorwiegend psy- chischer Symptomatik voneinander getrennt.

Die ICD-10 subsumiert die leichten kognitiven Störungen unter der Rubrik »sonstige orga- nische Persönlichkeits- und Verhaltensstö- rungen (F07.8)«.

Veränderungen, die sich stärker auf den kogni- tiven Bereich erstrecken, äußern sich dann z. B.

in einer Unfähigkeit oder reduzierten Fähigkeit, eigene Handlungen zu planen und ihre wahr- scheinlichen Konsequenzen vorauszusehen, wie beim sog. Frontalhirnsyndrom. Kognitive Auf- fälligkeiten zeigen sich zudem etwa in Störungen der Merk- und Konzentrationsfähigkeit.

Neben kognitiven Störungen können sich Hirnfunktionsstörungen auch in Zustandsbil- dern mit eindeutig psychiatrischem Charakter manifestieren, so etwa in depressiven und psy- chotischen Störungen oder auch im emotionalen Bereich, wobei dann meist emotionale Labilität, Stimmungsumschwünge, Reizbarkeit, Wut und Aggressionszustände oder auch Apathie im Vor- dergrund stehen.

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Die Frage, ob eine bestimmte Folge einer Hirn- funktionsstörung kognitiver oder psychiat- rischer Natur sei, ist nicht immer eindeutig zu beantworten, sind doch beide Domänen aufs Engste miteinander verknüpft.

Impulsivität etwa kann sowohl als kogni- tives Symptom imponieren, z. B. als impulsiver Arbeitsstil, aber auch als (unspezifi sches) Sym- ptom im Rahmen einer Vielzahl von psychiat- rischen Störungsbildern, etwa bei Psychosen oder Störungen des Sozialverhaltens. Auch wenn die Grenzen zwischen den beiden Domänen fl ie- ßend sind, wird im vorliegenden Band dennoch gelegentlich zwischen kognitiven und psychiat- rischen Symptomen diff erenziert. Dies erscheint u. a. angebracht zur Verdeutlichung der besonde- ren Aufgaben, die verschiedenen Berufsgruppen im Rahmen des diagnostischen und therapeu- tischen Prozesses zukommen. So sind die Dia- gnostik und Th erapie von Störungen kognitiver Basisfunktionen Aufgabenbereiche, bei denen die besonderen Kompetenzen von klinischen (Kinder-)Neuropsychologen zum Einsatz kom- men. Demgegenüber werden beispielsweise psy- chotische Störungen infolge einer Anfallser- krankung vorrangig psychiatrische Kompetenz erfordern. In aller Regel sollte die Behandlung der Kinder in einem multiprofessionellen Team erfolgen, mit mehrdimensionaler Diagnostik, der Erstellung eines interdisziplinären Behand- lungsplans, sowie der Indikation, Einleitung und Koordination von speziellen Behandlungsmaß- nahmen durch verschiedene Berufsgruppen mit je eigenen Kompetenzen.

Die organisch bedingten Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen gliedern sich im Kapi- tel F07 der ICD-10 in Untergruppen auf, deren Abgrenzung voneinander aufgrund der sich überlappenden Symptomatik nicht einfach ist:

organische Persönlichkeitsstörung (F07.0), postenzephalitisches Syndrom (F07.1),

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55

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2.3 Verhaltensphänotypen 11

2

organisches Psychosyndrom nach Schädel- Hirn-Trauma (F07.2),

sonstige organische Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen aufgrund einer Krank- heit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns (F07.8).

Die Zuordnung der Symptomatik zu den ein- zelnen Syndromen ergibt sich meist aus der Klärung der Zusammenhangsfrage. Die Syn- drome F07.0–F07.2 werden weiter unten im 7 Abschn.»Organische psychiatrische Syn- drome und Verhaltensauff älligkeiten« detail- lierter behandelt.

Bei der Kategorie F07.8 in der ICD-10 (son- stige organische Persönlichkeits- und Verhaltens- störungen) handelt es sich um eine »Restkatego- rie«, die verschiedenste Störungsbilder umfasst, für die (noch) keine eigenen diagnostischen Kri- terien formuliert sind oder um Fälle, die wegen ihres Ausprägungsgrades nicht die vollen Krite- rien für eine Störung gemäß F07.0 erfüllen. Als noch einigermaßen abgrenzbares Syndrom lässt sich die »rechts-hemisphärisch bedingte aff ek- tive Störung« herausstellen, die durch eine Ein- schränkung der Fähigkeit, Emotionen auszu- drücken oder zu erkennen, gekennzeichnet ist und die bei Patienten mit einer rechts-hemi- sphärischen Störung vorkommt. Diese wirken im ersten Eindruck oft depressiv, in Wirklich- keit sind sie aber nur unzureichend in der Lage, Emotionen auszudrücken. In die Rubrik F07.8 gehört ferner jedes andere umschriebene, aber nur vermutete Syndrom einer Persönlichkeits- oder Verhaltensstörung als Folge einer Krank- heit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns, das nicht unter F07.0–F07.2 fällt; außer- dem Zustandsbilder mit leichter kognitiver Stö- rung, die noch nicht das Ausmaß einer Demenz bei kontinuierlich fortschreitenden Störungen erreicht haben.

5 5

2.3

Verhaltensphänotypen

Das Konzept der Verhaltensphänotypen (»beha- vioural phenotypes«) wurde erstmals von dem Pädiater Nyhan (1972) eingeführt, der am Bei- spiel des nach ihm benannten Lesch-Nyhan- Syndroms, einer genetisch bedingten Störung mit extremen Selbstverletzungen, aufzeigte, dass bestimmte charakteristische Verhaltens- weisen und -auff älligkeiten häufi g Bestand- teil einzelner genetischer Syndrome sein kön- nen. Nyhan postulierte, es handele sich um orga- nisch bedingte Verhaltensweisen, auch wenn die zugrunde liegenden Pathomechanismen nicht geklärt seien. Die Überlegungen zu den Verhal- tensphänotypen wurden in den folgenden Jah- ren konzeptuell weiterentwickelt und führten u. a. zur Gründung einer Society for the Study of Behavioural Phenotypes (SSBP), mit umfang- reicher Publikationstätigkeit (http://www.ssbp.

co.uk). Als klassisch gilt mittlerweile die Defi - nition in Anlehnung an Arbeiten von Flint und Yule (1994) und Dykens (1995), derzufolge ein Verhaltensphänotyp zu verstehen ist »als eine Kombination von bestimmten Entwicklungs- und Verhaltensmerkmalen, die bei Kindern und Erwachsenen mit einem defi nierten genetischen Syndrom mit einer höheren Wahrscheinlichkeit auft ritt als bei Kindern und Erwachsenen mit einer Behinderung anderer Ursache« (Sarim- ski, 2003, S. 25). Das Muster charakteristischer Merkmale kann dabei motorische, kognitive, sprachliche und soziale Auff älligkeiten umfas- sen. In manchen Fällen stellt der Verhaltens- phänotyp eine defi nierte psychiatrische Störung dar, in anderen Fällen treten besondere Verhal- tensweisen auf, die üblicherweise nicht als Symp- tome einer defi nierten psychiatrischen Störung auft reten (Seidel 2002).

Das Konzept der Verhaltensphänotypen spie- gelt die klinische Erfahrung wider, dass viele Individuen mit einem bestimmten gene-

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12 Kapitel 2 · Worum es geht: Defi nition und Klassifi kation

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tischen Syndrom bestimmte, relativ spezifi sche Gemeinsamkeiten in ihrer Entwicklung und ihrem Verhalten zeigen.

Dies bedeutet aber nicht eine pauschale Zuschreibung unveränderlicher psychischer Eigenschaft en in dem Sinne, dass die syndrom- typischen Merkmale für jeden von einem Syn- drom Betroff enen in gleicher Weise oder auf jeder Entwicklungsstufe zutreff en müssten oder dass das Verhaltensmuster unveränderlich gene- tisch festgeschrieben und keiner Intervention zugänglich sei (Sarimski 2003). Während einige Verhaltensweisen relativ spezifi sch und charak- teristisch für bestimmte Syndrome sind, gelten andere Auff älligkeiten als unspezifi sch und fi n- den sich bei einer Vielzahl von Kindern mit gei- stiger Behinderung unterschiedlichster Gene- se. Nicht in jedem Einzelfall einer bestimmten genetischen Störung muss ein Verhaltensphä- notyp auft reten, und nicht jedes auff ällige Ver- halten bei einem bestimmten Syndrom kann einem Verhaltensphänotyp zugeschrieben wer- den.

Erkenntnisse über den Zusammenhang eines Verhaltensphänotyps mit einem genetischen Syndrom sollten Raum lassen für die interindi- viduelle Variabilität innerhalb eines Syndroms, also die Beobachtung, dass natürlich auch zwi- schen Kindern mit gleichem genetischen Syn- drom Unterschiede im Verhalten auft reten. Th e- rapeutisch bedeutsam ist zudem die intraindivi- duelle Variabilität, d. h. die Veränderung eines Symptoms bei einem bestimmten Kind, abhän- gig von äußeren und sozialen Bedingungen. Syn- dromspezifi sche Verhaltensdispositionen sind eben nur eine unter vielen verschiedenen Bedin- gungen, die auf die Entwicklung eines Kindes Einfl uss nehmen (Sarimski 2003). Eine Bedin- gungsanalyse problematischer oder herausfor- dernder Verhaltensweisen (»challenging beha- viour«) öff net den Blick für das Wechselspiel zwischen dem Verhalten eines Kindes und sei-

ner jeweiligen Umgebung (ausführlicher hierzu 7 Abschn. 6.2).

Ein Verhaltensphänotyp ist ein Muster von motorischen, kognitiven, sprachlichen, sozialen und Verhaltensauff älligkeiten, das bei einem defi nierten genetischen Syndrom mit einer höheren Wahrscheinlichkeit auftritt als bei einer Behinderung anderer Ursache.

Werden diese Einschränkungen und Grenzen des Ansatzes beachtet, kann das Konzept der Verhaltensphänotypen einen wichtigen Beitrag zum Verständnis von Verhaltensauff älligkeiten nach Hirnfunktionsstörungen leisten, der über die ursprüngliche Anwendung auf genetische Syndrome hinausgeht.

Der Nutzen des Konzeptes besteht dann darin, schon bei Diagnosestellung empirisch gewonnene Zukunft sperspektiven aufzei- gen zu können und Eltern, Ärzte, Psychologen und Pädagogen frühzeitig für die spezifi schen Bedürfnisse des Kindes zu sensibilisieren. Wenn bei einem bestimmten Syndrom bestimmte Ver- haltensauff älligkeiten oder psychiatrische Stö- rungen gehäuft auft reten, kann dieses Wissen deren Früherkennung und die frühe Einleitung gezielter therapeutischer Interventionen erleich- tern. Seidel (2002a) nennt an Beispielen die Häu- fung von Zwangsstörungen beim Prader-Wil- li-Syndrom, Aufmerksamkeitsstörungen beim Fragilen-X-Syndrom und Angststörungen beim Williams-Beuren-Syndrom. Die Früherken- nung dieser und anderer Symptome und deren Behandlung in einem frühen Stadium hat zum Ziel, die Chronifi zierung der psychiatrischen Störungen zu verhindern und damit unnötige zusätzliche Integrationshindernisse zu vermei- den (. Tab. 2.1).

Die Beschreibung eines Verhaltensphäno- typs allein unter Verwendung standardisierter, an einer (nicht behinderten) Normalpopulati- on entwickelter Instrumente ist oft unvollstän-

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(20)

2.3 Verhaltensphänotypen 13

2

Tab. .. Psychopathologische Auälligkeiten bei genetischen Syndromen. (Nach Moldavsky 2001). SyndromÄngstlichkeitDepressionHyper- aktivität AggressionAutistische Symptome

PsychoseWeitere Verhaltens- auff älligkeiten Downbei Erwachsenen++seltenselten Fragiles X++++++Sensorische Überempfi ndlichkeit Rett+Verlust der Handfunktion Prader-Willi+ (und Zwänge)

+++++Fehlendes Sättigungs- gefühl Angelman++Häufi ges Lächeln Williams+bei Erwachsenen+++Distanzlosigkeit Deletion q.++++++Gehäuft früh beginnende Schizophrenien Smith-Magenis++Selbstverletzungen Turner+++seltenseltenSoziale und Selbstwertprobleme

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