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Archiv "Wesen, Geschichte und Behandlung des menschlichen Schmerzes" (14.09.1978)

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Spektrum der Woche Aufsätze · Notizen

GESCHICHTE DER MEDIZIN

Wesen, Geschichte und Behandlung

des menschlichen Schmerzes

Wilhelm Blasius

"Der Schmerz gehört zu jenen Schlüs- seln, mit denen man nicht nur das Inner- ste, sondern zugleich die Weit erschließt."

Ernst Jünger: Über dim Schmerz

K

önnen wir über den Schmerz re- den, ohne über ihn zu philoso- phieren? Können wir vom Schmerz sprechen, ohne die Schmerzerleb- nisse zu würdigen? Lassen diese Er- lebnisse sich wahrhaft deuten, ohne daß der Arzt zu Rate gezogen wird?

Was sagen die Dichter und bilden- den Künstler über den menschli- chen Schmerz? Warum ist das Schmerzbewußtsein in heutiger Zeit viel ausgeprägter als in früheren Zei- ten? Solche Fragen und noch viele andere gehen uns durch den Kopf, wenn wir über den menschlichen Schmerz nachdenken. Ich möchte hier drei mir wesentlich erscheinen- de Gesichtspunkte aufgreifen und behandeln:

..,.. Ich will erstens versuchen, die er- kenntnistheoretischen Grundlagen

einer Wissenschaft vom Schmerz zu entwerfen, wobei ich das Wesen der Schmerzempfindung, des Schmerz- erlebnisses und des Schmerzbe- wußtseins beschreiben werde. Denn die Erläuterung und Charakterisie- rung der körperlichen, seelischen und geistigen Inhalte des Schmer- zes dürfte nicht nur einer genaueren Terminologie dieses wichtigen Ge- bietes menschlichen Fühlens und Denkens dienen, sondern auch für die Arbeit des Arztes bei der Be- handlung des Schmerzes von Be- deutung sein.

..,.. Zweitens beabsichtige ich, einen Abriß der Geistesgeschichte des menschlichen Schmerzes zu geben, weil eine historische Betrachtung der Schmerzen vieles deuten oder erklären kann, was dem Arzt in heu- tiger Zeit besonders auffällig oder schwer verständlich erscheint.

..,.. Und wenn ich zum dritten noch auf die Behandlung und Bekämp- fung des Schmerzes im Laufe der Geschichte eingehe, so kann ich dies nur in großen Zügen tun, da

Schmerz- Schmerz- Geist

hemmung bewußtsein

Metaphysischer Bereich des Schmerzes

Schmerz- Schmerz- Seele

ge~taltung erlebnis

Schmerz- Schmerz- Leib Physischer Bereich

abwehr- empfindung des Schmerzes

bewegung

I

Darstellung 1: Das Wesen des menschlichen Schmerzes im körperlichen, seelischen und geistigen Bereich

2094 Heft 37 vom 14. September 1978 DEUI'SCHES ARZTEBLATT

über diesen Bereich des Schmerzes ein umfangreiches Schrifttum vor- liegt.

Erkenntnistheoretische Grundlagen des

menschlichen Schmerzes

Um das Wesen des Schmerzes in seinen drei Bereichen näher zu fas-

sen, müssen wir zunächst davon ausgehen, daß der Schmerz mit dem Leben verbunden ist. Da alles ani- malische Leben zwei Pole darbietet

- ·einen aufnehmenden und einen

ausübenden - können wir auch am Schmerz diese beiden Pole wieder- finden. Mithin lassen sich ootspre- chend den drei Wesensseiten des Menschen, das heißt seinem Körper, seiner Seele und seinem Geist, auch drei Wesensseiten des Schmerzes auffinden (Darstellung 1 ).

Der körperliche Bereich des Schmer- zes umfaßt die Schmerzempfindung und die Schmerzabwehrbewegung: die polaren, rezeptorischen und ef- fektorischen Bereiche der Schmerz- reaktion. Dabei ist die Abwehrbewe- gung bei einem Oberflächenschmerz in der reflektorischen Leistung der Bewegungsorgane, bei einem Tie- fenschmerz vornehmlich in der re- flektorischen Bewegung innerer Or- gane zu finden.

Der seelische Bereich ist durch das Schmerzerlebnis und die Schmerz- gestaltung, auch Schmerzumgestal- tung, charakterisiert. Daß der seeli- sche Bereich eine Fülle von Erleb- nissen umfaßt, die von Unlustgefühl, über Angst und Schrecken bis hin zu Vernichtungsgefühl und Todesangst reichen, zu denen aber auch Erleb- nisse von Verlassenheit, Heimweh und Hungerschmerz, von Liebes- schmerz und vielen anderen Schmerzen gehören, das soll nur angedeutet werden. Keineswegs aber ist das Schmerzerlebnis mit dem Schmerzbewußtsein zu ver- wechseln. Der Gegenpol zum Schmerzerlebnis kann als Schmerz- gestaltung bezeichnet werden. Die- ser Bereich ist ebenso vielfältig wie der.des Schmerzerlebnisses, weil je- des lebhafte Schmerzgefühl unter-

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Spektrum der Woche Aufsätze Notizen

schiedliche Erinnerungen wachruft und zu einer Gestaltung und Umge- staltung des Schmerzes führt. Ein anfänglich seelischer Schmerz kann auf diese Weise sogar in eine freudi- nmung verwandelt werden.

Seelenschmerzen können unter an- derem durchaus zu sinnvollen Ge- staltungen, zu dichterischen und künstlerischen Leistungen oder zur Übernahme menschlicher Aufgaben ein wesentlicher Anlaß sein. Hier wä- re von der kulturellen Bedeutung des Schmerzes zu sprechen.

Wenn wir schließlich den geistigen Bereich des Schmerzes charakteri- sieren, müssen wir von der Tatsache ausgehen, daß der Geist nur dem Menschen zukommt und nicht dem Tier. Die beiden polaren Bereiche des Geistes sind zum einen das Er- kenntnisvermögen oder das Be- wußtsein, zum anderen der mensch- liche Wille. An Analogie zu diesen Anlagen des menschlichen Wesens wäre vom Schmerzbewußtsein als der rezeptorischen Seite des geisti- gen Bereiches zu sprechen. Im Schmerzbewußtsein werden Ort, Zeit, Dauer und Art des Schmerzes bewußt wahrgenommen und ein- deutig fixiert, soweit die Schmerz- empfindung die dazu erforderlichen Sinnesdaten geliefert hat. Zum an- deren ist der Wille, den Schmerz zu beseitigen, zu verringern oder zu unterdrücken,als effektorischer Be- reich der geistigen Seite des Schmerzes anzusehen, oder kurz als Schmerzhemmung zu bezeichnen.

Wir erkennen mithin, daß der seeli- sche Bereich des Schmerzes vor- nehmlich pathischer Natur ist, wäh- rend der geistige Bereich eine be- deutsame aktive Komponente umfaßt.

Der Schmerz im magischen Zeitalter der Menschheit und der Heilkunst

Zahllose Schädel- und Skelettfunde aus paläolithischer wie auch neoli- thischer Zeit weisen darauf hin, daß bereits die Urmenschen, die vor vie- len Millionen Jahren lebten, an Zahnkaries, Kieferfäule, Kopf-

Abbildung 1: Altgriechisches Votivrelief, Nationalmuseum, Athen

schmerzen, an chronischem Rheu- matismus und unzähligen anderen Krankheiten gelitten haben. An den Mumien der Ägypter hat man Verkal- kungen von Arterien und infektiöse Entstellungen gefunden. In den Tempeln und Heiligtümern vom Al- tertum bis in die neueste Zeit sind Votivgaben frommer Kranker aufbe- wahrt, die alle die vielfältigen Lei- den, deren Heilung sich hier vollzog, getreulich nachbilden (Abbildung 1).

Der antike Tempel des Asklepios in Epidauros ist ebenso wie die Wall- fahrtskirchen heutiger Zeit angefüllt mit marmornen, erzenen, silbernen und hölzernen Köpfen, Leibern, Gliedmaßen und Eingeweiden, und die Inschriften berichten, wie lange und wie stark der arme Sterbliche an einem Übel gelitten, bis der Gott oder der Heilige ihn davon erlöste.

So gibt es zahllose Zeugnisse aus allen Zeiten und Kulturen von Men- schen, die von Krankheiten und Schmerzen gepeinigt waren.

Sogar die Götter der alten Völker waren nicht frei von Krankheiten und Schmerzen: Ägyptische Mythen berichten, daß die Göttin Isis an ei- ner Brustentzündung litt, Horus, der Sohn des Osiris, an einer Darment- zündung und an einer Augenkrank- heit. Der griechische Gott Asklepios

Der menschliche Schmerz

litt sein Leben lang an einer Wunde;

Herakles mußte den Feuertod erlei- den. Vom Gotte lndra wird in der Rigveda berichtet, daß er einen ge- lähmten Arm hatte. So waren und sind Götter und Menschen der Krankheit und dem Schmerz ausge- liefert. Während aber das Tier nur die triebhafte Auflehnung gegen das Kranksein und den gequälten Auf- schrei kennt, suchen Götter und Menschen nach Mitteln, die die Lei- den und Schmerzen beseitigen oder lindern könnten. Auch bewegt sie die Frage nach dem Sinn der Leiden, die in allen Religionen gestellt und anders beantwortet wurde.

Der ursprüngliche Mensch, so dür- fen wir aus allen bekannten Zeug- nissen schließen, hat Krankheiten und Schmerzen als Einwirkungen der Außenwelt erfahren und daher auf Erscheinungen im Bereich der Natur bezogen, die er als Elementar- dämonen erlebte: Böse Elementar- dämonen drangen in den Menschen ein und bemächtigten sich seiner.

Diese Anschauung oder dieser Glau- be, der mit fester Gewißheit gepaart ist, war überall auf der Erde zu- nächst die einzige Deutung jeglicher Krankheit und jeglichen Schmerzes und bildet noch heute für zahllose Naturvölker die einzige Deutungs- möglichkeit. Diese Zeit der Mensch- heit und ebenso ihre Heilmethoden werden allgemein als die magischen bezeichnet.

In der auf diese Zeit folgenden Pe- riode, in der bestimmte Gottheiten erscheinen und das Leben der Men- schen durch ihr Vorbild, ihre Rat- schläge und Hilfe bestimmen, wird die Krankheit als eine Schickung der gerecht richtenden Götter angese- hen. Diese wird nunmehr als Strafe für die Übertretung eines Verbotes oder eines Tabugesetzes erlebt. Den Menschen, der ein dem Gotte zuge- ordnetes, daher heiliges Tier getö- tet, einen verbotenen Ort betreten, eine vorgeschriebene Opferhand- lung unterlassen hat, kann der Gott, dessen Zorn er auf sich gelenkt hat, mit Schmerzen und Leiden aller Art strafen und verfolgen. Und nur eine feierliche Sühnehandlung kann dem

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 37 vom 14. September 1978 2095

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Spektrum der Woche Aufsätze Notizen

Der menschliche Schmerz

Betroffenen Heilung und Gesund- heit wiederbringen. So sendet Zeus, ergrimmt über den Frevel des Pro- metheus, die Göttin Pandora unter die Menschen, daß sie aus ihrer Büchse alle Seuchen über die Erde ausstreue. Der strenge Gott Jeho- va peinigt seinen getreuen Sohn Hiob mit Krankheiten, um ihn zu prüfen.

Und bis hin in unsere Zeit wird in christlichen Sekten der Zorn Gottes als einzige Ursache für die Krankhei- ten aller Kreatur angesehen.

Die heilenden Mittel

Wo immer die Krankheit den Ele- mentardämonen oder den Göttern zugeschrieben wurde, galt derjenige ai., mit Heilkräften begabt, der mit den elementaren Gewalten in Ver- bindung stand, der die Dämonen zu erschauen, zu besänftigen, ihnen zu gebieten oder ihnen andere, gute Geister entgegenzustellen vermoch- te. In den Urzeiten der Menschheit ist diese Aufgabe vor allem den Frauen zugefallen. Als Magna Mater, als große Mutter der Urfamilie, ist sie gleichzeitig die erste Heilkundige;

ihre Künste stehen daher am Anfang jeglicher Heilkunde. Das Geheimnis und Wunder der Geburt verschafft der Frau bei allen naturnahen Völ- kern verehrungsvolle Scheu und magisches Ansehen. So gilt die „Ur- mutter" als im Besitze der großen Weisheiten der Natur, ihr wird die Gabe zugesprochen, die Elementar- dämonen abzuwehren, ihr kommt es zu, dem Kranken durch magische Heiltränke, durch Beschwörung und Bann die Gesundheit wiederzuge- ben. Noch in der Herkunft des Wor- tes „Medizin" verrät sich die weibli- che Abstammung des Begriffes;

denn die Wurzel dieses Wortes, aus der auch der Name der zauberkundi- gen Medea abzulei,,,n ist, bedeutete ursprünglich „die Weisheit der wei- sen Frau". Aber auch in späterer Zeit, als die Männerherrschaft das ursprüngliche Matriarchat verdräng- te, die „Mutter" ihre Rolle in der Urfamilie an den „Vater" abtrat, bleibt die Frau weiterhin vielfach die Heilerin.

Abbildung 2: Asklepios aus Antium (um 150 n. Chr.); Museo Capitolino, Rom

Der Zauberarzt

Neben die heilende Mutter — und sie vielfach ablösend — tritt bei den Na- turvölkern der Zauberarzt. Die „Me- dizinmänner" der nordamerikani- schen Indianer bilden unter sich ei- ne besondere „Kaste" mit eigenen geheimen Riten und Gebräuchen.

Wer in diese aufgenommen werden will, muß eine Reihe von Zeremo- nien durchmachen, die symbolisch das Sterben und Auferstehen dar- stellen; denn nach uraltem Glauben, der über die ganze Welt verbreitet ist, verleiht erst das Hindurchgehen durch den Tod und das gereinigte Wiedergeborenwerden wahre Er- kenntnisse und magische Kräfte.

Um den Geist der Krankheit aus dem Kranken wieder herauszutreiben, muß der Zauberarzt mit der Welt der Dämonen und Geister in Verbindung treten. Als Weg hierzu gilt die Eksta- se, das „Aus-sich-Heraustreten", der heilige Rausch. Sein magischer Instinkt und uralte überlieferte Er- fahrung lehren den Zauberarzt, daß dieser Rauschzustand am sicher- sten durch den Tanz hervorgerufen werden kann. Solche ekstatischen

Zaubertänze sind aus vielen Teilen der Welt, von den Südseeinsulanern, von den Indianern, von asiatischen und australischen Volksstämmen bezeugt. Gelangt der Zauberer durch seinen Tanz, dem sich auch andere Angehörige des Kranken an- schließen, und bei dem durch Trom- meln und Klappern ein berauschen- der Lärm gemacht wird, allmählich in den Zustand der heiligen Beses- senheit, dann schärft sich sein Ohr für die Stimmen des Dämons und sein inneres Auge für dessen Ge- stalt. Horchend steckt er den Kopf in die Trommel, aus welcher der Dä- mon zu ihm spricht. Er ruft und be- schwört ihn, daß er ihm Rede und Antwort stehe.

Je nach Charakter und Stimmung des Dämons wird dieser nun in Schmeichelworten ersucht, sein Op- fer in Frieden zu lassen, oder aber, wenn dies nicht fruchtet, be- schimpft, bedroht und verflucht.

Mitunter ist es erforderlich, den Leib des Kranken selbst durchzuprügeln, um auf diese Weise dem Dämon den Aufenthalt darin unbehaglich zu ma- chen. Dann beteiligt sich das ganze Dorf daran, auf den in Tierfelle Ge- hüllten einzudreschen und ihn so von seinem dämonischen Insassen zu befreien.

Diese Art der Bestrafung eines Dä- mons ist noch in der Aufgabe des Prügelknaben in vielen Ländern er- halten geblieben, der für die Not und Pein seiner Mitmenschen stellvertre- tend Schmerzen erleiden mußte. In heutiger Zeit, nachdem jegliche Prü- gelstrafe abgeschafft und verboten wurde, reagieren viele Menschen ih- re „Not" und „Pein" beim Betrach- ten von Prügelszenen im Fernsehen, im Kino oder auf der Bühne ab.

„Prügelknaben" sind die Schau- spieler geworden, die sich für die Herstellung solcher schmerzhaften Aktionen und Gewalttätigkeiten zur Verfügung stellen müssen.

• Wird fortgesetzt Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med. W. Blasius Aulweg 129

6300 Gießen

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