Abbildung 9: Die Vierzehn Nothelfer von Lucas Cranach d. Ä., 1507. Links folgt auf den heiligen Mauritius der heilige Pantaleon, Schutzpatron der Ärzte; er wurde wegen seiner Wunderheilungen beim Kaiser Maximinus angeklagt, dieser ließ ihm um 305 die Hände auf den Kopf nageln; Stadtkirche St. Marien, Torgau
Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen GESCHICHTE DER MEDIZIN
Wesen, Geschichte und Behandlung
des menschlichen Schmerzes
Wilhelm Blasius
Zweite Fortsetzung und Schluß
Die Schmerzbekämpfung im Wandel der Zeit
Mit großer Gewißheit dürfen wir an- nehmen, daß schon in den frühesten Zeiten eine Betäubung des Schmer- zes nicht nur durch magische Ein- wirkungen, sondern auch durch pflanzliche und tierische Heilmittel versucht worden ist. Zahlreiche schriftliche Zeugnisse bezeugen es, daß Heilkundige bereits im Altertum heilsame Tränke aus Kräutern, Wur- zeln und Samenfrüchten herzustel- len wußten. Diese Tränke, wie sie auch heute noch bei den Naturvöl- kern verwandt werden, haben bei der Schmerzbeseitigung eine wich- tige Rolle gespielt. In frühen Schrif- ten der Altägypter werden bereits genannt: Mohn, Alraune oder Ma- dragora, Schierling, Bilsen- und Hanfkraut. Wahrscheinlich waren solche Heiltränke zu einem nicht geringen Teil vergoren und durch ihre berauschende Wirkung zur Schmerzbekämpfung besonders ge- eignet. Vielleicht verstand man es auch, bestimmte Wirkstoffe, wie das Curare, das bewährte Pfeilgift der südamerikanischen Indianer, sol- chen Tränken beizumischen, um ei- ne Muskelerschlaffung bis zur völli- gen Lähmung herbeizuführen. Es waren dieselben Mittel, die auch heute dem Chirurgen bei der Narko- se zu Operationen im Brust- und Bauchraum wertvolle Dienste leisten.
Abbildung 8: Der heilige Sebastian von Antonello da Messina (1430 bis 1479);
das Bild entstand 1474/76 in Venedig unter dem Einfluß von Giovanni Bellini Doch diese Verfahren erscheinen
uns heute in vielen Fällen nur als ein Behelf, der im Laufe der letzten 150 Jahre, seit der Apotheker F. W. Ser- türner (1783 bis 1841) das Morphin aus der Mohnpflanze extrahierte, seit man eine wirksame Allgemein- narkose, eine Fülle von schmerzlin- dernden Medikamenten und seit den letzten Jahrzehnten eine beson- dere Schmerzchirurgie entwickelte, durch Wirksameres abgelöst wur-
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 39 vom 28. September 1978 2239
Mio. DM 10 000 9 000 -8 000 - 7 000
-6 000 5 000 4 000 3 000 2 000 -
1 000 -
150 140 130 120 110 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 160 DM
0 1956 1960 1964 1966 1968 1970 1972 1974 1976 Darstellung 2: Gesamtproduktion und -verbrauch an pharmazeutischen Erzeugnissen in der Bundesrepublik in Millionen DM (untere Kurve). Produk- tion und Verbrauch pro Kopf der Bevölkerung (obere Kurve)
Spektrum der Woche Aufsätze - Notizen
Der menschliche Schmerz
de. Doch obwohl die Hilfsmittel zur Schmerzbekämpfung heute un- gleich erfolgreicher eingesetzt wer- den, erhebt sich die bedeutsame Frage, ob in früheren Zeiten die Be- kämpfung des Schmerzes in der uns heute geläufigen Art überhaupt not- wendig gewesen wäre: Waren die Menschen früherer Zeiten vielleicht weniger schmerzempfindlich?
Der Schmerz
in der darstellenden Kunst
Auffällig ist doch, daß zum Beispiel griechische Dichtung und bildende Kunst nur sehr wenige Zeugnisse für den Ausdruck des Schmerzes ge- ben. Gehörte das Ertragen von Schmerzen zur Haltung und Heilung der Griechen? Homer berichtet zwar
über den Schmerzensschrei verletz- ter Krieger vor Troja und vom Stöh- nen der Verwundeten nach beende- ter Schlacht, doch auch in der helle- nistischen Kunst, die den Ausdruck menschlicher Gefühle nachzuemp- finden versuchte, erscheint der Schmerz verhalten und mehr ins In- nere verlegt.
Ich erinnere an die Darstellung des Schmerzes in der Laokoon-Gruppe, im Bilde der Niobe, die der Tötung ihrer Kinder zuschauen mußte, oder bei dem „Verwundeten Krieger"
vom Aphaia-Tempel auf Aigina (Ab- bildung 6).
Die darstellende Kunst des Mittelal- ters (Abbildung 7) gibt sichtbare Hinweise für die Art, wie die Men- schen dieser Zeit Schmerzen erleb-
ten und wie sie sich bei schmerzhaf- ten Verwundungen verhielten. Ein- drucksvoll ist auch hier der Gleich- mut, mit dem Heilige auf bildlichen Darstellungen die ihnen zugefügten Schmerzen ertragen. Offenbar sind es der Glaube und das Vertrauen in eine sinnvolle Ordnung der Welt, der diesen Gemarterten die ihnen ange- tanen Schmerzen ertragen hilft, wo- bei der Glaube sich auf eine allum- fassende göttliche Ordnung richtet, welche alle Pein und Not vergessen läßt (Abbildungen 8 und 9).
Ebenso erstaunlich ist es für uns Heutige, wie beinahe unbeteiligt die Kranken bei schmerzhaften Eingrif- fen noch im 17. und 18. Jahrhundert dargestellt wurden. Offenbar er- schienen den Zeitgenossen die zu- gefügten Schmerzen durchaus er- träglich, dem Urheber ebenso wie auch dem Zuschauer und Zeugen (Abbildungen 10 und 11).
Die Schmerzempfindlichkeit in unserer Zeit
Wenn wir der größeren Schmerz- empfindlichkeit der Menschen unse- rer Tage nachspüren wollen, so ist ein Blick auf die Statistik über den Verbrauch an Arzneimitteln pro Kopf der Bevölkerung recht aufschluß- reich (Darstellung 2). Man erkennt deutlich das enorme Anwachsen dieses Verbrauchs an Heilmitteln in den letzten 20 Jahren, unter denen die schmerzstillenden einen erhebli- chen Anteil ausmachen.
Welche Bedingungen haben diese Entwicklung beeinflußt? Sicherlich gehen verschiedene Einflüsse in den Gesamtprozeß mit ein. Im ganzen könnte man von einer Lockerung der Polarität von Körper und Seele sprechen, die durch den Einbruch des Geistigen, der Ratio zustande kommt. Daß dieser Einbruch gleich- zeitig mit Vermehrung der Schmer- zen einhergeht, ist als die Kehrseite der rationalen Tendenz anzusehen.
Die geistige, rationale Durchfor- mung der Menschheit ist daher als ein schmerzhafter Prozeß zu kenn- zeichnen.
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Abbildung 10: Darstellung einer Unterschenkelampu- tation, aus: D. Laurentius Heister, Chirurgie, Nürn- berg, 1752
Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen
Hier liegt auch die Problematik der Schmerzbehandlung durch rationa- le Maßnahmen oder schmerzstillen- de Mittel. Ihre Anwendung kann den Circulus vitiosus nicht durchbre- chen, weil eine Heilung in vielen Fäl- len gar nicht oder nur vorüberge- hend möglich ist. Diese etwas depri- mierende Perspektive mag dem Arzt manchen Mißerfolg erklären. Sie wird ihn aber nicht abhalten, stets von neuem Wege, Worte und Mittel zu suchen, um seinem von Schmer- zen gepeinigten Kranken helfend zur Seite zu stehen. Ob ihm dabei magische oder rationale Methoden als hilfreich erscheinen, hängt ganz von seiner Erfahrung, seinem Kön- nen und seinem Vertrauen in die körperlichen, seelischen und geisti- gen Anlagen seines Kranken ab. Von dem einen Kranken weiß er, daß der große seelische Schmerz diesen zur Ausprägung seiner Persönlichkeit führen wird, in einem anderen Falle wird er finden, daß ausgeschwiege- ne Schmerzen die schlimmsten sind, und daß eine Aussprache und ein gutes Wort von seiner Seite die be- sten Hilfen sind. Wenn allerdings die körperliche Seite des Schmerzes im Vordergrund steht, dann wird der Arzt auf rationale Mittel verwiesen.
Dann müssen alle wirksamen und erprobten Heilmittel seiner Erfah- rung und Kunst herangezogen wer- den.
Zusammenfassung
Um die körperlichen, seelischen und geistigen Bereiche des menschli-
chen Schmerzes zu charakterisie- ren, werden zunächst die erkennt- nistheoretischen Grundlagen zum Wesen des Schmerzes gegeben. Es werden dabei die Bereiche der Schmerzempfindung, des Schmerz- erlebnisses und des Schmerzbe- wußtseins als rezeptorische, diejeni- gen der Schmerzabwehrbewegung, Schmerzgestaltung und Schmerz- hemmung als effektorische Berei- che des Schmerzes gekennzeichnet und näher erläutert.
Es läßt sich finden, daß der seelische Bereich des Schmerzes vornehmlich pathischer Natur ist, während der geistige Bereich eine starke Willens- komponente umfaßt. Auf diesen theoretischen Grundlagen aufbau- end wird die Geschichte des menschlichen Schmerzes behan- delt. Es wird das Schmerzerlebnis im magischen Zeitalter der Mensch- heit beschrieben und eine Deutung der Schmerzheilung in der magi- schen Heilkunst versucht. Sodann wird die Ablösung der magischen Heilkunst durch empirisch-rationale Heilkunde erörtert, als deren erster Vertreter im europäischen Kultur- kreis der griechische Arzt Hippokra- tes gelten kann, an den die weitere Entwicklung der Heilkunde sich an- geschlossen hat.
Schließlich wird ein Abriß über die Methoden der Schmerzbehandlung gegeben und die Frage erörtert, welche Bedingungen zu der seit Jahrzehnten zu beobachtenden Schmerzüberempfindlichkeit eines
Abbildung 11: Der Zahnarzt behandelt eine Kranke, von Pietro Longhi, Venedig (1702 bis 1785); Academia, Venedig
großen Teiles der heutigen zivilisier- ten Menschheit geführt haben. Der mit der rationalen Durchformung der Menschheit einhergehende Pro- zeß kann als Einbruch des Geistes in die Polarität von Leib und Seele ge- deutet werden. Dieser Einbruch ist gleichzeitig als ein schmerzhafter Prozeß zu kennzeichnen.
Auch auf die Zunahme des Verbrau- ches an Arzneimitteln, unter denen die schmerzstillenden einen großen Anteil ausmachen, wird hingewie- sen.
Nach einem Vortrag bei dem Sym- posion der „Internationalen Anstalt zur Förderung der experimentelle.n und klinischen Pharmakologie"
Sektion Deutschland, mit dem The- ma „Der spastische Schmerz" am 8.
Mai 1976 in München
Literatur beim Verfasser
Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. med. Wilhelm Blasius Aulweg 129
6300 Gießen
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