Studie zum Gesundheitswesen in acht Industrieländern
Technologischer Wandel als
Hauptverursacher des Kostenschubs
Im Auftrag der Schweizerischen Rückversicherungs-Gesellschaft (Schweizer Rück) wurde eine wissenschaftliche Studie zur verglei- chenden Ausgabenentwicklung in Gesundheitssystemen von acht Staaten erstellt. Ein zentrales Ergebnis ist, daß kein Zusammenhang zwischen der Organisation des Gesundheitswesens bzw. der Finan- zierungsstruktur und der Wachstumsrate der Gesundheitsausgaben besteht. In die Untersuchung wurden Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, die Schweiz, Spanien, Kanada und die USA einbezogen.
DEUTSCHES
ÄRZTEBLATT THEMEN DER ZEI
silbige ,es' zuflüstert, und die Seele fühlt, daß dies so unaussprechlich groß und allumfassend ist, daß kein Wort, noch so groß und mächtig, es aussprechen und umfassen kann."
Am Ende dieses Briefes tituliert sich Wagner als „alter Meister des ,es'".
Wagner, der psychologischste al- ler Tonkünstler, gibt hier eine Schil- derung des „es", die in ihrer Bedeu- tungsweite auf Groddecks Es voraus- weist, indem sie sich gegen jede De- terminierung wendet. Nietzsche hat Wagner 1868 kennengelernt. In Triebschen war Nietzsche ab Mai 1869 häufiger Gast bei den Wagners.
Ich halte es für naheliegend, daß Wagner den befreundeten Philoso- phieprofessor mit seinem spekulati- ven Gedanken über das „es" vertraut gemacht hat. Deshalb möchte ich hier eine neue These aufstellen, nämlich die, daß Nietzsche über Wagner zum „es" gelangte. Bei bei- den bleibt das „es" noch ein vorwie- gend stimmungsbezogenes Moment der Anschauung.
Groddecks Leistung ist es, den Begriff aus der „Es"-Stimmung be- freit und zur Methode erhoben zu haben. Er verstand darunter sowohl die körperlichen wie seelischen Aspekte des Krankheitsvorgangs:
das Agens, das in die Krankheit führt und, nach Lösen des Widerstands, wieder aus ihr heraus. Das Es ist der Versuch, die Aufspaltung in Psychi- sches und Organisches sprachlich zu überwinden; und was kann prakti- zierte Psychosomatik mehr sein? Mit der entschiedenen Hinwendung zur Persönlichkeit des Kranken und des- sen individuellem Schicksal ging Groddeck einen für seine auch von pseudowissenschaftlichen Auswüch- sen geprägte Zeit ungewöhnlichen Weg. Daß er keine Statistiken zum Behandlungserfolg seiner Methode vorgelegt hat, die eine nachträgliche Qualitätssicherung erlaubten, darf uns nicht verwundern.
Literatur beim Verfasser
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Tobias Back Max-Planck-Institut für Neurologische Forschung Gleueler Straße 50 W-5000 Köln 41
Z
iel der Studie war es, einerseits die Bedeutung der privaten Krankenversicherung in unter- schiedlichen ordnungspolitischen Umfeldern darzustellen; anderer- seits sollten die Entwicklung der Ge- sundheitsausgaben in den acht Indu- strieländern sowie deren Ursachen analysiert werden. Dabei müsse be- rücksichtigt werden, so die Verfasser der Studie, „daß es keine objektiv richtige Höhe oder Wachstumsrate der Gesundheitsausgaben gibt". Al- lerdings stellten die Höhe und das Wachstum der Kosten im Gesund- heitswesen in allen Ländern ein Pro- blem dar.Trotz unterschiedlicher Finan- zierungsformen stieg der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoin- landsprodukt in den untersuchten OECD-Ländern von durchschnitt- lich 5,3 Prozent im Jahr 1970 auf 7,5 Prozent in 1990 (siehe Tabelle). Daß sich die Ausgabenentwicklung der Länder im letzten Jahrzehnt gegen- über dem Zeitraum von 1970 bis 1980 mit Ausnahme der USA und Kanada verlangsamt hat, führt die Schweizer Rück auf Kostenbegren- zungsmaßnahmen der jeweiligen Ge- sundheitspolitik zurück.
Bei dem Vergleich fällt auf, daß so unterschiedliche Systeme wie der staatliche Gesundheitsdienst Groß- britanniens mit 1,6 Prozent und das subventionierte Krankenversiche-
rungssystem der Schweiz mit 2,2 Pro- zent die geringsten Wachstumsraten innerhalb der letzten gut 20 Jahre aufweisen. Daraus zieht die private schweizerische Krankenversicherung den Schluß, daß ein Zusammenhang zwischen der Organisationsstruktur des Gesundheitswesens bzw. der Fi- nanzierungsform und der Ausgaben- entwicklung nicht erkennbar sei.
Starke Unterschiede sind in der volkswirtschaftlichen Bedeutung der privaten Krankenversicherungen in den acht Staaten erkennbar. Dies läßt sich mit der Versicherungs- durchdringung, dem Quotient aus Prämieneinnahmen der Privatversi- cherer und dem Bruttoinlandspro- dukt messen. Hier nehmen die USA, wo die Finanzierung des Gesund- heitswesens primär dem privaten Sektor überlassen wird, und Deutschland eine Spitzenstellung ein. In Italien, Spanien und Großbri- tannien, den Ländern mit einem staatlichen Gesundheitsdienst und dem zugleich geringsten Wohlstand innerhalb der Vergleichsgruppe, ist die Versicherungsdurchdringung der Privaten am geringsten.
Als Hauptfaktor für das reale Wachstum der Gesundheitsausga- ben ermittelte die Schweizer Rück eine vermehrte Inanspruchnahme medizinischer Leistungen (Mengen- wachstum). Relative Preisänderun- gen im Gesundheitswesen sowie das A1-1164 (20) Dt. Ärztebl. 90, Heft 16, 23. April 1993
1970 1980 1990
Frankreich 5,8 7,6 8,9
Italien 5,2 6,8 7,6
Schweiz 5, 1 7.3 7,4
BR Deutschland 5,9 8,4 8,1
Großbritannien 4,5 5,6 6,1
Spanien Kanada USA OECD
3,7 5.6 6,6
7,1 7,4 9,0
7,4 9,3 12,4
5,3*) 7,0 7,5
Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt in Prozent
rl ohne Türkei Quelle: OECD Health Data
Bevölkerungswachstum hingegen spielen eher eine untergeordnete Rolle.
Kein Zusammenhang zwischen Ärztezahl und Kostensteigerung Die vermehrte Inanspruchnah- me medizinischer Leistungen wird damit erklärt, daß die Versicherten aufgrund der reduzierten Kosten medizinischer Leistungen durch den Krankenversicherungsschutz ihr Verhalten ändern. Dieses Phänomen wird als sogenannter „moral hazard"
(„moralisches Risiko") bezeichnet.
Das heißt, zum einen treffen die Versicherten weniger Vorsorgemaß- nahmen ohne Versicherung; zum an- deren nehmen sie mehr bzw. kosten- intensivere Leistungen in Anspruch, wodurch ebenfalls die Kosten in die Höhe getrieben werden können.
Verantwortlich gemacht werden für das Mengenwachstum, so ist der Studie zu entnehmen, müsse in er- ster Linie der technologische Wan- del. Zwar hätten gewisse Innatio- nen, wie beispielsweise Impfungen und bestimmte Medikamente, auch in der Medizin die Kosten durch ei- nen Rückgang der Nachfrage nach medizinischen Leistungen vermin-
dert. Jedoch: „Viele technologische Neuerungen, wie zum Beispiel die Computertomographie oder Organ- transplantationen, haben die medizi- nischen Behandlungsmöglichkeiten erweitert und neue Nachfrage nach medizinischen Leistungen geschaf- fen." Zudem würden durch den tech- nologischen Wandel auch neue Krankheiten definiert, was wieder- um zu einer Ausweitung des Versi- cherungsumfanges und zu einer ver- mehrten Inanspruchnahme medizi- nischer Leistungen führe.
Kein Zusammenhang konnte hingegen zwischen der Anzahl der Ärzte und der Höhe der Gesund- heitsausgaben in den einzelnen Län- dern festgestellt werden. Ebensowe- nig scheinen demographische Verän- derungen eine Rolle zu spielen.
Hierbei wurde insbesondere unter- sucht, ob der gestiegene Anteil der über 65jährigen an der Gesamtbevöl- kerung einen Einfluß auf die Ausga- ben im Gesundheitswesen hat, da er-
fahrungsgemäß die Gesundheitsko- sten älterer Menschen höher sind als die der jüngeren. Nur vereinzelt konnte ein signifikanter Zusammen- hang festgestellt werden. „Das heißt aber nicht, daß sich dies in der Zu- kunft mit dem zu erwartenden An- stieg der älteren Bevölkerung nicht ändern könnte", wird einschränkend hinzugefügt.
Umstritten sei, so die Sozialwis- senschaftler, ob das Finanzierungs- bzw. Entschädigungssystem einen Einfluß auf die Entwicklung neuer Technologien hat. Sowohl Länder mit staatlichen Gesundheitsdiensten, wie Großbritannien, die prospektiv über den Staatshaushalt finanziert werden, als auch Versicherungssy- steme mit retrospektiver Finanzie- rung, bei denen dem Versicherten bzw. dem medizinischen Leistungs- erbringer die entstandenen Kosten erstattet werden (Beispiel Deutsch- land), wiesen nämlich ähnliche Wachstumsraten auf.
Möglichkeiten der Kostenkontrolle
Bei der Suche nach Möglichkei- ten der Kostenkontrolle bevorzugen die Verfasser der Studie vor allem alternative Versicherungsformen wie die in den Staaten existierenden Health Maintenance Organisations (HMOs). „HMOs garantieren den Versicherten vollumfängliche medi- zinische Versorgung, die jedoch auf bestimmte Anbieter beschränkt ist.
Im Gegensatz zu Kostenerstattungs- systemen werden die Leistungen vor- finanziert. Durch die prospektive Fi- nanzierung und die Beteiligung der Ärzte am finanziellen Erfolg einer HMO besteht ein Anreiz, die Lei- stungen auf ein medizinisch notwen- diges Minimum zu reduzieren und möglichst kostengünstig zu erbrin- gen." Der „moral hazard" könne auch durch die Gewährung von Pau- schalentschädigungen verschiedener Art anstelle von Kostenerstattung kontrolliert werden, schlägt die Schweizer Rück vor. Der Vorteil die- ser Art der Versicherungsleistung bestünde darin, daß der Versicherte mit den vollen Kosten der medizini- schen Versorgung konfrontiert wür- de und trotzdem gegen das finanziel- le Risko abgesichert sei.
Petra Spielberg
Quelle: Sigma-Studie, Gesundheitswesen in acht Län- dern: Ausgabenwachstum als Problem für Sozialversi- cherungssysteme und Privatversicherer. Schweizerische Rückversicherungs-Gesellschaft, Mythenquai 50/60, CH-8022 Zürich.
Dt. Ärztebl. 90, Heft 16, 23. April 1993 (21) Ar1165