DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
EDITORIAL
Medizinischer Holismus
it diesem Ausdruck soll M eine Bewegung oder
Richtungsänderung in der Medizin charakterisiert wer- den, die in den USA — von der West- zur Ostküste wan- dernd — schon Millionen von Amerikanern erfaßt hat, die
„ihre Gesundheit selbst in die Hand genommen haben"
(7), die zum Beispiel joggen oder Kräutertee trinken. Es bedarf keiner besonderen Phantasie, dieser irreversib- len Bewegung auch starken Einfluß auf unser Gesund- heitswesen in den nächsten Jahren zu prophezeien. Wie so oft, ist der Inhalt auch bei uns schon seit Jahrzehnten von Ärzten, Soziologen, Ge- sundheitspolitikern propa- giert und praktiziert worden (bei uns zum Beispiel in den zahlreichen Publikationen von Schipperges). Sie kommt nur als „neue Welle" in ver- stärktem Maß, wissenschaft- lich unterbaut und organi- siert zu uns zurück.
In Amerika gibt es inzwi- schen zahlreiche (holistisch ausgerichtete) „Gesundheits- zentren" und eine eigene Ge- sellschaft dieser Art (6); auch haben mindestens im Bun- desstaat Californien die Uni- versitäten beträchtliche zu- sätzliche Mittel für die Aus- bildung im Holismus erhalten (6). Schließlich hat sich einer der Präsidenten der amerika- nischen Ärztegesellschaft (AMA) offen zu holistischen Prinzipien bekannt (7).
Ursprünge und Bedeutung Holismus leitet sich vom grie- chischen holos = ganz oder ganzheitlich ab. Holismus ge- hört zu den wenigen Themen der Philosophie, die nicht
schon seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden in der Diskussion sind. Der Begriff wurde wohl erstmalig 1926 von dem südafrikanischen Philosophen und langjähri- gen Ministerpräsidenten Jan Smuts geprägt; das ist eine historische Feststellung, un- abhängig von der Einstellung zu der in Südafrika zur Zeit (noch) praktizierten Apart- heid-Politik (6, 8). Smuts war zu dem Ergebnis gekommen, daß man in größeren und komplizierteren Systemen (und welches würde darin den Menschen übertreffen?!) einzelne Teile nicht losgelöst vom Ganzen („Kompartimen- tierung" [6]) und den zahlrei- chen Interaktionen betrach- ten könne.
Dieser zunächst rein episte- mologischen These stehen zwei Methoden in der Phi- losophie und Soziologie ge- genüber, die namhafte Ver- treter gefunden haben: Der Reduktionismus (Brodie, Du- hem, Mach, Mill, Pearson und anderen) hält komplexe Vorgänge nur durch Reduk- tion auf einfachere Modelle für lösbar. Der (methodische)
Individualismus (von Hayek, Popper, Watkins, Max Weber und anderen) besteht auf der primär individuellen Formu- lierung und Erklärung der Probleme. Beide können im Rahmen dieses Editorials nicht eingehender diskutiert werden (Literatur unter ande-
rem bei (5)). Paradoxerweise gehört es — gerade gegen- über dem Begriffschöpfer Smuts — zu den wesentlichen Erkenntnissen der modernen
Medizin und Soziologie, daß Armut, schlechte Lebensbe- dingungen, innere und äuße- re Konflikte krankheitsanfälli- ger machen (7).
Holismus in der Medizin weit verbreitet
In keinem Gebiet hat der Ho- lismus sich so ausgebreitet wie in der Medizin. Vom Arzt verlangt er, daß er neben dem kranken Organ den kranken Menschen als Gan- zes („comprehensive ap- proach" (6)) sieht, in einer Art humanistischer Wechsel- beziehung, in der Berück- sichtigung seiner psycho- physischen Interaktionen, seines Lebensstiles, seines sozialen Milieus, seiner Um- gebung (Environtologie, Öko- logie), seiner ökonomischen Bedingungen. „Zu viele Ärzte verwechseln den Patienten mit seiner Krankheit", sagte schon W. Osler. Auch benöti- gen in holistischer Sicht Kranke mit identischen Dia- gnosen ganz verschiedene Heil- und Hilfsmaßnahmen.
Gegenüber Gesunden und Kranken liegt der Schwer- punkt des Holismus vor allem in der Prävention. Die Erhal- tung oder die Wiederherstel- lung der Gesundheit verlan- gen die völlige Harmonisie- rung von Körper, Seele, Geist und Umwelt. Unter diesen Aspekten erscheint die be- kannte und viel kritisierte Ge- sundheitsdefinition der WHO („körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden") in einem anderen Licht. Sie
1868 (72) Heft 25/26 vom 20. Juni 1986 83. Jahrgang Ausgabe A
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
EDITORIAL
mag unvollständig, ungenau, utopisch sein — aber sie ist nicht absurd.
Vernünftige Protagonisten der holistischen Medizin be- tonen, daß die fortgeschritte- ne Technologie der moder- nen Medizin keineswegs im Widerspruch zu ihren Absich- ten stehe. Sie träumen viel- mehr von einer künftigen Synthese zwischen hochtech- nisierter Medizin und natur- gemäßer Gesundheitsfüh- rung. So kann zum Beispiel auch ein Chirurg, der etwa einen Bypass herstellt, durchaus eine holistische Grundeinstellung besitzen.
Für einen großen Teil der Kranken wird allerdings mehr Selbsthilfe gefordert, mit an- deren Worten: Gesundheits- und Gesundungswille. Dazu gehört zum Beispiel eine ver- änderte Lebensführung statt der verbreiteten und häufig ständigen Anwendung von Psychopharmaka. Dies alles gilt besonders für die chroni- schen Leiden in ihren Früh- phasen. In holistischer Sicht werden die Ärzte mehr zu
„Lehrern", weniger zu „Hei- lern" (6). Dabei wird nicht verkannt, daß damit die Ver- antwortung — vielleicht zu sehr — vom Arzt weg auf den Kranken verlagert wird.
Kritiker halten die holistische Medizin für trivial, für obskur, für „alte Weisheiten in neu- em Gewand". Mit zu den schärfsten Kritikern gehört Susan Sontag mit ihrem be- kannten Buch „Krankheit als Metapher" (9). Demgegenü- ber betonen die Anhänger des Holismus, daß seine Macht in den Perspektiven liege. Aber auch sie geben zu, daß seine Institutionalisie- rung bisher noch nicht so
recht gelungen ist (3). Auch sollte die holistische Bewe- gung sich mehr als bisher
„mit ihren eigenen blinden Flecken" (6) beschäftigen.
Verständlicherweise haben viele Innen- und Außenseiter der Medizin den Holismus aufgegriffen und in ihre schon immer praktizierten Methoden eingebracht. Sie reichen von Psychoanalysen Freudscher oder Jungscher Provenienz über strittige Me- thoden wie Akupunktur, Heil- fasten, Chiropraxis, Homöo- pathie bis zu (in meiner Kenntnis) widerlegten Metho- den wie Irisdiagnostik.
Der Fortschritt der holisti- schen Medizin in den USA wird nach dem Urteil von Kennern behindert durch:
1. „Trittbrettfahrer", die un- erwiesene oder dubiöse Heilmethoden einbringen;
2. die unzureichende Hono- rierung zeitraubender per- sönlicher Zuwendung;
3. politische oder standespo- litische Einflüsse.
Konsequenzen
Medizinischer Holismus ist eine aus vielen Quellen ge- speiste Bewegung, die auch bei uns in den nächsten Jah- ren an Einfluß gewinnen dürfte. Richtig kanalisiert, richtig dosiert, läßt er aber eine ganze Reihe von Vortei- len erwarten:
J
Er könnte zu einer Syn- these oder mindestens zum besseren wechselseitigen Verständnis zwischen hoch- technisierter Medizin und Na- turheilkunde führen.C) Besonders der Allgemein- medizin sollte im Holismus eine Schlüsselrolle zufallen.
Kennt doch kein Spezialist den psychosozialen Hinter- grund des Patienten besser als der Hausarzt.
(D Die holistische Medizin dürfte viele Patienten dahin zurückführen, wo sie hinge- hören: In die Praxen — statt, wie bisher, in die bean- spruchten kostspieligen Kli- nikbetten.
® Holismus könnte zu einer besseren Kooperation zwi- schen den Kranken und ihren Ärzten führen (3).
© Holismus verspricht we- sentliche Fortschritte auf dem Gebiet der Prävention durch eine vernünftige und gesundheitsbewußte Lebens- führung.
Literatur
(Auswahl, mit reichlich weiterführender Literatur)
(1) Berkeley Holistic Health Center:
The Holistic Health Handbook, Berkeley/
CA, AND/CO Press (1978) — (2) Blotky, A. D.; Tittler, B.: Psychosocial predic- tors of Physical Illness. Prevent Med. 11 (1982) 602 — (3) Carlson, R. J.: Holism and Reductionism as perspectives in Medicine and Health care. West J. Med.
131 (1979) 466 — (4) Engel, G. L.: The need for a new medica model. A Chal- lenge to Biomedicine. Science 196 (1977) 129 — (5) Edwards, P. (Ed.): The Encyclopedia of Philosophy. New York, Mac Millan Publishing Co. (1967) — (6) Gordon, J. S.: Holistic Medicine:
Advances and shortcomings. West J.
Med. 136 (1982) 546 — (7) Guttmacher, S.: Whole in Body, Mind and Spirit: Ho- listic Health and Limits of Medicine.
Hastings Cent. rep. 9 (1979) 16 — (8) Hastings, A.; Fadiman, ,J.; Gordon, J. S. (Ed.): Health for the whole person.
Boulder/Co, Westview Press (1980) — (9) Sontag, Susan: Krankheit als Meta- pher. deutsch: München, Hanser (1978)
Professor Dr. med.
Rudolf Gross
Herbert-Lewin-Straße 5 5000 Köln 41
Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 25/26 vom 20. Juni 1986 (73) 1869