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Archiv "Suche nach einem zeitgemäßen Verständnis ganzheitlicher Medizin" (27.11.1985)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

THEMEN DER ZEIT

Sowohl in Festreden anläßlich der Eröffnung von Chirurgen- oder Internistentagen als auch auf alternativen Gesundheits- tagen findet in den letzten Jahren der Begriff „ganzheitlich"

immer häufiger Verwendung. Dabei mangelt es gegenwärtig noch an einem gemeinsamen Verständnis und einer Klarheit dieses Begriffs. In ähnlicher Weise, wenn auch mit gewissen Verlagerungen des Schwerpunkts, werden derzeit ebenso Be- griffe wie psychosomatisch, psychophysisch, biokybernetisch, systemisch oder ökologisch verwendet. Der nachfolgend veröf- fentlichte Beitrag versucht einige Klärungen zum Begriff

„ganzheitlich" beizutragen, ohne daß die Autoren sich anma- ßen wollen, ihn vorschnell und abschließend zu definieren.

E

s geht um die Wechselwirkun- gen zwischen den verschiede- nen Ebenen, auf denen der menschliche Organismus zur glei- chen Zeit existiert. Jeder Mensch hat zugleich eine körperliche, psy- chische, geistige, soziokulturelle und spirituelle Existenz, ohne daß eine dieser Ebenen als wesent- licher oder wichtiger anzusehen ist. Sie können zum theo- retisch-analytischen Verständnis einzelner Phänomene und Teile getrennt betrachtet werden, aber in der lebenden Realität des Men- schen sind sie unmittelbar mitein- ander verknüpft und beeinflussen sich ständig gegenseitig. Zum Ver- ständnis der einzelnen Ebenen ist die Bezugnahme auf den Gesamt- kontext, in dem sie existieren, not- wendig. In einem lebenden System ist das Ganze mehr als die Summe seiner Teile.

Eine ganzheitliche Betrachtungs- und Denkweise steht im Gegen- satz zu einem abgeschlossenen, mechanistischen Verständnis des menschlichen Organismus als ei- ner Körpermaschine, wie dies in der philosophischen Tradition von Descartes oder Newton formuliert wurde. Als Basis einer modernen Medizin sind die strukturell-anato- mischen und funktionell-physio- chemischen Analysen der Details und Regelprozesse von überra- gender Bedeutung, aber ihre theoretisch-objektiven Ergebnis- se können immer nur annähernde Aussagen über den individuellen, konkreten Menschen machen. — Jeder Mensch stellt einen ein-

schätzenden Organismus dar,

Suche

nach einem zeitgemäßen Verständnis ganzheitlicher Medizin

Helmut Milz

(in Zusammenarbeit mit Alfred Gassmann)

dessen besondere biographische Prägungen auch besondere, ein- zigartige neuronale Verknüpfun- gen und emotionale Reaktionsla- gen bedingen, die ihrerseits zu besonderen physiochemischen Wechselwirkungen und struktu- rellen Prozessen führen. Sowohl phylogenetisch als auch ontoge- netisch gilt, daß die Funktionen die Strukturen prägen.

I

Spezifaiskctihveen Einb

einer eziehung ehung des Patienten

Die besonderen Erfahrungen der Vergangenheit und die daraus re- sultierenden Antizipationen und

Erwartungen an die Zukunft sind für das Verständnis der Erkran- kung und der Krankheit eines Menschen wesentlich. Sie haben auch eine entscheidende Bedeu- tung für den Weg der Behand- lung, des Heilungsprozesses und der Gesundheitsförderung des Patienten.

Für eine ganzheitlich orientierte Medizin ist es deshalb notwendig, spezifische Wege der aktiven, selbstverantwortlichen Einbezie- hung der Patienten in ihren Hei- lungsprozeß zu fördern. Sie er- kennt grundsätzlich an, daß jeder menschliche Organismus Selbst- regulations- und Selbstheilungs- kräfte besitzt, die es pfleglich zu behandeln und gezielt in die Be- handlung einzubeziehen gilt.

Die spezifische Situation des Er- krankten oder die Art seiner Krankheit kann es mit sich brin- gen, daß am Beginn der Behand- lung eine ausschließliche Inter- vention von außen steht (z. B. in medizinischen Notfällen oder bei operativen Eingriffen).

Danach ist es aber für den Hei- lungsprozeß wesentlich, sich von der ausschließlichen Behandlung hin zu einem Konzept aktiven und mitverantwortlichen Handelns der Patienten zu bewegen. Es geht dabei nicht darum, den Erkrank- ten die Schuld für ihre Erkran- kung zuzuschreiben („blaming the victim"), sondern gemeinsam nach Wegen zu suchen, die ihnen vermitteln können, daß sie ent- scheidenden Einfluß auf ihren ei- genen Heilungsprozeß haben.

Ganzheitliche Medizin kann einfa- cher als eine Haltung und Art der

Wahrnehmung bezeichnet wer- den, die sich darum bemüht, den ganzen Menschen im Kontext sei- ner gesamten Umwelt zu betrach- ten. Die entscheidende Frage ei- ner solchen Betrachtungsweise lautet: „Warum hat dieser Mensch diese Erkrankung zu diesem Zeit- punkt?" (Le Shan). — Das Interes- se gilt in erster Linie dem beson- deren Menschen, danach seiner Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 48 vom 27. November 1985 (21) 3587

(2)

DEUTSCHES ltß.ZTEBLATT

Ganzheitliche Medizin

besonderen Erkrankung (illness).

Mit Hilfe des differenzierten medi- zinischen Wissens wird dann ver- sucht, diese Erkrankung zu ver- stehen und zu klassifizieren als

Krankheit (disease). Bei dieser Fragestellung ist der Zeitpunkt der Erkrankung wesentlich so- wohl unter dem Gesichtspunkt der Entwicklungsgeschichte einer Krankheit, als auch unter der Fra- ge nach ihrer möglichen Bedeu- tung, Botschaft oder ihrem Sinn im Lebenszusammenhang dieses besonderen Menschen. Alle diese Ebenen sind wesentlich, wenn das therapeutische Konzept einer ganzheitlichen Medizin sich als Hilfe und Unterstützung der Selbsthilfe des betroffenen Pa- tienten versteht, die sich an einer

neuen Gesundheit und nicht nur an einer Rückkehr zur medizini- schen Norm orientiert. Eine sol- che Sichtweise betrachtet Erkran- kung als Lernprozeß und Therapie als eine Form der angeleiteten Hilfe zur Selbsthilfe.

II

Vergleich mit

dem System der modernen westlichen Medizin

Über all diese allgemeinen For- mulierungen hinaus muß sich der Anspruch einer ganzheitlichen Betrachtungsweise an den mög- lichen Vorteilen bzw. Erweiterun- gen und Ergänzungen zur augen- blicklichen natu rwissenschaft- lichen Medizin ausweisen. Das Sy- stem der modernen westlichen Medizin besitzt ein hervorragen- des, detailorientiertes, diagnosti- sches Instrumentarium und ver- fügt über äußerst wirkungsvolle therapeutische Möglichkeiten.

Von verschiedenen Gesichts- punkten her ist berechtigte Kritik an ihren Möglichkeiten und Schwächen geäußert worden, der sie sich stellen muß.

Trotz gestiegener Möglichkeiten und wachsenden ökonomischen Investitionen ist allein durch den verstärkten Einsatz der modernen Medizin keine Verbesserung der durchschnittlichen Gesundheit

der Bevölkerung erreicht worden.

Die therapeutischen Konzepte der modernen Medizin sind oft mit einem erheblichen Risiko sekun- därer Schädigungen und Neben- wirkungen belastet. Die emotions- losen Kritiken von I. lllich und R.

Carlson verweisen darauf, daß bei einer unbesonnenen Anwendung dieser modernen Möglichkeiten die Zunahme "iatrogener", also durch ärztliches Handeln beding- ter, Schädigung die Folge sein kann.

Die meisten Therapien der moder- nen Medizin sind Behandlungen

von außen und sind selten dazu angelegt, den betroffenen Patien- ten konkrete Hilfen zur Selbsthilfe zu vermitteln. Ihre Interventionen sind meist auf die lokale Schädi- gung ausgerichtet und nehmen nur selten Bezug auf die Gesamt- situation der Betroffenen. Zuneh- mende Spezialisierung und Sub-

spezialisierung hat während der

letzten Jahre die Tendenz zur or- ganspezifischen Orientierung in- nerhalb der Medizin weiter geför- dert. Dadurch ist sowohl in der medizinischen Ausbildung als auch in der ärztlichen Praxis das Verständnis der Zusammenhänge immer mehr in den Hintergrund getreten.

Diesen Entwicklungen steht eine Verlagerung des allgemeinen Krankheitsspektrums gegenüber, das eine Zunahme multifaktoriell

bedingter systemischer Erkran-

kungen (Herz-Kreislauf-Gefäßsy- stem, Immunsystem mit Tumoren und Allergien, Nervensystem, Muskel- und Gelenksystem) zeigt.

Neben der allgemeinen Erhöhung des durchschnittlichen Alters der Patienten zeigt sich eine Tendenz der Zunahme chronischer Erkran- kungen in jüngeren Altersgrup- pen.

Fürall diese Gruppen erweist sich eine organbezogene Medizin meist als unzulänglich. Bei ihrem oft fehlenden Verständnis der Zu- sammenhänge leistet sie der Ent- wicklung chronischer Erkrankun- gen insofern Vorschub, als sie für

funktionelle Leiden, ohne fest- stellbare organisch strukturelle Veränderungen, keine adäquaten Interventions- und Lernprozesse

anleiten kann.

Die in der naturwissenschaft- lichen Medizin vorherrschende, bewußte und systematische, Tren- nung von physischen und psychi- schen Dimensionen, die eine In- teraktion und Wechselwirkung dieser beiden verschiedenen Aspekte des gleichen lebenden Prozesses ablehnt, verhindert notwendige Lernprozesse inner- halb der modernen Medizin.

II

Verschiedenste Heilverfahren und wissenschaftliche Disziplinen: Dialog tut not

~ Wenn ganzheitliche Medizin mehr werden soll als eine verkürz- te Besinnung auf traditionelle Heilverfahren, dann muß sie sich um eine Synthese zwischen den Vorzügen traditioneller und unge- wöhnlicher Heilverfahren und der technischen Exzellenz der moder- nen Medizin bemühen. Die Suche nach zeitgemäßen Wegen muß den Dialog zwischen den Erfah- rungen verschiedenster Heilver- fahren und wissenschaftlicher Disziplinen beinhalten.

Wesentliche aktuelle Beiträge zu einer solchen Neuorientierung kommen aus den Bereichen der Neurophysiologie und Neurobio- logie, aus den Ergebnissen psy- chephysiologischer Forschungen, aus bewegungstherapeutischen Modellen, den Fortschritten der Ernährungsforschung, der Nah- rungs- und Schadstoffuntersu- chungen sowie den verschiede- nen Schulen der Psycho- und Kommunikationstherapien.

Ziel einer ganzheitlich orientier- ten Medizin kann nicht die Eta- blierung einer neuen medizini- schen Subspezialität sein. Gleich- zeitig muß klar sein, daß keine

einzelne Methode oder Technik per se ganzheitlich sein und alle wesentlichen Bereiche, die zur

(3)

Ganzheitliche Medizin

Suche nach einem zeitgemäßen Verständnis

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Ganzheitliche Medizin

Gesundheitsförderung notwendig sind, umfassen kann. Nur im be- wußten, offenen und kritischen Austausch zwischen verschiede- nen, begrenzten Modellen kann sich eine ganzheitliche Konzep- tion entwickeln.

Lebende Organismen können nur im Austausch mit dem existieren, was sie nicht sind. Der einzelne Mensch ist Teil größerer ökologi- scher Zusammenhänge. Krank- heiten entstehen innerhalb der

Wechselbeziehungen von äuße- ren Noxen und Erregern, der spe- zifischen Konstitution des menschlichen Wirts und seiner spezifischen Umwelt. Biochemi- sche Veränderungen sind zwar

notwendige, aber nicht hinrei- chende Faktoren für das Auftreten einer Krankheit (disease) und der menschlichen Erfahrung einer Er- krankung (illness). Nur im Wech- selspiel der verschiedenen biolo- gischen, psychosozialen und öko- logischen Faktoren sind Krankheit und Gesundheit erfahr- und er- klärbar. Beides sind relative Zu- stände des Lebensprozesses, der beständigen Veränderungen un- terworfen ist.

I f

Vüerrdsti äe rnkti ce hAtmu femd ei zriknsi sacmhkeeni t Determinanten

Die meisten Erkrankungen der modernen Industriegesellschaf- ten lassen sich nicht auf spezifi- sche Erreger zurückführen. Sie beruhen auf einer multifaktoriel- len Genese mit einer variablen Verteilung psychologischer und nichtpsychologischer Faktoren.

Die entscheidenden Gefahren für die Gesundheit der Bevölkerung liegen außerhalb des unmittelba- ren Einflußbereiches der moder- nen Medizin. Eine ganzheitliche Neuorientierung muß sich dem- entsprechend um eine verstärkte Aufmerksamkeit für die nichtme- dizinischen Determinanten des Heilungsprozesses und der Ge- sundheitsförderung bemühen. Ei- ne falsche Gleichsetzung von Ge- sundheit mit medizinischer Ver-

sorgung schafft unrealistische Er- wartungen an die Möglichkeiten der medizinischen Berufsgrup- pen. Gesundheit ist mehr als die bloße Abwesenheit von Krankheit.

Sie kann als die Suche nach und die Möglichkeit von Lebendigkeit, autonomer Anpassungsfähigkeit und kreativer Veränderung der Wechselfälle des persönlichen Lebens und der Umwelt verstan- den werden.

Eine ganzheitliche Haltung und Wahrnehmung in der Medizin ver- lagert den Schwerpunkt ihrer Auf- merksamkeit wieder auf Interes- se, Verständnis und Hilfe für den ganzen Menschen und nicht mehr, wie augenblicklich vorherr- schend, ausschließlich auf seine Krankheit.

Es gehört zu den phylogeneti- schen Besonderheiten des Men- schen, daß der „nur introspektiv erlebbare Zustand Bewußtsein, mit all seinen Schattierungen, das Wesentliche seiner Existenz aus- macht" (R. F. Schmidt). Dieses Bewußtsein befähigt uns zur Auf- merksamkeit und zur Fähigkeit, die Richtung der Aufmerksamkeit gezielt zu wechseln, die Bedeu- tung einer Handlung im voraus abzuschätzen, sowie zur Selbster- fahrung und Selbsterkenntnis.

Viele Ärzte und Therapeuten ha- ben, z. T. über die Beschäftigung mit traditionellen und transkultu- rellen Heilverfahren, z. T. durch die eigene Erfahrung, ein neues Interesse für die psychophysi- schen Wechselwirkungen, die Be- deutung körperorientierter Be- wußtheit und selbstbeobachten- den Bewußtseins entdeckt. Dar- aus entwickelten sich verstärkte Forschungen über die Anwen- dung solcher Dimensionen im Be- reich nichtmedikamentöser Be- handlungsverfahren.

Die Beschäftigung mit der Bedeu- tung und dem möglichen Poten- tial des menschlichen Bewußt- seins erhielt wesentliche Impulse aus den Forschungen der moder- nen Neurophysiologie und Neuro- biologie. Anknüpfend an die For- schungen des Nobelpreisträgers Sperry und seiner Beobachtun- gen der Hemisphärenspezialisie- rung des Gehirns beginnen sich Hypothesen und Erkenntnisse darüber zu entwickeln, daß die in- nere, besondere Erfahrung eines Menschen eine kausale, inte- grierende Bedeutung für die Funktionen des Gehirns hat. Für das Verständnis der Gehirnfunk- tionen scheint die Dimension der ersten Person „mein Bewußtsein"

ebenso wesentlich zu sein wie die der beobachtenden, dritten Per- son, „sein Gehirn".

Das, was bisher über die kortiko- subkortikalen Wechselwirkungen, über die Verknüpfungen von ko- gnitiven, emotionalen, physiologi- schen und hormonellen Interak- tionen bekannt ist, widerspricht deutlich den augenblicklichen Trennungen von Körper und Psy- che im Selbstverständnis der mo- dernen Medizin. Neue Konzepte einer veränderten „neuronalen Plastizität" werden sichtbar. Die Entdeckung körpereigener Re- zeptoren und Neurotransmitter für Schmerzen, die sogenannten Endorphine, hat noch einmal ver- deutlicht, daß der Organismus Mechanismen der Selbsterhal- tung und Selbstregulation besitzt;

es stellt sich die Frage, was die Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 48 vom 27. November 1985 (23) 3589

(4)

Helmut MHz

MEL' jriak,e7

Neue Wege zur Gesundheit Mit einem Vorwort von

Fritjof Capra Athenäum

Helmut Milz: Ganzheitliche Medizin, Neue Wege zur Ge- sundheit, Vorwort von Fritjof Capra, Athenäum Verlag, Kö- nigstein, 1985, 348 Seiten, broschiert, 29,80 DM

Der Physiker Fritjof Capra ist in den letzten Jahren durch zwei bemerkenswerte Bücher über „Westliche Naturwissen- schaft und östliche Weisheit"

hervorgetreten. An diesen Bü- chern orientiert sich auch das von vielen Autoren gezeichne- te und zum Teil in Dialogform (aus dem Englischen über- setzt) gestalteten Buch von H.

Milz über „Ganzheitliche Me- dizin". Wer an solchen Heilver- fahren interessiert ist, vor al- lem die Bücher von Capra kennt (die hier nicht zur Vor- aussetzung gemacht wer- den!), dem ist diese Monogra- phie zur Lektüre zu emp- fehlen. Rudolf Gross, Köln

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Ganzheitliche Medizin

körpereigene Regulierung dieser Prozesse und Substanzen unter-

drückt bzw. wie ihre Produktion stimuliert werden könnte, um bei- spielsweise in den vielen Fällen chronischer Schmerzzustände neue Wege der Behandlung zu finden. Solche neuen Wege ha- ben meistens als charakteristi- sche Qualität die aktive Einbezie- hung der bewußt handelnden Pa- tienten zur Voraussetzung, und sie sind nicht mehr durch die allei- nige äußere Intervention der me- dizinischen Experten zu errei- chen.

Ein wesentliches Merkmal ganz- heitlich orientierter Heilverfahren besteht darin, daß sie ein verän- dertes Verständnis der notwendi- gen Zeit des Heilungsprozesses bedingen. Ganzheitlich orientier- te Behandlungsverfahren vermit- teln selten rasche und unmittelba- re Lösungen. Ganzheit entwickelt sich allmählich. Sie ermöglicht gesteigertes Wohlbefinden, eine Verminderung der chronischen Symptome, bessere Koordination, elastischere Reaktionsbereit- schaft, verbesserte Entschei-

dungsfähigkeit und kohärenteres Denken und Handeln.

Die hohe Anerkennung und Ak- zeptanz medikamentöser von au- ßen intervenierender Verfahren liegt sicherlich mit darin begrün- det, daß diese rasch, passiv und ohne notwendige Veränderungen des Verhaltens der Patienten wirksam sind. Dieser Vorteil wird in vielen Fällen durch wesentliche Nachteile erreicht. Die Auseinan- dersetzung mit der Bedeutung, der Funktion und dem Sinn einer Erkrankung wird dem Betroffenen oft nicht ermöglicht. Damit verliert seine Erkrankung die wesentliche Qualität eines Lernprozesses, der ihn in die Lage versetzen kann, aktiv einer Wiederholung oder Verlagerung dieser Krankheit ent- gegenzuwirken, indem er notwen- dige Veränderungen seines Ver- haltens selbstverantwortlich und im Kontext seiner besonderen Le- benssituation vornimmt.

Bei einer ganzheitlichen Orientie- rung wird dem Lern- und Erfah- rungsprozeß verstärkte Aufmerk- samkeit gewidmet. Therapie wird

in gewisser Hinsicht dann zu einer allgemeinen Metapher des Ler- nens. Dies hat auch eine verän- derte Einschätzung des Alters zur Folge, das unter diesem Blickwin- kel nicht länger als zwangsläufi- ger Verfall und körperliche Dege- neration verstanden wird.

Menschliches Leben kann bei ei- ner respektvollen Betrachtung als ein möglicher kontinuierlicher Lernprozeß und Altern kann posi-

tiv als Wachstumsprozeß verstan- den werden.

I

für Wesentliche moderne

Impulse Medizin der Zukunft

Die Exzellenz und Eleganz moder- ner medizinischer Verfahren, die in kurzer Zeit spektakuläre Ergeb- nisse zeitigt, leistet aus ihrer eige- nen Logik heraus der Entwicklung der zunehmenden chronischen Krankheiten wesentlichen Vor- schub. Dabei ist an dieser Stelle zu betonen, daß dies nicht dem einzelnen Praktiker anzulasten ist, denn die augenblickliche Or- ganisation der medizinischen Ver- sorgung und die Vergütung medi- zinischer Leistungen entlohnen zeitaufwendigere, auf die Vermitt- lung von Lernprozessen und Ver- haltensänderungen abzielende, Behandlungskonzepte kaum. Dies verhindert, daß solche sinnvollen Konzepte, für die sicherlich bei sehr vielen Praktikern großes In- teresse aus ihrer eigenen klini- schen Erfahrung heraus besteht, breiten Eingang in die allgemeine medizinische Versorgung finden.

Welche enormen gesundheitspo- litischen und volkswirtschaft- lichen Konsequenzen dies mit sich bringt, kann an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden.

aber es ist wesentlich, daß diese Diskussion auch in die Auseinan- dersetzungen über die mögliche Kostendämpfung im Gesundheits- wesen Eingang findet.

Innerhalb des Rahmens dieses orientierenden Beitrags war es nicht möglich, differenziert auf

(5)

DEUTSCHES ARZTEBLATT

KURZBERICHTE Ganzheitliche Medizin

einzelne neuere ganzheitliche Be- handlungskonzepte einzugehen.

In meinem kürzlich erschienenen Buch „Ganzheitliche Medizin — Neue Wege zur Gesundheit —", Athenäum-Verlag, Königsstein, 1985, habe ich anhand meiner Studien der amerikanischen Ent- wicklungen verschiedene Modelle beschrieben. In Analysen, Berich- ten und Gesprächen mit erfahre- nen Praktikern und Forschern werden dort Modelle und neue Verfahren dargestellt: zur Be- handlung chronischer Schmerz- zustände; die Integration neuer und alternativer Heilmethoden in einer Großstadtklinik; Biofeed- back; klinische Ökologie; körper- orientierte Behandlungs- und Lernkonzepte für die Rehabilita- tion neurologischer Erkrankun- gen und des Muskel- und Bewe- gungsapparats, wie beispielswei- se die Feldenkraismethode; ganz- heitliche Modelle der Kranken- pflege; das Problem des vorzeiti- gen Verschleißes der Therapeu- ten; neue Wege der Gesundheits- planung.

Die Suche nach einer ganzheit- lichen Orientierung und das Inter- esse an ihr sind in gleichem Maße innerhalb der modernen medizini- schen Forschung, der praktisch klinischen Arbeit als auch der prä- ventiven Gesundheitsförderung anzutreffen. Aus dieser multidis- ziplinären und vielgestaltigen Ar- beit werden sich die wesentlichen

Impulse für eine moderne Medizin der Zukunft herausbilden. Wir be- finden uns mitten in einer Debat- te, die der Wissenschaftstheoreti- ker Thomas Kuhn als einen allge- meinen „Paradigmenwandel" in- nerhalb der Wissenschaften be- zeichnet hat.

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Helmut Milz Arzt für Allgemeinmedizin Niebuhrstraße 76

1000 Berlin 12

(Dr. med. Alfred Gassmann Arzt für Naturheilverfahren Damaschkestraße 32 1000 Berlin 31)

Krebsbehandlung:

Bundestag

auf grünen Spuren

Forschung auf dem Gebiet unkon- ventioneller Krebsbehandlungs- methoden soll in Zukunft intensi- ver unterstützt werden. In einer der jüngsten Bundestagssitzun- gen stimmten die Abgeordneten einstimmig einem entsprechen- den Entschließungsantrag der Grünen zu. Diesen begründete die Abgeordnete Petra Kelly da- mit, daß Heilmethoden außerhalb der Schulmedizin von staatlicher Seite nicht ausreichend gefördert würden. ,,Es stimmt, daß bei Krebserkrankungen von Kindern die konventionellen Wege der Krebstherapie Erfolge bringen.

Doch bei Erwachsenen trifft das nicht zu", sagte Frau Kelly.

In ihrer Rede verwies sie auf einen Antrag aus dem Jahr 1976. Damals hatte der Bundestag die amtieren- de Bundesregierung aufgefor- dert, sich solcher Ansätze zur Krebsdiagnostik und -therapie an- zunehmen, die im Rahmen der Schulmedizin bisher keine Chan- ce auf Förderung gehabt hätten.

Doch selbst die Gründung einer Arbeitsgruppe „Unkonventionel- ler Methoden der Krebsbekämp- fung" 1981 hat nach Ansicht der Grünen nichts bewirkt: Dem Bun- desminister für Forschung und Technologie seien seitdem gera- de vier Vorhaben zur Förderung empfohlen worden. Der Arbeits- gruppe gehören Vertreter for- schender medizinischer Fachdis- ziplinen an sowie Experten, die Erfahrung mit nicht allgemein an- erkannten Methoden haben.

Die Bundesregierung trat dieser Kritik der Grünen bereits in ihrer Antwort auf deren Große Anfrage m Sommer entgegen. Sie verwies darauf, daß die Arbeitsgruppe ins- gesamt 140 Einsendungen ge- prüft habe. Die Vorschläge waren nach Mitteilung der Bundesregie- rung jedoch fast alle nicht zu ak- zeptieren. Petra Kelly nannte im

Bundestag ein Beispiel für ihrer Auffassung nach sinnvolle For- schung außerhalb der Schulmedi- zin: Die Gesellschaft für Biologi- sche Krebsabwehr habe 1983 und 1984 10 Projekte mit insgesamt 200 000 DM unterstützt.

Einstimmig angenommen wurde ein zweiter Entschließungsantrag, eingebracht von CDU/CSU und FDP. Dieser begrüßt ausdrücklich die Bemühungen der Bundesre- gierung zur Verhütung und Be- handlung von Krebserkrankun- gen.

Für unkonventionelle Wege der Krebsforschung sprach sich ge- nerell die FDP-Abgeordnete Dr.

Inge Segall aus. „Dies darf jedoch nicht dazu führen, daß unter dem Mantel der Krebsbekämpfung Me- thoden und Medikamente am

Menschen angewandt werden, die den Krankheitsverlauf mögli- cherweise noch verschlimmern", warnte sie. Wie schwierig die Ab- wägung sei, die Ärzteschaft könne man auch hier nicht aus ihrer Ver- antwortung entlassen. In ihrem Beitrag wies die FDP-Abgeordne- te auf die Bemühungen einiger Kassenärztlichen Vereinigungen, zum Beispiel in Niedersachsen, hin. Dort stellten onkologische Ar- beitskreise sicher, daß vorhande- nes Wissen weit gestreut werde.

Die Abgeordnete Dr. Segall sprach sich in diesem Zusammen- hang dafür aus, die Anstrengun- gen auf dem Gebiet der Fort- und Weiterbildung der einzelnen Ärzte noch zu intensivieren. th

Psychosoziale Nachsorge Die „Grünen" hatten sich in ihrer Großen Anfrage zur „Verhütung und Behandlung von Krebser- krankungen im Erwachsenenal- ter" auch nach der psychosozia- len Nachsorge erkundigt. Die Bundesregierung wies in ihrer Antwort darauf hin, daß in allen Bundesländern Krebsgesellschaf- ten bestehen, die sich auch der psychosozialen Betreuung wid- men. Daneben kümmerten sich Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 48 vom 27. November 1985 (25) 3591

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