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Archiv "Suchtkrankheiten bei Ärztinnen und Ärzten: Berufsstreß und hohe Drogenakzeptanz" (24.11.1995)

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THEMEN DER ZEIT BERICHTE/AUFSÄTZE

D

ie Prävalenz der Suchterkran- kungen wird derzeit für die Gesamtbevölkerung auf unge- fähr drei bis fünf Prozent ge- schätzt (2, 38, 52, 142), wobei die Ab- hängigkeit bei Männern und Frauen ungefähr gleich häufig sein soll (38).

Es ist um so erstaunlicher, daß der „suchtkranke Arzt" — abgesehen von reißerischen Titeln der letzten Monate in den Medien („Operation im Delirium", „Der Griff in den Gift- schrank", „Säufer in Weiß") — in der deutschen Gesellschaft bisher nicht sachlich diskutiert wird. Da breitange- legte Studien fehlen, schätzt man die Prävalenzrate der Abhängigkeiten schon jahrelang auf zwei bis fünf Pro- zent (2, 40, 42, 78), wobei es sich bei den Zahlen einmal um eine Schätzung der Substanzabhängigkeiten, zum an- deren um eine Schätzung der „reinen"

Alkoholabhängigkeit handelt. Geht man von einer Ärztezahl von 327 000 (1994) für Ost- und Westdeutschland aus, hieße das, daß zur Zeit 6 500 bis 16 000 Ärzte in Deutschland sucht- krank sind. Da eventuell etwa 90 Pro- zent unbehelligt ärztlich tätig sind (78), würden rund 5 800 bis 14 400 Ärzte ihren Beruf trotz manifester Suchterkrankung ausüben.

Bei den Abhängigkeitserkran- kungen besteht ein deutlicher Alters- gipfel. Die Studienergebnisse von Mäulen und anderen deuten darauf hin, daß die 41- bis 60jährigen deut- schen Ärzte etwa zweimal häufiger als

die jüngeren und etwa zweimal häufi- ger als die älteren Ärzte erkranken.

Die unter 40jährigen und über 60jährigen Ärzte sind unterrepräsen- tiert. Statistisch signifikante Aussagen über die Altersverteilung suchtkran- ker Ärzte finden sich in amerikani- schen Studien. Dort zeigen die über 65jährigen Ärzte eine um den Faktor 2,6 signifikant verringerte Sucht- prävalenz, die unter 35jährigen sind unterrepräsentiert, die 35- bis 64jähri- gen deutlich überrepräsentiert.

Die Erkrankungshäufigkeit bei männlichen und weiblichen Ärzten differiert, das heißt, es besteht eine ge- schlechtsspezifische Prävalenz. Wahr- scheinlich sind männliche Ärzte in Deutschland zweimal häufiger sucht- krank als Ärztinnen.

In deutschsprachigen und ameri- kanischen Veröffentlichungen wird immer wieder darauf hingewiesen, daß der Familienstand der Suchtkran- ken von Wichtigkeit sei (44, 45, 75, 78, 139, 153), und zwar hätten die verhei- rateten Ärzte den höchsten Sucht- krankenstand. Die Bundesärztekam- mer verfügt nicht über Daten, die den Familienstand aller erfaßten Ärzte betreffen. Zieht man soziodemogra- phische Daten einer repräsentativen Umfrage unter Praktikern und Inter- nisten heran (verheiratet 84 Prozent, ledig 12 Prozent, getrennt/verwitwet vier Prozent [85]), so stellt sich durch Berechnung überraschenderweise heraus, daß in der Studie von Mäulen fentlichen Dienst oder in der Indu-

strie, scheinen gesättigt zu sein. Auch die Möglichkeiten, sich als Assistent oder angestellter Arzt in der ambu- lanten Versorgung zu etablieren, sind gering und kommen sicher nur für ei- ne kleine Zahl von Kollegen in Frage.

Viele müssen sich daher medizinfer- ne Einkommensmöglichkeiten su- chen, die eine Rückkehr in die medi- zinische Praxis immer schwieriger werden lassen. Ein Vorteil des Arzt- berufs ist jedoch, daß er international ausgeübt werden kann. Es kann für einen Arzt prägend und nützlich sein, einige Zeit im Ausland zu arbeiten.

Der Dienst in einem Entwicklungs- land könnte eine durchaus sinnvolle Form der Überbrückung für arbeits- lose Ärzte sein. Das gilt sowohl für ei- ne längere als auch für eine nur Mo- nate dauernde Beschäftigung. Zahl- reiche Organisationen bieten Ärzten dazu die Möglichkeit (Tabelle).

Außerdem kann es von Vorteil sein, bei einer späteren Bewerbung ein Zeugnis über eine Tätigkeit in der Entwicklungshilfe vorzulegen. Die ärztliche Arbeit mit einfachen Hilfs- mitteln unter erschwerten Bedingun- gen kann auch die eigene Einstellung zum Beruf entscheidend beeinflus- sen. Man lernt, die medizinische Tätigkeit im eigenen Land mit ande- ren Augen zu betrachten. Der Blick wendet sich ab von der Notwendig- keit des Gelderwerbs und richtet sich auf den leidenden und hilfsbedürfti- gen Mitmenschen. Es entwickelt sich eine Art „Lambarene-Komplex", der wohl in jedem Arzt schlummert. Man spürt das gute Gefühl von Erfüllung und echter Befriedigung, das man in einer vertragsärztlichen Tätigkeit nur noch selten empfindet.

Aber auch fachlich läßt sich Ge- winn aus einer solchen Tätigkeit zie- hen. Junge Ärzte können Erfahrung sammeln bei kleineren chirurgischen Eingriffen. Sie lernen wieder, mit ihren fünf Sinnen zu diagnostizieren, und können erweiterte Kenntnisse in Parasitologie, Tropen- und Ethnome- dizin erwerben. Sicher gelten für rei- ne Katastropheneinsätze andere Kri- terien, aber schon eine mehrmonati- ge Tätigkeit vermittelt wertvolle Er- fahrungen und öffnet die Augen für die Probleme in Entwicklungslän- dern. Dr. med. Wolfgang Mohr

Suchtkrankheiten bei Ärztinnen und Ärzten

Berufsstreß und

hohe Drogenakzeptanz

In Deutschland wird das Thema suchtkranke Ärzte erst ganz vereinzelt diskutiert, es gibt hierzulande kaum Publikationen und bisher keine repräsentativen Studi- en zu diesem Problemkreis. Das steht in krassem Gegensatz zur Thematisierung des Problems in den USA. Prävalenzraten der amerikanischen Ärzteschaft (neun bis 15 Prozent) dürfen auf die deutsche Ärzteschaft aber nicht übertragen wer- den (Sozialisation, verfügbarer Drogenmarkt, Verschreibungspraxis von Narko- tika und anderes differieren). Der folgende Artikel beschäftigt sich mit den Suchtstoffen, der Suchtgenese und den geschlechtsspezifischen Unterschieden.

A-3300 (28) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 47, 24. November 1995

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Drogen-Erstkonsum bzw.-Mißbrauch

Berufsstreß des Arztes

regelmäßiger Drogenkonsum

4 1

Drogenabhängigkeit

4y

Bezie hungsnetz

Tätigkeit mit Beeinträchtigung, Arbeitslosigkeit, Ruhestand, Tod, Suizid, Therapie

Aktivitäten des Arztes, die suchtauslösenden Risikofaktoren des Berufsalltags zu minimieren

Bedürfnis des Arztes nach Rekreation und Relaxation

hemmende bzw. fördernde Bedingungen der Soziogenese einer Sucht Leugnen und Verheimlichen der Problematik durch den Arzt

fehlende Zurkenntnisnahme im Beziehungsnetz

THEMEN DER ZEIT

und anderen nicht die ver- heirateten Ärzte den höch- sten Suchtkrankenstand haben, sondern die Grup- pe der ledigen, getrennt le- benden, geschiedenen oder verwitweten Ärzte viermal häufiger abhängig und die Gruppe der ge- schiedenen, getrennt le- benden oder verwitweten Ärzte vielleicht sogar etwa zehnmal häufiger erkrankt ist als verheiratete Ärzte.

Suchtstoffe

Angaben über die Häufigkeit eines therapeu- tischen und rekreativen Substanzgebrauchs in der Ärzteschaft, die Hinweise auf sich entwickelnde Ab- hängigkeitsmuster geben könnten, finden sich in der deutschen Literatur bis- lang nicht. Der Infratest- umfrage von 1992 (85) kann entnommen werden, daß rund 31 Prozent der Ärzte nicht so gern, 48 Prozent gern und vier Pro- zent sehr gern Alkohol

trinken, 16 Prozent der männlichen, aber zwölf Prozent der weiblichen Ärzte abstinent leben. Als Nichtrau- cher bezeichnen sich 75 Prozent der Ärzte, als weniger starke Raucher schätzen sich 15 Prozent ein, als star- ke Raucher acht Prozent, als sehr starke Raucher drei Prozent. Interes- sant ist, daß 21 Prozent der befragten Ärzte angeben, regelmäßig Medika- mente einzunehmen.

Alkohol ist die von Ärzten am häufigsten genommene Substanz mit Abhängigkeitspotential. Der verbrei- tete Alkoholkonsum in der Ärzte- schaft schlägt sich in einer zwei- bis fünfprozentigen Alkoholismuspräva- lenzrate nieder, wobei Ärztinnen wahrscheinlich nur halb so häufig alkoholabhängig werden wie männli- che Ärzte. Die Zahlen spiegeln in et- wa die Verhältnisse der Gesamtbevöl- kerung wider (Grafik). Die Vulnera- bilität gegenüber Alkohol scheint so- mit für alle Bevölkerungskreise inner- halb einer Kulturgesellschaft gleich

AUFSÄTZE

Suchtentstehung bei Ärzten

Gesundheits-, Krankheits- und Bezugsgruppenverhalten

groß zu sein (26, 33, 37, 67, 81, 153), aber nicht für Frauen (Ärztinnen) und Männer (Ärzte).

Nikotin ist wahrscheinlich der zweitwichtigste Suchtstoff für Ärzte, Nikotin konsumieren etwa 25 Prozent (Allgemeinbevölkerung: 44 Prozent der Männer und 28 Prozent der Frau- en [31]).

Suchtgenese

Da in Deutschland wenige Fak- ten dokumentiert sind, muß bei der Analyse der Suchtentstehung auf amerikanische Fakten zurückgegrif- fen werden. Betrachtet man das Alter der stationär behandelten suchtkran- ken Ärzte in den USA, so zeigt sich, daß abhängige Ärzte im Durchschnitt zehn Jähre älter als die übrigen Kran- ken sind, und zwar 48 Jahre statt 38 Jahre (53). Nach McAuliffe steigt der prozentuale Anteil der starken Trin- ker in der amerikanischen Ärzte-

schaft nach dem 30. Le- bensjahr kontinuierlich an, während in der Allge- meinbevölkerung eine ge- genläufige Entwicklung zu verzeichnen ist; es besteht eine Diskrepanz zwischen den Altersgipfeln der Drogenkonsumenten in- nerhalb der Ärzteschaft und der Allgemeinbevöl- kerung (81). Die Fakten legen nahe, daß die be- rufsimmanenten und be- rufsassoziierten Faktoren für die Suchtgenese bei Ärzten eine ausschlagge- bende Bedeutung haben.

Die Annahme wird da- durch bekräftigt, daß die über 60jährigen unter den suchtkranken behandel- ten deutschen Ärzten un- terrepräsentiert sind (in den USA signifikant die über 65jährigen Ärzte).

Nach Ausscheiden aus dem Beruf verringert sich offenbar die Suchtgefähr- dung für Ärzte trotz ih- res ansteigenden Alkohol- konsums, denn der Beruf mit seinen vielfältigsten psychosozialen Streßfak- toren kann wahrscheinlich nicht mehr als Destabilisator der Arztpersönlich- keit fungieren.

Neben dem Berufsstreß muß als Risikofaktor für ärztliche Sucht die hohe Drogenakzeptanz unter Ärzten betont werden. Die hohe Drogenak- zeptanz (beeinflußt durch die Sucht- kultur der Gesellschaft) kommt im

„pharmakologischen Optimismus"

(„Drugs as an important form of healing" [67]) und der verbreiteten Selbstmedikation (USA 30 bis 40 Pro- zent) zum Ausdruck und findet ihren Niederschlag in der Polytoxikomanie (Deutschland etwa 40 Prozent, USA 50 bis 60 Prozent). Die Möglichkeit, sich Medikamente selbst zu verschrei- ben, erhöht zweifelsfrei die Suchtge- fahr für Ärzte, denn der Konsum von Benzodiazepinen und Opiaten unter jungen amerikanischen Arzten steigt nach Hughes an, sobald sie „legal"

Rezepte schreiben dürfen, und diese zwei Substanzen sind häufig mit Suchterkrankungen im späteren

Grafi DA

A-3302 (30) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 47, 24. November 1995

(3)

THEMEN DER ZEIT

Arztleben assoziiert (59). Amerikani- sche Ärzte konsumieren Amphetami- ne und Tranquilizer schließlich dop- pelt so häufig und Sedativa sogar drei- mal häufiger als vergleichbare Kon- trollpersonen (sozioökonomisches Matching) (144). Der von Kleber an- geprangerte „pharmakologische Op- timismus" ist ein ernstzunehmendes Problem hinsichtlich der Suchter- krankungen innerhalb der Allge- meinbevölkerung und auch innerhalb der Ärzteschaft. Die leichte Verfüg- barkeit von Medikamenten, beson- ders von Betäubungsmitteln, und das gute Wissen über ihre Anwendung scheinen auch der Grund für die Er- krankungshäufigkeit unter amerika- nischen Anästhesisten zu sein. Die Selbstmedikation der Ärzte scheint deshalb so gefährlich zu sein, weil er- staunlicherweise unter Ärzten ein großer Wissensmangel über Nutzen, Nachteil und Suchtpotential von Dro- gen besteht (22, 51, 86, 137, 143, 156).

Erschwerend kommen eine generelle Unwissenheit über Abhängigkeit (Konnotation des Lasters), über de- ren erste Anzeichen und frühe Sym- ptome hinzu sowie Ausbildungsdefi- zite bezüglich Art und Weise von Be- einträchtigungen, welche die Aus- übung und Sicherheit der ärztlichen Kunst beeinflussen können.

Welche Persönlichkeitsmerkma- le den Arzt letztendlich in die manife- ste Suchterkrankung treiben, ist kaum zu beantworten. Als idiogener Faktor läßt sich aber häufig eine man- gelhafte Streßbewältigung ausmachen;

fast die Hälfte der deutschen Ärzte betreibt keinen regelmäßigen Sport, 80 Prozent halten sich täglich nur zwi- schen 30 bis 60 Minuten im Freien auf (85). Ärzte sind bereit, für eine ver- meintlich überschaubare Zeitspanne persönliche Interessen zurückzustel- len und sich voll auf den Beruf zu kon- zentrieren, um ihr langfristiges Le- bensziel zu erreichen; alle anderen Lebensbereiche werden vernachläs- sigt, ein physiologischer Streß abbau zum Beispiel durch Freizeitaktivitä- ten findet nicht statt(109, 128, 135).

Von Bedeutung für die Suchtge- nese sind wahrscheinlich auch unrea- listische Erwartungen des Arztes.

Schon während der Ausbildung er- fahren Ärzte, welch hohe Erwartun- gen Gesellschaft und Patienten an sie

AUFSÄTZE

richten: Erfolg, Stärke, Stabilität, All- wissenheit, kurzum übermenschliche Eigenschaften, die keine Schwächen zulassen (92, 117, 134). Der Mythos um den Arzt, häufig genug durch un- realistische Fernsehportraits verbrei- tet, läßt keine Akzeptanz psychischer Störungen bei Ärzten zu (87, 128). In- folgedessen umgeben sich Ärzte häu- fig mit einer Aura der Perfektion. Um die Rolle eines omnipotenten Heilers spielen zu können, müssen sie aber selbst immun gegenüber Krankheiten erscheinen (131), diesen Zustand nennt Mullinax „ Titanic Syndrom":

Ärzte denken, sie seien unbesiegbar, und haben ein Gefühl der Unverletz- barkeit (93). Die Forderung nach Omnipotenz kann zu einer emotiona- len Dekompensation führen bezie- hungsweise die Ausblendung eigener Abhängigkeitsprobleme erleichtern (108, 141).

Gründe für den Drogenkonsum

Als Gründe für den Dro- gen(erst)konsum beziehungsweise er- sten Drogenmißbrauch (Auslöser) müssen Überarbeitung, emotionale Erschöpfung und psychosoziale Über- forderung durch den Beruf genannt werden, ein Berufsstreß, der zum Distreß wurde beziehungsweise indi- viduell als solcher empfunden wird.

Da Ärzte wenig Erholungszeit haben oder sich nehmen, mangelhafte Aktivitäten zur Streßbewältigung entwickeln, ist regelmäßiger und schließlich übermäßiger Drogenkon- sum ein Versuch, Rekreation und Re- laxation durch Substanzen herbeizu- führen, das psychische und physische Gleichgewicht durch sie zu erhalten, eine Dysbalance zu vermeiden. Die Aktivitäten des Arztes, die suchtaus- lösenden Risikofaktoren seines Be- rufsalltags zu minimieren, sind allzu- oft mangelhaft. Der übermäßige Dro- genkonsum beziehungsweise das sich anbahnende Drogenproblem des Arztes wird von seiner Familie (24, 102, 114, 116) und seinen Kollegen (76, 114, 120, 131) wissentlich oder unwissentlich nicht wahrgenommen, der betreffende Arzt selbst leugnet und verheimlicht seinen starken Kon- sum beziehungsweise Abusus, und so-

mit wird der Konsum „unbehindert"

weiter betrieben (29, 76, 111, 134).

Selten sagen Ärzte einem Kollegen offen, daß er psychiatrische Hilfe brauche (96), möglicherweise deshalb nicht, weil es für sie schwierig ist, ob- jektiv zu beurteilen, wie gut der Kol- lege noch arbeiten kann. Webster be- tont, daß aber gerade die Einstellung der ärztlichen Kollegen einen ent- scheidenden Einfluß darauf hat, in- wieweit der abhängige Arzt zu einer Therapie bereit ist (154).

Die Zurkenntnisnahme einer sich entwickelnden Sucht im sozialen Beziehungsnetz und die Akzeptanz als Erkrankung werden durch das Leugnen und Verheimlichen der Pro- blematik boykottiert; die Folge ist ei- ne fortschreitende Abhängigkeitser- krankung mit prolongiertem Verlauf.

Die ausbleibenden gesellschaftlichen Reaktionen wie Sanktionierungen beziehungsweise Diskriminierungen sind vielleicht unter anderem eine Er- klärung dafür, daß sich die Erkran- kungen bei Ärzten bis zur Diagnose normalerweise fast ein Jahrzehnt län- ger hinziehen als in der Allgemeinbe- völkerung und daß Ärzte in weit fort- geschrittenerem Stadium der Erkran- kung zur Therapie kommen als Nicht- Ärzte. Die Wirkungsstärke der gesell- schaftlichen Reaktionen und die dar- aus resultierende individuelle Gegen- reaktion sollen nach Renn nämlich die Dynamik einer Suchtkarriere be- dingen (112).

Aufgabe der ärztlichen Tätigkeit, Tätigkeit mit Beeinträchtigung, Kün- digung und Arbeitslosigkeit, Suizid, Tod oder eine Therapie sind die sich schließlich ergebenden „Möglichkei- ten" für den suchtkranken Arzt. Eine Unterschätzung der Prävalenzrate für Suchterkrankungen bei Ärzten ist durch die sich ergebenden Möglich- keiten anzunehmen (29).

Die Ursachen für ein geringeres Suchtrisiko der Ärztinnen muß in der Sozialisation gesucht werden. Es zeigt sich, daß unter hohem psychischen Distreß junge Frauen deutlich häufi- ger zu Psychopharmaka (38 Prozent) als zu Alkohol (acht Prozent) greifen, während junge Männer deutlich häu- figer Alkohol (85 Prozent) als Psycho- pharmaka (fünf Prozent) konsumie- ren. Kulturelle Normen erlauben es jungen Männern, Streßerlebnisse ge- A-3304 (32) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 47, 24. November 1995

(4)

Unterstützung durch die Arztekammern

315 abhängige Ärzte und Ärztinnen wurden in der Oberberg-Klinik für psy- chosomatische Medizin in Hornberg durchschnittlich sieben Wochen lang sta- tionär entgiftet und psychotherapeutisch entwöhnt. Die Autoren des folgen- den Artikels berichten über die Behandlungsdaten der alkohol- beziehungs- weise medikamentenabhängigen Ärzte, ein erfolgreiches Rehabilitationspro- gramm und die positiven Erfahrungen aus Sicht der Ärztekammer Hamburg.

meinsam in einer Männerrunde zu er- tränken, während von den unter- schiedlichen Bezugsgruppen Alko- holgenuß für junge Frauen nicht ak- zeptiert wird, wohingegen junge Frauen nicht gegen kulturelle Nor- men verstoßen, wenn sie Medikamen- te einnehmen (39).

Es ist folglich nicht verwunder- lich, daß Ärzte quantitativ mehr und häufiger Alkohol trinken als Ärztin- nen und daß die schweren Gebrauchs- muster des Alkoholismus bei Män- nern häufiger beobachtet werden (81, 127, 155). Da die häufigste Suchter-

THEMEN DER ZEIT AUFSÄTZE

krankung der Alkoholismus ist, müß- ten das in der Familie beziehungswei- se Gesellschaft erlernte Trinkverhal- ten und die entwickelte normative Wertung von Trinksitten für Ärztin- nen als hemmende Bedingung eines Alkoholismus wirksam werden, während die kulturellen Normen als fördernde Bedingungen der Suchtge- nese bei Ärzten angesehen werden müßten. Das sich während der Sozia- lisation entwickelnde Krankheits- und Gesundheitsverhalten sowie die daraus resultierende Risikobereit- schaft fördern beziehungsweise hem-

men den Konsum bestimmter Drogen oder eine Suchtentstehung (Grafik).

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1995; 92: A-3300 — 3305 [Heft 47]

Literatur bei der Verfasserin

Anschrift der Verfasserin:

Dr. med. Silke Leesemann Klinik für Neurologie

Kreiskrankenhaus Gummersbach Wilhelm-Breckow-Allee 20 51643 Gummersbach

Hilfsmöglichkeiten für abhängige Arzte

Bernhard Mäulen Matthias Gottschaldt

Klaus Damm

D

ie Betroffenen kamen in der Regel nach mehrjähriger Ab- hängigkeit wegen akuter pri- vater Probleme (besonders der Partnerschaft), zum Teil aufgrund allgemeiner Praxisschwierigkeiten (11,5 Prozent) sowie nach Auflagen der Ärztekammern (7,9 Prozent) be- ziehungsweise Abmahnungen (5,6 Prozent) in die Oberberg-Kliniken.

Rund 60 Prozent der Aufgenomme- nen wurden initial entgiftet. Dabei wurde medikamentös mit Carbama- zepin zum Krampfschutz sowie bei 21,3 Prozent der Patienten mit Clome- thiazol zur Dämpfung der Entzugser- scheinungen behandelt.

Die mittlere Verweildauer aller Behandelten betrug für Akutentgif- tung und stationäre Entwöhnungspsy- chotherapie zusammengenommen 6,93 Wochen (Standardabweichung 4,7). Abbrüche seitens des Patienten oder seltener der Klinik ereigneten sich bei 24 Prozent. Rückfallverhalten wurden bei 5,1 Prozent festgestellt.

Die Mehrheit der Ärzte und Ärztin- nen (76,2 Prozent) kam erstmals, 16,5 Prozent kamen zur Zweitbehandlung.

Bei 52,1 Prozent lag eine Abhän- gigkeit nur von Alkohol, bei 6,1 nur von Medikamenten und bei 31 Pro-

zent von Alkohol und Medikamenten kombiniert vor. Relevante Begleiter- krankungen traten überwiegend in Form psychoneurotisch-depressiver Störungen (42,8 Prozent) und Angst- störungen (7 Prozent) auf. Suizidale Handlungen (24) gab es in vorklini- scher sowie bei Rückfälligen in post- stationärer Zeit, nicht jedoch wäh- rend der stationären Phase. Somati- sche Komplikationen wie Leberzir- rhose (3,4 Prozent) oder Hypertonus (6,1 Prozent) waren seltener.

Die soziodemographischen Da- ten der Untersuchten belegten ein deutliches Überwiegen der Männer (81,2 Prozent) und der Verheirateten (59,7 Prozent). Bezüglich der berufli- chen Stellung waren 53,5 Prozent nie- dergelassen und 20,1 Prozent leitende Ärztinnen und Ärzte. Es dominierten mit 81,9 Prozent die Fachärzte ge- genüber der Nichtfacharztgruppe

(11,5 Prozent). Innerhalb der Fach- ärzte führten die Allgemeinmediziner mit 15,7 Prozent, dicht gefolgt von In- ternisten mit 14,7 sowie Chirurgen mit 12 Prozent.

Rehabilitation abhängiger Arzte

Abhängige Ärztinnen und Ärzte können durch ihre Erkrankung in be- sondere Nöte geraten, weil a) die KV- Zulassung an eine mindestens fünf- jährige Suchtfreiheit gebunden ist und b) eine Bedrohung der Approbation besteht. Erstes Ziel eines Rehabilita- tionsprogramms ist es, den betroffenen Ärzten die Angst zu nehmen, sich zu decouvrieren. Dazu haben wir 1992 mit fast allen Ärztekammern der alten und einigen der neuen Bundesländer, den zugehörigen Kassenärztlichen Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 47, 24. November 1995 (35) A-3305

Referenzen

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