as Zentralinstitut hat bei
„I + G Gesundheitsforschung“
(Nachfolgeorganisation von Infratest Gesundheitsforschung und GFK) im Juni 1998 eine Bevölke- rungsbefragung über Nutzung, Ge- brauch und Mißbrauch der Kranken- versichertenkarte in Auftrag gegeben.
Bereits 1995 wurden die Einführungs- effekte der Krankenversichertenkarte durch eine vergleichbare Befragung analysiert. Dabei wurden 1995 und 1998 jeweils 2 000 GKV-Versicherte (ab 14 Jahren) auf der Basis von Zu- fallsstichproben aus der Bevölkerung telefonisch befragt.
Die Fragestellungen der „I + G- Analyse“ waren unter anderem:
Findet eine erhöhte Inan- spruchnahme von Ärzten aus Sicht der Versicherten statt, korrelieren al- so die Befragtenangaben mit den Sta- tistiken über die Fallzahlenentwick- lung, und welche Gründe gibt es dafür?
Wie wirken sich Veränderun- gen im Versichertenverhalten auf die Inanspruchnahme von Hausärzten und von Fachärzten aus?
Werden zunehmend mehrere Ärzte gleichzeitig wegen derselben Beschwerden aufgesucht?
Erfolgt 1998 – stärker noch als in den ersten Jahren der Chip-Karten- Einführung – eine Direktinanspruch- nahme von Fachärzten?
Welche Einflußfaktoren tra- gen zur Erklärung des Versicherten- verhaltens maßgeblich bei?
Läßt sich ein offenkundiges Mißbrauchspotential von Karten er- mitteln?
1998 gaben rund zwei Drittel der befragten GKV-Versicherten an, in den letzten drei Monaten niedergelas- sene Ärzte in Anspruch genommen zu haben. Dabei fanden durchschnittlich 3,3 Arztkontakte je Versicherten statt, wobei 56 Prozent dieser Befragten nur einen oder zwei Kontakte und ei-
ne kleine Gruppe von sechs Prozent zehn und mehr Kontakte hatten. Ge- genüber 1995 blieb die Anzahl der durchschnittlich 3,3 Kontakte inner- halb der letzten drei Monate unverän- dert. Auch die Zahl der in diesem Zeitraum kontaktierten Ärzte blieb 1998 mit durchschnittlich 1,6 dieselbe wie 1995. Nur einen einzigen Arzt be- suchten 59 Prozent, 27 Prozent zwei Ärzte, 12 Prozent drei und mehr Ärz- te. Zwar ist die Zahl der Arztkontakte je Patient nicht gestiegen, aber das ge- samte Kontaktvolumen hat sich er- höht, weil mehr Versicherte in den letzten drei Monaten beim Arzt wa- ren: 64 Prozent gegenüber nur 59 Pro- zent im Jahr 1995. Dies ist Ausdruck einer Morbiditätszunahme um 8,5 Prozent.
Die Anteile der nach Fachrich- tung gegliederten, zuletzt kontaktier- ten Gebietsärzte haben sich 1998 ge- genüber 1995 nicht wesentlich verän- dert: 61 Prozent der Versicherten be- suchten zuletzt einen Allgemeinmedi- ziner/Praktischen Arzt. 38 Prozent konsultierten einen Facharzt, darunter neun Prozent einen Internisten, acht Prozent einen Frauenarzt, fünf Pro- zent einen Orthopäden. Alle anderen Gebietsärzte sind mit zwei Prozent oder weniger vertreten. Eine signifi- kante Verschiebung von Hausärzten zu Fachärzten ist nicht zu beobachten.
Allerdings ergibt sich – trotz gleichbleibender Kontakthäufigkeit – eine leichte Strukturverschiebung bei der Parallelinanspruchnahmefachglei- cher Ärzte: Der Anteil der Versicher- ten, die in den letzten drei Monaten mehr als einen Hausarzt (Praktischer Arzt, Allgemeinarzt oder Internist) aufgesucht haben, ist um vier Prozent- punkte (1998: 18 Prozent; 1995: 14 Pro- zent) gestiegen, während der Anteil derer, die mehr als einen Facharzt der- selben Fachgruppe aufgesucht haben, mit sieben Prozent aller Versicherten konstant geblieben ist.
Insgesamt ist ein Anstieg um drei Prozentpunkte der Versicherten zu verzeichnen, die wegen desselben An- liegens mehrere – auch nicht fachglei- che – Ärzte aufsuchen (1998: 15 Pro- zent, 1995: 12 Prozent).
Gegenüber dem Jahr 1995 hat sich der Anteil von Versicherten, die in den letzten drei Monaten vor der Befragung Fachärzte ohne Überwei- A-2826 (34) Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 45, 6. November 1998
T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE
Tabelle 1
Vorteile der Chip-Karte aus Sicht GKV-Versicherter 1998 und 1995
1998 1995
Keine Überweisungsformulare mehr nötig 53 % 80 %
Karte bequemer 40 % 16 %
Direkter Zugang zu Ärzten meiner Wahl/
meines Vertrauens möglich 24 % 12 %
Höhere Behandlungssicherheit infolge des
Urteils mehrerer Ärzte 1 % 1 %
Ausprobieren verschiedener Ärzte 5 % 3 %
Ausprobieren verschiedener Ärzte
verschiedener Fachrichtung 4 % 2 %
Krankenversichertenkarte
Mehr Fälle seit Einführung der Plastikkarte
Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung legt die Auswertung einer Befragung
zur Nutzung der Krankenversichertenkarte vor.
Gerhard Brenner, Hedwig Elisabeth Kerek-Bodden, Heinz Koch
D
sungsschein aufsuchten, nochmals um zwölf Prozentpunkte erhöht (von 43 Prozent auf 55 Prozent). 25 Prozent der Versicherten suchen einen Fach- arzt dabei wegen leichter Erkrankun- gen beziehungsweise leichter Be- schwerden auf.
Einfluß der Chip-Karte auf das Versichertenverhalten
Mit Einführung der Krankenver- sichertenkarte konnte eine deutlich stärkere Strukturverschiebung bei der Inanspruchnahme zugunsten der Fachärzte beobachtet werden. Der seit Jahren bestehende Trend wurde be- schleunigt. Dieser Trend wäre geringer ausgeprägt, wenn man die Versicher- tenkarte technisch so ausgestaltet hät- te, daß das Prinzip der Überweisung nicht durch die Möglichkeit der belie- bigen Direktinanspruchnahme in Fra- ge gestellt würde.
Hervorzuheben ist in diesem Zu- sammenhang, daß dieses Versicher- tenverhalten nicht zu Lasten des Behandlungsvolumens der Hausärzte geht, die nach wie vor als feste An- sprechpartner in Anspruch genom- men werden. Das ergab sich in allen bisherigen Studien zu diesem Thema und wird auch jetzt wieder bestätigt.
Weniger offensichtlich als die ge- stiegene Direktinanspruchnahme von (Fach-)Ärzten ist der Einfluß der Chip-Karte auf die Mehrfachinan- spruchnahme von Ärzten. Die Versi- cherten nannten folgende Gründe:
> Empfehlung oder Veranlas- sung durch einen Arzt; das Kranken- haus oder ein anderer Arzt verfügt über das benötigte diagnostische und therapeutische Equipment (1998:
65 Prozent; 1995: 69 Prozent).
> Wunsch nach einer Zweitmei- nung, Unzufriedenheit mit dem Arzt, der Arzt verweigert eine bestimmte Leistung (nur 1998 gefragt) und Aus- nutzung der Chip-Karte (1998: 20 Pro- zent; 1995: 19 Prozent).
> Der Arzt war nicht anwesend, der Versicherte ist umgezogen, oder es handelte sich um einen Notfall (1998: 7 Prozent; 1995: 11 Prozent).
Dagegen sehen 1998 deutlich mehr Versicherte größere Vorteile in der Chip-Karte als vor drei Jahren (Tabelle 1). Bemerkenswert ist, daß
dies in einem Punkt nicht zutrifft:
1998 sehen sehr viel weniger Versi- cherte im Wegfall der Überweisungs- scheine einen Vorteil der Chip-Karte.
Offensichtlich gehört dies inzwischen zur Alltagspraxis und ist daher nicht mehr erwähnenswert.
In den Jahren von 1995 bis 1998 hat sich die latente Bereitschaft, die Chip-Karte als Instrument zur Reali- sierung von steigenden Ansprüchen an die ärztliche Versorgung zu nutzen, deutlich erhöht (Tabelle 2). Die Mög- lichkeiten der Karte werden den Ver- sicherten immer klarer, wobei das Erkennen dieser Optionen nicht zwangsläufig im gleichen Ausmaß zu
einer Steigerung der Inanspruchnah- me führen muß.
Die oft behauptete angebotsindu- zierte Zunahme der Inanspruch- nahme von Ärzten wurde nicht be- stätigt: die höhere Ärztezahl und eine damit einhergehende größere Wahl- möglichkeit hat nach Auskunft der Versicherten so gut wie keinen Einfluß auf ihr Inanspruchnahmeverhalten.
Versicherte wurden auch über die Anzahl von Krankenversichertenkar- ten befragt, die ihnen zur Verfügung stehen. Drei Prozent gaben an, meh- rere Karten zu besitzen. Hochgerech- net sind damit etwa zwei Millionen Mehrfachkarten vorhanden, die theo- retisch mißbräuchlich genutzt werden könnten, ohne daß man dies bei den Befragten feststellen könnte. Die Un- tersuchung belegt hingegen eine Stei- gerung der Inanspruchnahme im Sin- ne einer Fallzahlsteigerung nach Ein-
führung der Krankenversichertenkar- te. Morbiditätszunahme, Parallelin- anspruchnahme fachgleicher Ärzte, Mehrfachkonsultationen fachunglei- cher Ärzte sowie eine Disposition zur extensiven Nutzung der Chip-Karte von einem Teil der Versicherten und ein schwer kalkulierbares Miß- brauchspotential sind die Einfluß- faktoren. Insgesamt schätzt I + G Ge- sundheitsforschung die Fallzahlinduk- tion durch verändertes Versicherten- verhalten zwischen zwei Prozent und fünf Prozent.
Bewertet man nur die Untergren- ze von zwei Prozent Fallzahlindukti- on, so muß man zu der Schlußfolge-
rung gelangen, daß von den jährlich rund 520 Millionen abgerechneten Krankenfällen im ambulanten Be- reich etwa zehn Millionen „chipkar- teninduziert“ sind. Dies entspricht ei- nem Umsatzvolumen von rund 800 Millionen DM pro Jahr. Seit Ein- führung der Chip-Karte errechnet sich damit ein Belastungsvolumen der Kassenärztlichen Vereinigungen in Höhe von 3,2 Milliarden DM.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1998; 95: A-2826–2827 [Heft 45]
Anschrift für die Verfasser Dr. rer. pol. Gerhard Brenner Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung Herbert-Lewin-Straße 5 50931 Köln
A-2827 Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 45, 6. November 1998 (35)
T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE
Tabelle 2
Disposition zur extensiven Nutzung der Chip-Karte 1998 und 1995
1998 1995
Ich entscheide immer öfter selbst,
zu welchem Arzt ich gehe 69 % 57 %
Ich nutze öfter die Möglichkeit, direkt einen
Facharzt aufzusuchen 47 % 39 %
Wenn mir ein Arzt nicht gefällt, kann ich mir
ohne Überweisung einen neuen suchen 81 % 71 %
Ich kann mehrere Ärzte zugleich um ihre
Meinung zur Diagnose und Therapie bitten 67 % 59 % Ich erhalte so auf jeden Fall von irgend-
einem Arzt die „Leistung“ meiner Wahl 66 % 26 %
(1995 hieß es hier nur „Medikament“ meiner Wahl)