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Archiv "Türkei: Istanbul, die Heilende" (19.03.2010)

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Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 107

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Heft 11

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19. März 2010 A 517 TÜRKEI

Istanbul, die Heilende

Vom Alltag in einem türkischen Krankenhaus

A

m Ende kommen sie alle nach Istanbul, egal, ob Bauern oder Kleinunternehmer, Männer oder Frauen, Türken oder Kurden. Istan- bul zieht sie alle an. Die Stadt am Bosporus lockt vor allem die jun- gen Leute, aber es kommen auch die alten – in der Hoffnung, in Is- tanbuls Krankenhäusern zu gene- sen. Seit einigen Monaten ist mein Großvater einer von ihnen.

Mein Opa hat Leukämie, doch das weiß er bis heute nicht. Mein Onkel hatte den Arzt damals gebe- ten, ihm zunächst nur die Diagnose mitzuteilen. Anschließend hatten die fünf Geschwister wild hin und her diskutiert. Meine Großeltern stammen aus einem kleinen kurdi- schen Dorf in der Nähe von Elbis- tan, weit im Osten der Türkei. Für Menschen wie sie bedeutet das Wort Krebs nur eines: den Tod. Das könne nur Schaden anrichten, ent- schieden die Geschwister schließ- lich. Meine Großeltern glauben bis heute, mein Opa leide unter schwe- rer Blutarmut. Das ist nun sogar die Wahrheit, aber eben nur die halbe.

Das Krankenhaus in Elbistan konnte meinen Opa nicht mehr aus- reichend versorgen. Die nächste Al- ternative, das Universitätskranken- haus in Malatya, stand nicht wirk- lich zur Debatte. Denn die Versor- gung der Patienten funktioniert in türkischen Krankenhäusern ledig- lich durch den ständigen Einsatz der Angehörigen; sämtliche Familien- angehörige meines Großvaters aber leben mittlerweile weit im Westen der Türkei. So blieb auch uns am Ende nur Istanbul. Aus einem Dorf in der kurdischen Pampa brachten wir meinen Opa in die Weltmetro- pole, 1 000 Kilometer entfernt.

Hier liegt er nun im staatlichen Krankenhaus von Cerrahpaşa, ei- nem konservativen Viertel im euro- päischen Teil der Stadt. Auf dem

Gelände sind eine medizinische Fakultät, die medizinischen Abtei- lungen und 1 700 Betten unterge- bracht, verteilt auf 20 Gebäude. Auf unserer Station liegen in sieben Zimmern etwa 15 Patienten. Die Türen stehen immer offen, privat ist hier wenig. Schnell kennt man sich, trifft sich zum Small Talk und hilft sich aus: mit dem Wasserkocher, Salz oder Taschentüchern.

Die für meinen Opa zuständige Ärztin ist 26 Jahre alt. Sie kommt täglich mehrmals herein, schaut sich die neuesten Blutwerte an und zeichnet Rezepte für fehlende Me- dikamente ab. Sie steht unter Zeit- druck, versucht aber, für uns da zu sein. Ihre Präsenz ist beruhigend.

Dabei hat sie für die meisten Pa- tienten, die auf dieser Station lie- gen, wenig Hoffnung: „Eigentlich betreiben wir hier Palliativmedi- zin“, sagt sie. Auch bei meinen Opa geht es nicht um Heilung. Er ist zu alt für eine Knochenmarktrans- plantation, und so besteht seine Be-

handlung aus Schonung, strenger Hygiene und Bluttransfusionen.

Meine Oma ist immer bei ihm.

Sie bringt ihn zur Toilette, wäscht ihn, holt das Essen ab, füttert ihn, wacht über die Reihenfolge der Me- dikamente. Aber die meiste Zeit ist sie einfach nur da, sitzt neben dem Krankenbett und wartet. In der Fa- milie wechseln wir uns ab, um bei meinem Opa zu sein und meiner Oma zu helfen. Für zwei Wochen war auch ich zuständig. Jeden Abend legte ich mich mit meiner Oma auf eine dünne Matratze ne- ben dem Krankenbett, zugedeckt von zwei Wolldecken. So ist mein Opa stets umgeben von dem, was ihn am Leben hält: der Familie auf der einen Seite, dem Infusionsstän- der auf der anderen.

Jeden Tag müssen wir für Me - dikamentennachschub sorgen. Die meisten Medikamente werden ohne Zuzahlung zur Verfügung gestellt, beschaffen muss man sie aber selbst. Am anderen Ende des Ge- ländes legte ich den Apothekern täglich meine Liste mit Medika- menten vor. Sie packten mir dann einen Karton: Serum, Antibiotika, Hustensaft, Antipilzcreme. Immer wieder braucht man eine Sonder - genehmigung für ein Medikament, dann heißt es: zurück zur Ärztin.

Warten. Sonderrezept. Zurück zur Apothekerin. Warten. Unterschrift.

Stets umgeben von dem, was ihn am Leben hält:

Ohne die Angehöri- gen wären die staatlichen Kran- kenhäuser in der Türkei funktions- unfähig.

S T A T U S

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A 518 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 107

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Heft 11

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19. März 2010 Quer übers Gelände zum Chefarzt.

Warten. Eintreten. Unterschrift.

Weiter zur zentralen Ausgabestelle.

Warten. Medikament nicht auf Vor- rat. Handynummer mitgeteilt. Zu- rück zum Zimmer. Warten. Handy klingelt. Medikament da. Endlich.

Die schwierigste Aufgabe ist die Suche nach Blutspendern. Denn wer regelmäßig Blut braucht, muss sich in der Türkei selbst kümmern. Der Blutgruppe meines Opas, A Rhesus negativ, gehören nur etwa fünf Pro- zent der türkischen Bevölkerung an.

Die einzige Hilfe des Krankenhauses ist eine Blutspenderliste. Tag für Tag gilt es, auf eigene Faust neue Spen- der für Thrombozyten zu finden.

Wenn die Spender zum Krankenhaus kommen, bleiben wir ständig bei ih- nen. Wir erklären die Prozedur, bie-

ten Getränke oder Mahlzeiten an;

bestehen darauf, wenigstens das Fahrgeld zu erstatten. Wenn die Spender Geld verlangen, zahlen wir, aber das kommt selten vor. Die Kon- serve mit den gespendeten Throm- bozyten drückt man uns später in einer Plastiktüte in die Hand.

Manchmal, wenn das Blut länger im Kühlschrank gelegen hat, muss es aufgewärmt werden. Auch dafür braucht man die Angehörigen. Wir schieben uns die Blutkonserve unter die Achsel und warten, bis sie Kör- pertemperatur angenommen hat.

Patient sein in Istanbul geht aber auch anders. Eines Tages ruft mich meine Freundin Aysun an: Verdacht auf Fehlgeburt. Ich begleite sie ins Cerrahi-Krankenhaus im angesagten Stadtteil Nişantaşi. Sich hier behan- deln zu lassen, ist kostspielig: Für eine Ultraschalluntersuchung, eine zehnminütige Beratung, das Medi- kament und eine halbe Stunde War- tezeit wird Aysun am Ende umge- rechnet 180 Euro aus eigener Tasche zahlen. Dafür werden die Sinne ent- schädigt: Die Eingangshalle ist in dezentem Beige gehalten, der Boden ist gefliest und spiegelblank, von der Decke sorgen Hunderte kleine Lämpchen für glitzerndes Licht. Die Frauen an der Anmeldetheke sind perfekt gestylt, sogar die Patienten

scheinen schöner, schlanker, schi- cker. Mit einem der modernen Auf- züge fahren wir in die vierte Etage.

Klaviermusik, hier und da wartet ein Patient geduldig auf einem gepols- terten Sessel. Der Gynäkologe ist freundlich, aber distanziert. Er ver- schreibt Progesteron. Er kennt die Erwartungshaltung der türkischen Patienten: ein Arztbesuch ohne Re- zept ist wie ein Erntetag auf dem Feld, an dem die Körbe leer bleiben.

Unterschiedlicher könnten die beiden Krankenhäuser kaum sein, doch eines haben sie gemeinsam:

Alle Eingänge sind von bewaffne- ten Wachmännern gesäumt. Die in Nişantaşi nehmen ihre Aufgabe freilich ernster. Hier gibt es mehr zu verlieren: nicht mehr Menschenle- ben, aber einen Ruf und viel Geld.

In Cerrahpaşa steht an einem Abend eine Frau vor unserer Tür.

Sie winkt meiner Oma flüchtig zu:

„Ich gehe jetzt. Wir gehen alle.“

Mehrere Frauen stehen im Kreis und schluchzen. Einige Männer gu- cken ernst der Trage hinterher, die samt Schläuchen und Sauerstofffla- schen zur Intensivstation gescho- ben wird. Einbindung von Angehö- rigen hin oder her – auch in der Tür- kei sterben viele Patienten umgeben von Schläuchen und Maschinen. ■

Nora Sevbihiv Sinemillioglu

Die Vorschriften des Telekommunikationsge- setzes (TKG) und der Strafprozessordnung (StPO), die eine vorsorgliche Speicherung von Telekommunikationsdaten für sechs Monate sowie die Verwendung dieser Daten regeln, verstoßen gegen Artikel 10 Grundgesetz. Das hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden.

Die angegriffenen Vorschriften waren seit 1.

Januar 2008 in Kraft. Dagegen hatten zahlreiche Personen und Institutionen Verfassungsbeschwer- de eingelegt. Das BVerfG führt in seiner Urteilsbe- gründung aus, dass die Speicherung von Daten ohne Anlass (wie vor allem in § 113 a TKG) zur qualifizierten Verwendung im Rahmen der Straf- verfolgung, der Gefahrenabwehr und der Aufga- ben der Nachrichtendienste mit dem Grundgesetz

nicht schlechthin unvereinbar ist. Der Gesetzgeber kann mit einer solchen Regelung legitime Zwecke verfolgen, weshalb eine solche Speicherung im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ge- eignet und erforderlich sein kann.

Allerdings unterliegt eine solche Datenspei- cherung wegen des möglichen Gefühls der Bürger, ständig überwacht zu werden, sowohl im Hinblick auf die Begründung als auch hin- sichtlich ihrer Ausgestaltung, vor allem den vorgesehenen Verwendungszwecken, beson- ders strengen Anforderungen. Die diffuse Be- drohlichkeit, die die Datenspeicherung entfal- ten kann, muss durch wirksame Transparenz- regelungen aufgefangen werden.

Dazu zählt, den Grundsatz der Offenheit der Erhebung und Nutzung von personenbezogenen

Daten anzuwenden. Das heißt: Die rechtlichen und faktischen Grundlagen entsprechender Aus- kunftsbegehren sind aktenkundig zu machen.

Ein Richtervorbehalt muss demgegenüber für solche Auskünfte nicht vorgesehen werden.

Zudem hat der Gesetzgeber Benachrichti- gungspflichten vorzusehen, sofern dadurch der Zweck der Auskunft nicht vereitelt wird bezie- hungsweise überwiegende Interessen dem nicht entgegenstehen. Dem Bund obliegt es darüber hinaus auch sicherzustellen, dass eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechende, hinreichend präzise Begren- zung der Datenverwendungszwecke fixiert wird. Dem entsprachen die aufgehobenen ge- setzlichen Regelungen nicht. (Bundesverfas- sungsgericht, Urteil vom 2. März 2010, Az.:

1 BvR 256/08, 1 BvR 263/08, 1 BvR 586/08).

RAin Barbara Berner

RECHTSREPORT

Vorratsdatenspeicherung in der bisherigen Form war unzulässig

Große Hilfsbereit- schaft: Die pflegen- den Angehörigen

treffen sich zum Small Talk und helfen sich gegen-

seitig aus.

Fotos: Nora Sevbihiv Sinemillioglu

S T A T U S

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