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Kinder psychisch kranker Eltern

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Academic year: 2022

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Stiftung Universität Hildesheim

Institut für Sozial- und Organisationspädagogik Universitätsplatz 1

31141 Hildesheim

Kinder psychisch kranker Eltern

Wie sich die psychische Erkrankung von Eltern auf ihre Kinder auswirken kann

Abschlussarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Bachelor of Arts (B.A.) Bachelor-Studiengang Sozial- und Organisationspädagogik

Wintersemester 2020/21

1. Prüferin:

2. Prüfer:

Vorgelegt von Name:

Dr. Carolin Ehlke Dr. Benjamin Strahl

Anna Hoyer

Abgabedatum: 26.11.2020

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung ... 1

2. Psychische Erkrankungen ... 4

2.1 Begriffsbestimmung ... 4

2.2 Epidemiologie ... 7

2.3 Ausgewählte psychische Erkrankungen ... 8

2.3.1 Affektive Störungen ... 9

2.3.2 Schizophrenie ... 10

2.3.3 Angststörungen ... 11

2.3.4 Zwangsstörungen ... 12

3. Auswirkungen auf die kindliche Lebenswelt ... 13

3.1 Aufwachsen im familiären Kontext ... 14

3.2 Risikofaktoren einer psychischen Erkrankung der Kinder ... 16

3.2.1 Genetische und kindbezogene Faktoren ... 16

3.2.2 Umweltfaktoren ... 18

3.2.3 Zusammenwirken der Faktoren ... 20

3.3 Auswirkungen auf die Kinder ... 20

3.3.1 Desorientierung ... 21

3.3.2 Ängste ... 23

3.3.3 Schuldgefühle ... 23

3.3.4 Tabuisierung ... 24

3.3.5 Isolation ... 26

3.3.6 Parentifizierung ... 27

4. Auswirkungen auf die erwachsenen Kinder ... 29

4.1 Persönliche Entwicklung ... 30

4.2 Soziale Beziehungen ... 34

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4.3 Eigene Elternschaft ... 37

4.4 Berufliche Tätigkeit ... 38

5. Schutzfaktoren ... 39

5.1 Resilienz ... 39

5.2 Unterstützungsmöglichkeiten ... 43

6. Fazit und Ausblick ... 47

7. Literaturverzeichnis ... 52

8. Eigenständigkeitserklärung ... 60

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1. Einleitung

Lange Zeit galten die Kinder psychisch kranker Eltern als die „vergessenen Angehörigen“ und die „vernachlässigte Risikogruppe“, weil sich primär auf die erkrankten Eltern konzentriert wurde (vgl. Remschmidt, Mattejat 1994, S. 296 / Jasz 2012, S. 9). Erfreulicherweise stieg innerhalb der letzten 20 Jahre das wissenschaftliche Interesse und die Aufmerksamkeit durch die Fachöffentlichkeit für die Kinder (vgl. Sollberger 2013, S. 214), was sich durch eine stetig steigende Zahl an ressourcenfördernden Präventionsansätzen und wissenschaftlichen Publikationen zeigt (vgl. Deneke et al. 2009, S. 396). Es konnte herausgestellt werden, dass es sich bei psychischen Störungen um eine sogenannte Familienerkrankung handelt (vgl.

Semmelhack 2011, S. 91): Durch die gesundheitlichen Probleme der Eltern ist das familiäre Zusammenleben von Ängsten, Sorgen und Schuldgefühlen überlagert (vgl.

Lenz 2014, S. 65). Die Kinder sind demnach auf vielfältige Weise von der elterlichen Erkrankung betroffen. Es gibt mittlerweile viele empirische Untersuchungen über die Risiken und die Belastungen für Kinder von psychisch kranken Eltern, jedoch gibt es vergleichsweise wenig Untersuchungen über die Erfahrungen von erwachsenen Kindern, die mit psychisch erkrankten Eltern aufwachsen (vgl. Forster 2010, S. 3143).

„Wir erwachsenen Kinder werden leider oft vergessen, da das Hauptaugenmerk auf den minderjährigen Kindern liegt“ (Jungbauer, Heitmann 2018, S. 6). Dieses Zitat einer erwachsenen Tochter einer an Depressionen erkrankten Mutter beschreibt die vorhandene Forschungslücke an empirischen Untersuchungen, die sich auf die Erfahrungen von Erwachsenen, die mit einer psychischen Erkrankung der Eltern im Kindesalter gelebt haben, beziehen (vgl. Murphy et al. 2016, S. 1).

Aus diesem Grund soll anhand der vorliegenden Bachelorarbeit die forschungsleitende Fragestellung untersucht werden, wie sich die psychische Erkrankung von Eltern auf ihre Kinder auswirken kann. Hierbei sollen – anders als bei den meisten anderen empirischen Untersuchungen – nicht nur die minderjährigen Kinder betrachtet werden, sondern auch die erwachsenen Kinder, die eine psychische Erkrankung der Eltern im Kindesalter erfahren haben. Das Ziel der Arbeit ist es, die möglichen Auswirkungen auf die minderjährigen sowie erwachsenen Kinder aufzuzeigen. In diesem Zusammenhang sollen hauptsächlich die möglichen Folgen dargestellt werden.

Zusätzlich wird ein Einblick in die Faktoren erfolgen, die eine gesunde Entwicklung

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der Kinder begünstigen und bewirken, dass die Kinder gegenüber Belastungen und Risiken widerstandsfähiger sind.

In der nachfolgenden Arbeit wird der Ausdruck „psychisch kranker Eltern“ verwendet, an dieser Stelle ist anzumerken, dass damit nicht zwangsläufig eine psychische Störung beider Elternteile impliziert ist, sondern dass diese Bezeichnung auch verwendet wird, wenn nur ein Elternteil psychisch erkrankt ist. Mit der Bezeichnung

„Kinder psychisch kranker Eltern“ ist in dieser Arbeit die Rolle als Tochter und Sohn der Eltern und nicht zwangsläufig die Lebensphase der Kindheit gemeint. Da auf der einen Seite die Kinder und auf der anderen Seite die erwachsenen Kinder betrachtet werden, wird an dieser Stelle eine kurze Erklärung erfolgen, welche Personen mit den jeweiligen Begriffen bezeichnet werden. In Kapitel 3 werden die Herausforderungen auf die Kinder von psychisch kranken Eltern beschrieben, die noch mit ihren Eltern zusammenleben oder noch minderjährig sind. Hiermit ist demnach nicht der Kindheitsbegriff gemeint, nach dem die Lebensphase der Kindheit endet, sobald die Geschlechtsreife und nachfolgend die Lebensphase der Jugend beginnt (vgl. Schulz 2018, S. 9). Sondern es werden in diesem Kapitel alle unter 18-Jähigen, die noch in keinem eigenen Haushalt leben, zusammen betrachtet. In Kapitel 4 wird die Lebenssituation von erwachsenen Kindern psychisch kranker Eltern beschrieben. Mit dieser Bezeichnung sind all die Kinder gemeint, die mindestens 18 Jahre alt sind und die aus ihrem Elternhaus in einen eigenen Haushalt gezogen sind. Allgemein gilt eine Person als erwachsen, wenn die Kindheit und die Jugendphase überschritten sind (vgl.

Fangmeyer, Mierendorff 2017, S. 12). In dieser Arbeit wird von den typischen Lebensphasen abgesehen, die sich heutzutage nicht mehr zwangsläufig klar voneinander abgrenzen lassen. Vielmehr erfolgt die Unterteilung auf Grundlage der Merkmale eigener Haushalt und Volljährigkeit. Dies lässt sich damit begründen, dass der Auszug aus dem Elternhaus für die meisten jungen Erwachsenen einen neuen Lebensabschnitt und somit einen entscheidenden Schritt auf dem Weg ins Erwachsensein darstellt (vgl. Berger 2009, S. 195 / Konietzka, Tatjes 2014, S. 3 f.).

Um sich der Forschungsfrage detailliert nähern zu können, werden einführend die theoretischen Grundlagen des Begriffs psychische Erkrankung beziehungsweise Störung erläutert. Hierfür wird zuerst beschrieben, was unter einer psychischen Erkrankung zu verstehen ist. In Bezug auf epidemiologische Prävalenzdaten wird dargelegt, wie viele Kinder mit psychisch kranken Eltern aufwachsen. Daraufhin

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werden ausgewählte psychische Erkrankungen vorgestellt, auf die sich in dieser Arbeit bezogen wird. Dabei werden affektive Störungen, die Schizophrenie sowie Angst- und Zwangsstörungen berücksichtigt. Im darauffolgenden Kapitel 3 wird auf die kindliche Lebenswelt eingegangen. Um einen Einstieg ins Thema zu ermöglichen, werden als Erstes Bedingungen des allgemeinen Aufwachsens im familiären Kontext dargelegt.

Im Anschluss daran werden die Risikofaktoren vorgestellt, die im Zusammenspiel die Wahrscheinlichkeit für das Kind erhöhen, selbst eine psychische Störung zu entwickeln. Darauf aufbauend werden die möglichen Auswirkungen psychischer Erkrankungen der Eltern auf die minderjährigen Kinder beschrieben. In Kapitel 4 werden die Auswirkungen auf die erwachsenen Kinder psychisch kranker Eltern aufgegriffen. In diesem Kapitel werden zunächst die Folgen auf die Persönlichkeit, den Umgang mit sozialen Kontakten, die eigene Elternschaft und die berufliche Tätigkeit ausgeführt. Da sich auch viele Kinder psychisch kranker Eltern trotz desolater Lebensverhältnisse gesund entwickeln, wird im fünften Kapitel auf verschiedene Schutzfaktoren der Kinder eingegangen. Diese Schutzfaktoren können durch passende Unterstützungsmaßnahmen gestärkt werden. An dieser Stelle werden die Ziele und das Vorgehen der Unterstützungsmöglichkeiten sowie zwei beispielhafte Projekte beschrieben. Im abschließenden Kapitel erfolgt eine Zusammenfassung der Ergebnisse und ein Ausblick, in dem die bestehenden Unterstützungsangebote kritisch betrachtet werden.

Wie bereits angedeutet ist über die Lebenssituation der Kinder psychisch kranker Eltern mittlerweile umfassende Fachliteratur vorhanden. Die Anzahl an Forschungsarbeiten, die sich auf die Erfahrungen von erwachsenen Kindern psychisch kranker Eltern konzentrieren, ist dahingegen begrenzt (vgl. Murphy et al. 2016, S. 1).

Es gibt vergleichsweise wenig Untersuchungen, jedoch wurden einige qualitative Forschungen durchgeführt und es stehen eine Reihe von Erfahrungsberichten zur Verfügung (vgl. Jungbauer, Heitmann 2018), auf denen – unter Einbezug einer explorativen Fragebogenstudie1 – die Ergebnisse dieser Arbeit beruhen. Vor diesem Hintergrund scheinen für die Bearbeitung der Fragestellung eigene empirische Untersuchungen nicht notwendig, sodass auf die bereits bestehenden Erkenntnisse

1 Bei der EKipeE-Studie von Jungbauer et al. handelt es sich um eine 2015 bis 2016 durchgeführte Querschnittstudie, die am Institut für Gesundheitsforschung und Soziale Psychiatrie der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Aachen durchgeführt wurde (vgl. Jungbauer et al. 2018, S. 218).

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zurückgegriffen wird. Der Fokus der Arbeit soll vielmehr auf der gemeinsamen Betrachtung der minderjährigen und erwachsenen Kinder liegen.

2. Psychische Erkrankungen

Um einen Einblick in die Lebenssituation von Kindern psychisch kranker Eltern zu erlangen, erfolgt vorab eine Definition von psychischen Erkrankungen. Anschließend wird auf die Epidemiologie von Kindern, die mit psychisch kranken Eltern aufwachsen, eingegangen und es werden ausgewählte psychische Erkrankungen vorgestellt.

2.1 Begriffsbestimmung

Eine umfassende zielgerichtete Definition für psychische Erkrankungen aufzustellen, ist ein schwieriges Unterfangen (vgl. Davison et al. 2016, S. 6). Trotzdem soll zur weiteren Betrachtung in dieser Arbeit diesbezüglich eine definitorische Grundlage geschaffen werden.

Unter einer psychischen Erkrankung werden „erhebliche Abweichungen im Erleben und Verhalten eines Menschen“ (Schmutz 2010, S. 17) verstanden. Das Denken, Fühlen und Handeln von betroffenen Personen sind verändert, worunter sie selbst und/oder ihr familiäres, berufliches und soziales Umfeld leiden (vgl. ebd.). Nach Pretis und Dimova beziehen sich psychische Störungen auf Teilbereiche des menschlichen Erlebens. Folglich sind neben der Krankheit auch gesunde Persönlichkeitsanteile vorhanden, die den Ausbruch der Krankheit kompensieren können (vgl. Pretis, Dimova 2019, S. 45). Psychische Erkrankungen entwickeln sich kontinuierlich, woraus ein fließender Übergang von Phasen des psychischen Wohlbefindens in Krankheitsphasen resultiert (vgl. ebd., S. 40). Die Krankheit und Gesundheit einer Person stehen demzufolge in einem lückenlosen Zusammenhang.

Psychische Erkrankungen werden – ebenso wie andere Krankheiten – in Klassifikationssystemen beschrieben und gruppiert (vgl. Franke 2010, S. 76). Eines der am meisten verwendeten Klassifikationssysteme ist die zehnte Revision der International Classification of Diseases – kurz ICD-10 – der Weltgesundheitsorganisation, in der möglichst alle Krankheiten erfasst, definiert und

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kategorisiert werden. Psychische Erkrankungen sind dem Kapitel V des ICD-10 zugeordnet und gehören somit dem Bereich F00-99 an (vgl. Davison et al. 2016, S. 68).

Zu den einzelnen psychischen Störungen lassen sich charakteristische Symptome zuordnen. Einzelne Symptome lassen sich auch bei Menschen ohne psychische Störungen erkennen, bei diesen rechtfertigen allerdings weder die Intensität noch die Häufigkeit die Diagnose einer psychischen Störung (vgl. ebd., S. 308). Um psychische Störungen zu diagnostizieren, gibt es nach Davison et al. einige Merkmale, an denen sich orientiert werden kann. Diese Merkmale dürfen nicht unabhängig voneinander betrachtet werden, da sie sich gegenseitig durch ihre Ausrichtung auf die Bereiche des gestörten Denkens und Handelns beeinflussen (vgl. ebd., S. 6 f.). Als erstes Merkmal für psychische Erkrankungen ist ihre statistische Seltenheit zu nennen. Wie bereits erwähnt, treten in der Allgemeinbevölkerung häufig einzelne Merkmale auf, die auf eine psychische Erkrankung hindeuten, die allerdings nicht so stark ausgeprägt sind.

Daraus resultiert, dass sich psychische Erkrankungen durch extreme Abweichungen vom Bevölkerungsdurchschnitt definieren. Außerdem werden bei fast allen psychischen Erkrankungen die sozialen Normen oder andere Menschen verletzt beziehungsweise verängstigt. Dieses Merkmal ist jedoch insofern schwierig zu beurteilen, als dass je nach Kultur unterschiedliche Normen gelten. Das persönliche Leiden der Betroffenen und die damit einhergehenden Beeinträchtigungen in ihrem alltäglichen Leben sind Merkmale, die das Leben einiger – aber längst nicht aller – Betroffenen kennzeichnen. Das letzte beschriebene Merkmal ist das unangemessene Verhalten. Betroffene reagieren in alltäglichen Situationen für ihre Mitmenschen oftmals nicht nachvollziehbar. Dies kann sich darin zeigen, dass ihr Verhalten unerwartet und übertrieben erscheint (vgl. ebd.).

In der Zusammenarbeit mit psychisch kranken Eltern und ihren Kindern ist es eine Herausforderung, eine angebrachte Bezeichnung für die psychische Erkrankung zu wählen. Hierbei gilt zu beachten, dass die Bezeichnung „psychisch krank“ für die Eltern oft schwieriger zu akzeptieren ist, als Begriffe wie „Anfälligkeit“ oder

„Verletzlichkeit“ (vgl. Pretis, Dimova 2019, S. 45). Diese Begrifflichkeiten werden bevorzugt verwendet, da mit ihnen – anders als bei Begriffen wie „psychisch gestört“

– nicht die ganze Person als krank bezeichnet wird. Wie schon zuvor erwähnt, beschränkt sich die psychische Störung auf Teilbereiche und neben der Erkrankung ist

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auch unverändertes Verhalten möglich (vgl. ebd.). Aus diesen Gründen werden Bezeichnungen wie „psychisch krank“ beziehungsweise „gestört“ in der praktischen Arbeit mit psychisch kranken Eltern weitestgehend vermieden, um eine zusätzliche Belastung der Betroffenen zu vermeiden (vgl. ebd., S. 40). Im Gegensatz dazu fällt es Kindern oft sehr schwer, die psychische Erkrankung der Eltern einzuordnen und Erklärungen für diese zu finden. Haben sie die Zuschreibung, dass ihre Eltern krank sind, werden für sie symptomatische Verhaltensweisen verständlicher. Insgesamt stehen die Begriffe der psychischen Erkrankung und psychischen Störung im Spannungsfeld zwischen der elterlichen Bereitschaft zur aktiven Mitwirkung an therapeutischen Maßnahmen und dem kindlichen Verständnis (vgl. ebd., S. 45).

Während der Ausdruck der psychischen Verletzlichkeit für Kinder deutlich schwieriger einzuordnen und zu verstehen ist, ist dieser für ihre Eltern leichter zu akzeptieren und ermöglicht eine zielgerichtete Zusammenarbeit der sozialpädagogischen Mitarbeitenden und den Eltern. Zwar scheinen Bezeichnungen dieser Art in der Zusammenarbeit mit psychisch erkrankten Eltern hilfreicher zu sein, sie werden jedoch kaum in der Fachliteratur verwendet, weswegen auch in der nachfolgenden Arbeit auf diese Begriffe verzichtet wird.

Abgrenzend von den vorherigen Erläuterungen werden die Begriffe der psychischen Erkrankung und der psychischen Störung synonym verwendet, da beide Begrifflichkeiten in der Fachliteratur anzutreffen sind. Es wird in der Wissenschaft über die Verwendung des Begriffes der psychischen Störung diskutiert (vgl. Franke 2010, S. 78), da „gestört“ im allgemeinen Sprachgebrauch als sehr negativ assoziiert wird und für psychisch erkrankte Personen selbst stigmatisierend erlebt wird (vgl.

Prölß et al. 2019, S. 2). Stigmatisierung bedeutet in diesem Sinne, „dass Menschen mit psychischen Krankheiten in abwertender Weise betrachtet oder wegen ihrer Krankheit diskriminiert werden“ (Mattejat et al. 2011, S. 16), was dadurch zustande kommt, dass psychische Störungen gesellschaftlich mit persönlicher Schuld in Verbindung gebracht werden (vgl. Pretis, Dimova 2019, S. 27). Dennoch wird diese Bezeichnung als wertneutral betrachtet und gilt in den Klassifikationssystemen als Hauptbegriff, weil der Ausdruck „Störung“ im Gegensatz zu dem der „Krankheit“ einen deskriptiveren Charakter haben soll (vgl. Franke 2010, S. 75). Aus diesen Gründen werden im Folgenden beide Begriffe ohne jegliche Wertung verwendet.

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7 2.2 Epidemiologie

Psychische Erkrankungen gehören nach einer Studie des Bundesministeriums für Gesundheit zu den häufigsten Krankheiten. Es kann davon ausgegangen werden, dass etwa 27,7 % aller Erwachsenen im Laufe eines Jahres unter einer psychischen Störung leiden, wobei Frauen häufiger betroffen sind als Männer (vgl. Jacobi et al. 2014, S. 81).

Nach Sollberger sollte hierbei beachtet werden, dass die epidemiologischen Daten hohe Dunkelziffern aufweisen (vgl. Sollberger 2013, S. 214). Demzufolge kann bei einer Bevölkerungszahl von 69,4 Millionen Menschen der erwachsenen Bevölkerung2 von etwa 19 Millionen Menschen ausgegangen werden, die pro Jahr an einer psychischen Erkrankung leiden.

In manchen Fällen können psychisch erkrankte Personen ihre Krankheit ohne fachliche Hilfe bewältigen, teilweise ist diese wiederum erforderlich. Schätzungen zufolge besteht bei 25 % der Betroffenen eine Behandlungsnotwendigkeit sowie Handlungsbereitschaft (vgl. Lenz, Wiegand-Grefe 2017, S. 1 / Mattejat 2011, S. 70).

Bei etwa 40 bis 50 % der psychisch erkrankten Personen wurde eine Kombination aus mehreren psychischen Störungen festgestellt (vgl. Jacobi et al. 2014, S. 83).

Wie viele Kinder psychisch kranke Eltern haben und mit ihnen aufwachsen, ist schwer abzuschätzen, da es diesbezüglich keine verlässliche Datenbasis gibt (vgl. Jungbauer, Lenz 2008, S. 8 f.). Psychisch kranke Menschen haben durchschnittlich genauso häufig Kinder wie psychisch gesunde Menschen (vgl. Mattejat 2011, S. 74 / Lenz, Brockmann 2013, S. 19). Nach Lenz und Brockmann konnte übereinstimmend festgestellt werden, dass etwa 30 % der stationär behandelten psychiatrischen Patienten minderjährige Kinder haben (vgl. ebd., S. 20). Dies lässt hingegen keine Aussagen darüber zu, wie viele psychisch kranke Eltern auch mit ihren Kindern zusammen in einem Haushalt leben. Hierbei gibt es starke Unterschiede bei den einzelnen psychischen Störungen: Etwa drei Viertel der an Depressionen und Angststörungen leidenden Eltern leben mit ihren Kindern zusammen, wohingegen nur etwa 40 % der psychotisch erkrankten Eltern in einem Haushalt gemeinsam mit ihren Kindern leben (vgl. ebd.). Es liegen jedoch keine genauen Zahlenangaben darüber vor, wie viele Kinder insgesamt bei psychisch kranken Eltern aufwachsen (vgl. Mattejat

2 Dieser Wert bezieht sich auf eine Erhebung des statistischen Bundesamtes für das Jahr 2018 und ist unter folgender Website zu finden:

https://service.destatis.de/bevoelkerungspyramide/#!y=2018&a=18,99&v=2&g

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2011, S. 74 f.). Um die Gesamtzahl der Kinder abzuschätzen, wird im Folgenden davon ausgegangen, dass innerhalb eines Jahres nur der halbierte Prozentsatz der Bevölkerung – 14 % anstatt des vom Bundesministerium herausgestellten Werts von 27,7 % – unter einer psychischen Störung leiden. Bezieht man sich nun auf eine Hochrechnung von Mattejat (vgl. ebd., S. 57) kann von etwa 3 Millionen Kindern ausgegangen werden, die im Verlauf eines Jahres einen Elternteil mit einer psychischen Erkrankung erleben. Obwohl andere Schätzwerte aufgrund unterschiedlicher Berechnungsbasis verschiedene Ergebnisse liefern, kann festgehalten werden, dass eine hohe Zahl an Kindern mit mindestens einem psychisch kranken Elternteil aufwächst. Nach Sollberger ist davon auszugehen, dass auch in Zukunft viele psychisch erkrankte Personen Eltern werden und somit immer mehr Kinder in diese Situation kommen und dadurch vermehrt Belastungen erfahren (vgl.

Sollberger 2013, S. 215).

2.3 Ausgewählte psychische Erkrankungen

Im Folgenden sollen ausgewählte psychische Erkrankungen vorgestellt werden, auf die in dieser Arbeit Bezug genommen wird. Die Auswahl bezieht sich auf diejenigen Krankheiten, von denen die Kinder in hohem Maße betroffen sind. Die Auswirkungen auf die Kinder sind vor allem bei starken psychischen Störungen, bei denen sich die Persönlichkeit der Eltern verändert – wie bei affektiven Störungen – oder bei Erkrankungen, die zu einem Verlust des Realitätsbezuges führen – wie bei der Schizophrenie – besonders stark. Zusätzlich sind Kinder in starkem Maß davon betroffen, wenn ihre Eltern unter Angst- oder Zwangsstörungen leiden (vgl.

Semmelhack 2011, S. 20).

An dieser Stelle ist anzumerken, dass die Art der elterlichen Erkrankung einen Einfluss auf die möglichen Herausforderungen für die Kinder nimmt (vgl. Lenz 2014, S. 24).

Bei depressiven Eltern fehlt es den Kindern häufig an Geborgenheit (vgl. Semmelhack 2011, S. 39), Kinder von schizophren erkrankten Eltern stehen in dem Risiko, von ihren Eltern im Rahmen eines Wahns völlig verändert wahrgenommen zu werden (vgl.

Ziegenhain, Deneke 2014, S. 23 f.), Kinder von Eltern mit Angststörungen sind häufig unsicher oder trauen sich selbst wenig zu (vgl. Semmelhack 2011, S. 41 f.) und Eltern, die unter Zwangsstörungen leiden, neigen dazu, die altersangemessenen Entwicklungsbedürfnisse ihrer Kinder einzuschränken (vgl. Ziegenhain, Deneke 2014,

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S. 23 f.). Unabhängig vom spezifischen Krankheitsbild und den jeweiligen Auswirkungen können allgemeine Auswirkungen auf die Lebenswelt der Kinder festgestellt werden (vgl. Semmelhack 2011, S. 43). Die Art der psychischen Erkrankung beeinflusst die kindliche Entwicklung zweifelsohne, jedoch ist vor allem auch der Verlauf und der Schweregrad der psychischen Störung entscheidend für die Entwicklung der Kinder (vgl. Lenz 2014, S. 27 f.). Hierbei gilt: „Je schwerer und lang andauernder die Erkrankung der Eltern ist, desto höher ist das Risiko für die Kinder“

(Pretis, Dimova 2019, S. 49). Aus diesem Grund und aufgrund unzureichenden Fachpublikationen über die spezifischen Auswirkungen von erwachsenen Kindern wird sich in dieser Arbeit nicht auf eine einzelne psychische Erkrankung konzentriert.

Zu den jeweiligen psychischen Störungen wird Bezug auf die 12-Monats-Prävalenz genommen. Diese gibt die Häufigkeit der Erkrankungen in der Gesamtbevölkerung im Zeitraum von 12 Monaten vor der Befragung an. Hierbei gibt es teilweise geschlechtsspezifische Unterschiede (vgl. Jacobi et al. 2014, S. 80), die im Folgenden jedoch nicht betrachtet werden, da nur auf die Prävalenz im Allgemeinen eingegangen wird. 3

2.3.1 Affektive Störungen

Symptomatisch für affektive Störungen sind Veränderungen der Stimmungslage (vgl.

Davison et al. 2016, S. 69). Mit einer 12-Monats-Prävalenz von 9,3 % stellen affektive Störungen eine der häufigsten psychischen Störungen dar (vgl. Jacobi et al. 2014, S. 80). Diese Art der psychischen Störung lässt sich in Depressionen, Manien und bipolare affektive Störungen gliedern (vgl. Semmelhack 2011, S. 21).

Menschen, die an einer Depression erkrankt sind oder sich in einer depressiven Episode befinden, weisen eine niedergeschlagene Stimmung auf und sind von Antriebslosigkeit sowie von Interessenverlust geprägt. Sie haben ein geringes Selbstwertgefühl, welches bis zu einem Gefühl der Wertlosigkeit der eigenen Person reichen kann (vgl. Hautzinger, Meyer 2011, S. 2). Sie leiden unter Schlafstörungen,

3 In den folgenden Ausführungen werden die Ergebnisse der „Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland“ (DEGS) angeführt. Diese Studie wurde von November 2008 bis Dezember 2011 vom Robert Koch-Institut im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit als kombinierte Quer- und Längsschnitterhebung durchgeführt. Es wurden Erwachsene, die in Deutschland leben und zwischen 18 und 79 Jahre alt sind, befragt (vgl. Kamtsiuris et al. 2013, S. 620 f.).

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verlieren den Appetit sowie das sexuelle Verlangen und haben keine Freude an alltäglichen Aktivitäten (vgl. Davison et al. 2016, S. 307).

Erleiden Menschen eine Manie oder eine manische Episode, haben sie eine intensive gehobene Stimmung, die sich häufig nicht begründen lässt (vgl. ebd., S. 308 / Laux 2005, S. 1216). Relativ selten tritt eine Manie alleine auf, meist werden manische Episoden von depressiven Episoden begleitet (vgl. Davison et al. 2016, S. 308).

Manische Episoden sind durch „Hyperaktivität, Geschwätzigkeit, Ideenflucht, Ablenkbarkeit oder nicht durchführbare[…] großartige[…] Pläne[…]“ (ebd.) gekennzeichnet. Im Zuge einer manischen Phase halten die Betroffenen alles für möglich und überschätzen sich selbst, weswegen viele überstürzte und aussichtslose Projekte starten (vgl. Semmelhack 2011, S. 24 f.).

Bei bipolaren Störungen treten depressive und manische Phasen mit den entsprechenden Symptomen im Wechsel auf (vgl. Lenz, Brockmann 2013, S. 14 f.).

Sie kommen mit einer Lebenszeitprävalenz von 0,6 bis 2 % wesentlich seltener vor als Depressionen (vgl. Laux 2005, S. 1218). In welchem Zeitraum und mit welchem Abstand manische und depressive Symptome nacheinander auftreten, ist bei den Betroffenen sehr unterschiedlich. Bei einigen treten die jeweiligen Symptome fast gleichzeitig beziehungsweise innerhalb weniger Tage im schnellen Wechsel auf, bei anderen hingegen dauert der Wechsel der einzelnen Phasen weitaus länger (vgl.

Davison et al. 2016, S. 312).

2.3.2 Schizophrenie

Unter der Schizophrenie wird eine Gruppe von psychotischen Störungen zusammengefasst, die durch den Verlust des Realitätsbezugs sowie durch Störungen im Denken und Verhalten gekennzeichnet sind (vgl. Prölß et al. 2019, S. 17 / Davison et al. 2016, S. 366). Insgesamt wurde bei 2,6 % der Bevölkerung innerhalb von 12 Monaten eine psychotische Störung diagnostiziert (vgl. Jacobi et al. 2014, S. 80), wobei die Schizophrenie die häufigste psychotische Störung darstellt (vgl. Dilling et al. 2015, S. 127).

Der Begriff der Schizophrenie bedeutet eine Spaltung der Innenwelt der Erkrankten von der gesellschaftlichen Außenwelt (vgl. Prölß et al. 2019, S. 17). Betroffene ziehen sich häufig von ihren Mitmenschen und der Realität in eine eigene Phantasiewelt

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zurück (vgl. ebd., S. 17 f. / Davison et al. 2016, S. 366). Die Symptome der Schizophrenie sind im Vergleich zu den anderen psychischen Störungen am vielfältigsten und heterogensten (vgl. Möller, Deister 2005, S. 1063 / Davison et al.

2016, S. 366). Betroffene weisen jedoch nur einzelne Symptome auf (vgl. Semmelhack 2011, S. 26). Damit eine Schizophrenie diagnostiziert werden kann, muss eine bestimmte Anzahl von Symptomen über eine bestimmte Dauer der Störung festgestellt werden (vgl. Möller, Deister 2005, S. 1051 / Davison et al. 2016, S. 366).

„Zentrale Symptome sind Störungen des Denkens […], des Ich-Erlebens […], der Wahrnehmung […], des Gefühlslebens […], des Antriebs […], des Bewegungsablaufs […] und entwicklungs- und persönlichkeitsfremde Verhaltensänderungen“ (Huppert, Kienzle 2010, S. 1). Eines der häufigsten Symptome der Schizophrenie sind Wahnideen, unter denen objektiv falsche Überzeugungen verstanden werden (vgl.

Davison et al. 2016, S. 368). Diese können in unterschiedlichen Formen auftreten. Zu den häufigsten Wahnvorstellungen zählen der Beeinträchtigungswahn – zu dem der Verfolgungswahn gezählt wird – sowie der Beziehungswahn (vgl. Möller, Deister 2005, S. 1067 / Dilling et al. 2015, S. 131). Bei 75 % der Betroffenen zeigen sich Störungen in der Wahrnehmung in Form von Halluzinationen (vgl. Semmelhack 2011, S. 26), welche als „Wahrnehmungserlebnisse ohne entsprechende gegenständliche Reizquelle, die aber für wirkliche Sinneseindrücke gehalten werden“ (Möller, Deister 2005, S. 1068), definiert sind. Diese zeigen sich beispielsweise in Stimmen, die Drohungen an die Betroffenen aussprechen (vgl. Dilling et al. 2015, S. 131). Das Erlebnis kann von Personen mit Schizophrenie sehr belastend empfunden werden, da sie nur selten zuordnen können, welche Wahrnehmungen real sind und welche durch Einbildung entstehen. Aus diesem Grund entwickeln viele erkrankte Personen kein Krankheitsgefühl und somit auch keine Krankheitseinsicht, sondern fühlen sich gesund und unverändert, während für ihre Mitmenschen das veränderte Verhalten sehr auffällig ist (vgl. Prölß et al. 2019, S. 17 f.).

2.3.3 Angststörungen

Angststörungen stellen mit einer 12-Monats-Prävalenz von 15,3 % – neben Depressionen und Abhängigkeitserkrankungen – die häufigsten psychischen Erkrankungen dar (vgl. Jacobi et al. 2014, S. 80). „Eine Angststörung ist dadurch gekennzeichnet, dass Angst in einer objektiv ungefährlichen Situation auftritt oder

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unverhältnismäßig stark ausgeprägt ist“ (Prölß et al. 2019, S. 41). Hierbei ist den Betroffenen zwar bewusst, dass ihre Angst nicht situationsangemessen ist, allerdings bekommen sie diese Furcht nicht eigenständig in den Griff (vgl. Semmelhack 2011, S. 20 / Prölß et al. 2019, S. 42). Die Ängste gehen somit weit über das bei Menschen ohne Angststörungen auftretende, angebrachte Maß an Angst hinaus.

Es gibt verschiedene Arten von Angststörungen, wozu unter anderem die phobische Störung zählt (vgl. Dilling et al. 2015, S. 190 f.). Unter Phobien wird die „Angst vor und [das] Vermeiden von Gegenständen, Situationen oder Plätzen [verstanden], die keine objektive Gefahr darstellen“ (Davison et al. 2016, S. 151). Phobien lassen sich unterscheiden in spezifische Phobien, bei denen sich die Angst gegen Gegenstände, Situationen, Tiere oder die Umwelt richtet und in soziale Phobien, bei denen die Angstzustände an die Anwesenheit von anderen Menschen gebunden sind (vgl. ebd., S. 152 f. / Dilling et al. 2015, S. 193 f.). Neben Phobien gibt es die Panikstörungen, von denen nach Prölß et al. gesprochen wird, wenn mehrere Angstanfälle auftreten, die zu Verhaltens- und Einstellungsveränderungen führen (vgl. Prölß et al. 2019, S. 44). Anders als bei phobischen Störungen richten sich Panikstörungen nicht nach bestimmten Umgebungssituationen, sondern treten unspezifisch und unvorhersehbar auf (vgl. Dilling et al. 2015, S. 193). Charakteristisch für Panikstörungen sind angstfreie Zeiträume zwischen den Panikattacken (vgl. ebd., S. 197). Menschen mit generalisierten Angststörungen leiden unter anhaltender Ängstlichkeit (vgl. Prölß et al. 2019, S. 48 f.). Ihre Sorgen treten in alltäglichen Situationen oft wegen Geringfügigkeiten auf und sind unkontrollierbar (vgl. ebd. / Davison et al. 2016, S. 175).

2.3.4 Zwangsstörungen

Häufig treten Zwangsstörungen in Kombination mit anderen psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Panikstörungen und Phobien auf (vgl. Davison et al.

2016, S. 181) und haben eine 12-Monats-Prävalenz von 3,6 % (vgl. Jacobi et al. 2014, S. 80). Symptomatisch für die Zwangsstörungen sind wiederkehrende Zwangsgedanken und Zwangshandlungen (vgl. Prölß et al. 2019, S. 53 / Döpfner, Goletz 2013, S. 423).

Als Zwangsgedanken werden „Vorstellungen, deren Inhalt als störend und unpassend empfunden wird und die sich immer wieder gegen den eigenen Willen aufdrängen“

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(Prölß et al. 2019, S. 53) bezeichnet. Diese Gedanken lösen bei Betroffenen Ängste aus, was darauf zurückzuführen ist, dass viele Gedanken gewalttätigen Inhalts oder moralisch verwerflich sind (vgl. ebd. / Dilling et al. 2015, S. 201). Sie werden für die Betroffenen als äußerst belastend erlebt, weil sie den Gedanken nicht entkommen können, selbst wenn sie wissen, dass diese irrational und sinnlos sind (vgl. Döpfner, Goletz 2013, S. 423 / Davison et al. 2016, S. 181). Bei Eltern mit Zwangsstörungen können sich diese Gedanken beispielsweise darin äußern, dass sie daran denken, ihrem Kind etwas anzutun (vgl. Prölß et al. 2019, S. 53).

„Als Zwangshandlungen gelten Verhaltensweisen oder geistige Handlungen, zu denen sich der Betroffene unwiderstehlich wieder und wieder gezwungen fühlt“ (Davison et al. 2016, S. 181). Diese werden ausgeführt, um die durch Zwangsgedanken entstandene Angst oder auch Last zu mildern (vgl. ebd. / Prölß et al. 2019, S. 55). Die Handlungen werden nach gleichbleibenden Regeln und meist in stereotyper Form ausgeführt (vgl. Döpfner, Goletz 2013, S. 423). „Das Ritual ist ein wirkungsloser oder symbolischer Versuch, diese Gefahr abzuwenden“ (Dilling et al. 2015, S. 203). Eine häufige Zwangshandlung ist unnötig häufiges Händewaschen, bei dem die Gedanken einer möglichen Ansteckung vertrieben werden sollen (vgl. Prölß et al. 2019, S. 55).

Dieser Waschzwang zeigt deutlich, dass die Handlungen vorrangig den Zweck der Verminderung der unangenehmen Gedanken haben und nicht das Ziel, den Schmutz wegzuwaschen (vgl. ebd., S. 56). Somit ist die Zwangshandlung insoweit übertrieben, dass sie nicht mehr den eigentlichen Zweck der Handlung erfüllt.

3. Auswirkungen auf die kindliche Lebenswelt

In diesem Kapitel soll dargestellt werden, inwieweit Kinder psychisch kranker Eltern von der Erkrankung ihrer Eltern betroffen sind. Studien, die die Auswirkungen auf diese Risikogruppe untersuchen, sind unter der sogenannten High-Risk-Forschung bekannt (vgl. Jasz 2012, S. 11). Um eine thematische Grundlage zu schaffen, wird vorab das Aufwachsen von Kindern – unabhängig vom Gesundheitszustand ihrer Eltern – im familiären Kontext beschrieben, bevor im weiteren Verlauf auf die Faktoren eingegangen wird, die wechselwirkend beeinflussen, ob die Kinder selbst im Laufe ihres Lebens eine psychische Erkrankung entwickeln. Zum Abschluss des Kapitels werden die möglichen Auswirkungen des Zusammenlebens mit psychisch kranken Eltern auf die Kinder beschrieben.

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14 3.1 Aufwachsen im familiären Kontext

In diesem Kapitel wird beschrieben, wie Kinder allgemein im familiären Kontext aufwachsen. Obwohl alle Kinder und Jugendlichen in unterschiedlichen Lebenswelten aufwachsen, haben die Stichprobengrößen der Befragungen einen ausreichenden Umfang, sodass von einer repräsentativen Masse ausgegangen werden kann.

In den letzten Jahrzehnten wurde das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in der Familie stetig heterogener (vgl. Rauschenbach, Bien 2012, S. 9). Dennoch bleibt

„die Familie […] der zentrale Ort des Aufwachsens für Kinder und Jugendliche“ (vgl.

BMFSFJ 2017, S. 8). Ihre persönliche Entwicklung findet maßgeblich in der Familie statt, wobei die Beziehung zu den Eltern in besonderer Weise über die Entwicklung entscheidet (vgl. Lutz 2014, S. 7). Nach einer Befragung von Asendorpf gilt die Mutter für alle befragten Kinder als Bezugsperson und der Vater stellt für 96 % der Kinder eine Bezugsperson dar (vgl. Asendorpf 2007, S. 291). Insgesamt wird nicht nur den Eltern, sondern der gesamten Familie von den Kindern und Jugendlichen eine bedeutende Rolle zugeschrieben (vgl. Antes et al. 2020, S. 76). Vor allem im emotionalen Bereich nimmt die Familie für Kinder und Jugendliche eine wichtige Funktion ein: Sie fühlen sich von ihrer Familie unterstützt und geborgen und fragen sie um Rat, wenn sie Hilfe brauchen (vgl. Fraij et al. 2015, S. 176). Für die meisten Jugendlichen beinhaltet eine stabile Familie, die erste Anlaufstelle bei jeglichen Problemen, durch die sie Halt und Orientierung erfahren (vgl. BMFSFJ 2017, S. 8).

Kinder und Jugendliche leben mehrheitlich mit ihren verheirateten Eltern zusammen in einem Haushalt (vgl. BMFSFJ 2017, S. 206 / Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2008, S. 22 / Ecarius, Köbel 2012, S. 316). An dieser Stelle ist anzumerken, dass innerhalb der letzten Jahre immer weniger Kinder und Jugendliche mit ihren beiden Elternteilen zusammen aufwachsen; im Jahr 1996 lag die Anzahl bei 81 %, im Jahr 2014 hingegen nur noch bei 69 % (vgl. BMFSFJ 2017, S. 202). Gleichzeitig wachsen etwa 20 % der Kinder und Jugendlichen mit nur einem Elternteil auf, wobei der Anteil dieser innerhalb der letzten Jahre leicht gestiegen ist (vgl. ebd., S. 206 / Andresen, Hurrelmann 2010, S. 81). Das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in Scheidungsfamilien ist mit Risikofaktoren verbunden, die die Entwicklung der Kinder beeinflussen können (vgl. Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2008, S. 22). Nach Vollendung des 18. Lebensjahres lebt der Großteil – 77 % der

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Jugendlichen und jungen Erwachsenen – weiterhin mit ihren Eltern beziehungsweise einem Elternteil zusammen (vgl. BMFSFJ 2017, S. 206).

Der familiäre Alltag ist oftmals von gemeinsamen Aktivitäten geprägt, die sich mit einem harmonischen Familienklima positiv auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen auswirken (vgl. Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2008, S. 21 f.).

Innerhalb der Familie haben Jugendliche immer mehr Möglichkeiten zur Mitsprache, was mit einer steigenden Autonomie der Jugendlichen einhergeht (vgl. Rauschenbach, Bien 2012, S. 9). Im familiären Kontext können auch Konfliktsituationen auftreten, die in einem gewissen Rahmen alltäglich und notwendig sind. Die sozialen Medien nehmen im Alltag der Kinder und Jugendlichen eine immer größere Rolle ein (vgl.

Rauschenbach 2012, S. 12), wodurch die Mediennutzung einen häufigen Konfliktpunkt innerhalb der Familie darstellt (vgl. BMFSFJ 2017, S. 204). Außerdem ist das Familienleben – durch den immer höher angestrebten Bildungsabschluss der Kinder und Jugendlichen – immer mehr von schulischen Fragen und Aufgaben geprägt (vgl. ebd.). Dies zeigt sich unter anderem darin, dass sich die Eltern vermehrt nach dem Schultag der Kinder erkundigen und ihnen bei Hausaufgaben, Vorbereitungen von Referaten oder Prüfungen helfen (vgl. Fraij et al. 2015, S. 176 f.). Insgesamt ist das Schulinteresse der Eltern innerhalb der letzten Jahre stetig gewachsen und schulische Aspekte haben in der innerfamiliären Kommunikation zugenommen (vgl.

ebd., S. 177).

Die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern hängen stark mit der finanziellen Situation, dem Bildungsgrad der Eltern sowie der Lebensform zusammen (vgl.

Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2008, S. 17 f.). Bei Kindern und Jugendlichen kommt es immer häufiger vor, dass sie in Armut aufwachsen: Die Armutsrisikoquote liegt nach den Ergebnissen der EU-SILC Erhebung im Jahr 2005 in Deutschland bei 13 % (vgl. ebd., S. 18). Zu den Auswirkungen der Einkommensarmut gehören einerseits Einschränkungen des Konsum- und Freizeitverhaltens der Kinder und Jugendlichen, andererseits können auch negative Einflüsse auf das Familienklima und/oder auf das Erziehungsverhalten der Eltern folgen (vgl. ebd., S. 17). Im Allgemeinen hat nicht nur die Armut, sondern allgemein der soziale Hintergrund der Familie einen entscheidenden Einfluss auf die Bedingungen des Aufwachsens der Kinder und Jugendlichen und auf die Beziehungen zu ihren Eltern (vgl. BMFSFJ 2017, S. 202).

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In der heutigen Gesellschaft wird es als selbstverständlich angesehen, auf familiäre Beziehungen zurückgreifen zu können. Aus diesem Grund besteht gesellschaftlich oftmals kein Verständnis für Schwierigkeiten im familiären Kontext gegenüber Kindern und Jugendlichen, die in Familien aufwachsen, in denen die Beziehungen überwiegend von Konflikten geprägt sind (vgl. BMFSFJ 2017, S. 202). Den meisten erwachsenen Kindern ist ihr Leben lang eine gute Beziehung zu ihren Eltern wichtig.

Von 82 % der erwachsenen Bevölkerung wurde im Jahr 2016 berichtet, dass sie einen starken Zusammenhalt innerhalb der Familie erleben (vgl. ebd., S. 8).

3.2 Risikofaktoren einer psychischen Erkrankung der Kinder

Viele Eltern mit einer psychischen Erkrankung machen sich darüber Sorgen, dass ihre Kinder im Laufe ihres Lebens selbst psychisch erkranken (vgl. Lenz, Wiegand-Grefe 2016, S. 13). Ebenso haben auch viele Kinder selbst Angst davor, die psychische Erkrankung geerbt zu haben (vgl. ebd., S. 24 f.). Ob die Kinder eine psychische Erkrankung entwickeln, hängt von bestimmten Einflussfaktoren ab, die im Folgenden einzeln betrachtet werden sollen, bevor es zu einer abschließenden Zusammenfassung kommt.

3.2.1 Genetische und kindbezogene Faktoren

Aufgrund der hohen Erkrankungsrate von Kindern psychisch kranker Eltern liegt die Vermutung nahe, dass sie genetisch dazu veranlagt sind, im Laufe ihres Lebens selbst eine psychische Erkrankung zu entwickeln. Im Folgenden wird dieses genetisch höhere Risiko für eine psychische Erkrankung anhand der Ergebnisse einiger Studien dargestellt.

In Cross-Fostering-Studien4 wird die Auftretenshäufigkeit einer Schizophrenie von

„Nachkommen schizophrener leiblicher Eltern, die bei nichtschizophrenen Adoptionseltern aufwuchsen“ (Remschmidt, Theisen 2011, S. 37) untersucht. Als Vergleichsgruppe fungieren Kinder mit gesunden leiblichen Eltern, die bei schizophrenen Adoptiveltern leben. Die Studie kommt hierbei zu dem Ergebnis, dass 18,8 % – und damit fast doppelt so viele Kinder der ersten beschriebenen Gruppe – in

4 Bei der Studie, auf die sich in dieser Arbeit bezogen wird, handelt es sich um eine Längsschnittstudie, die 1974 von Wender et al. durchgeführt wurde.

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ihrem späteren Leben unter einer Schizophrenie leiden als Kinder in der Vergleichsgruppe. Dennoch wurde in der Vergleichsgruppe in Relation zur Allgemeinbevölkerung ein erhöhtes Erkrankungsrisiko von 10,7 % festgestellt (vgl.

Wender et al. 1974, zit. nach Remschmidt, Theisen 2011, S. 37).

Auch mithilfe von Zwillingsstudien wurde erforscht, ob psychische Erkrankungen vererbt werden können, indem die Auftretenswahrscheinlichkeit einer psychischen Erkrankung von beiden Kindern bei eineiigen und zweieiigen Zwillingen verglichen wurde (vgl. Lenz, Wiegand-Grefe 2016, S. 14). Wenn bei eineiigen Zwillingen eine höhere Auftretenswahrscheinlichkeit vorliegt, kann hierbei auf die Bedeutung der Vererbung geschlossen werden (vgl. Lenz, Brockmann 2013, S. 24). Die Wahrscheinlichkeit, dass beide eineiigen Zwillinge von depressiven Eltern erkranken liegt bei 50 %, bei zweieiigen Zwillingen dahingegen bei 10 bis 20 % (vgl. Lenz, Wiegand-Grefe 2016, S. 14).

Durch diese beispielhaften Studien – wie auch durch andere – konnte die Bedeutung des Erbfaktors bei der Entstehung von psychischen Erkrankungen festgestellt werden.

Kinder mit psychisch erkrankten Eltern erleiden aufgrund ihrer genetischen Veranlagung häufiger psychische Erkrankungen als die Allgemeinbevölkerung.

Gleichzeitig konnte in den Cross-Fostering-Studien die Wichtigkeit der familiären Umstände in diesem Kontext hervorgehoben werden, die durch die Untersuchungen der Vergleichsgruppe festgemacht werden können.

Bevor im anschließenden Kapitel die sozialen und familiären Lebensumstände beschrieben werden, soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass das Verhalten und der Charakter der Kinder wiederum die familiären Umstände beeinflussen. Kinder psychisch kranker Eltern setzen sich individuell mit den Gegebenheiten in ihrem persönlichen Umfeld auseinander. Hierbei ist entscheidend,

„was das Kind gewissermaßen ‚mitbringt‘“ (Lenz 2014, S. 40). Damit ist gemeint, dass Kinder unterschiedlich auf die psychische Störung ihrer Eltern reagieren (vgl. Lenz, Wiegand-Grefe 2016, S. 19 f.). Daraus ergibt sich, dass Kinder mit herausforderndem Verhalten – unruhige und leicht ablenkbare Kinder – schneller gereizt und damit mehr von den familiären Belastungen betroffen sind. Andersrum beeinflussen diese Kinder auch ihre Eltern, indem sie die Belastungen verstärken. Dies kann negative Folgen auf das Eltern-Kind-Verhältnis mit sich bringen, woraus wiederum negative Folgen auf die kindliche Entwicklung resultieren (vgl. Lenz 2014, S. 40).

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18 3.2.2 Umweltfaktoren

Bei der Auftretenswahrscheinlichkeit von psychischen Erkrankungen sind zusätzlich die Lebensumstände der Kinder entscheidend (vgl. Lenz, Wiegand-Grefe 2016, S. 15 f. / Lenz, Brockmann 2013, S. 24 f.). Aus diesem Grund werden im Folgenden die Besonderheiten und die Belastungsfaktoren der familiären sowie sozialen Umstände mit psychisch kranken Eltern thematisiert.

Nach Lenz und Wiegand-Grefe zählt zu den familiären Faktoren unter anderem das eingeschränkte Erziehungsverhalten von psychisch kranken Eltern. Sie haben vor allem in akuten Krankheitsphasen Schwierigkeiten damit, sich um die Erziehung ihrer Kinder zu kümmern (vgl. Lenz, Wiegand-Grefe 2016, S. 16 f.). Obwohl sie den Anspruch haben, ihre Kinder gut zu erziehen, ist dies für sie aufgrund ihrer – unterschiedlich stark ausgeprägten – Beeinträchtigung der Wahrnehmung, des Denkens, des Fühlens und des Handelns oft nicht möglich (vgl. Semmelhack 2011, S. 33). Teilweise sind die Eltern aber auch stark verunsichert, wenn bei ihnen das Gefühl aufkommt, dass sie ihren Kindern erzieherisch nicht gerecht werden können.

Dieses Verhalten der Eltern macht sich im Umgang mit ihren Kindern, beispielsweise im Aufzeigen von Konsequenzen, bemerkbar. Ihnen fällt es oft schwer sich durchzusetzen, was zur Folge haben kann, dass die Kinder keine klaren Grenzen erlernen können. Durch diese Schwierigkeiten mit den alltäglichen Erziehungsaufgaben kann nach Lenz und Wiegand-Grefe die Entwicklung der Kinder negativ beeinflusst werden (vgl. Lenz, Wiegand-Grefe 2016, S. 16 f.).

Auch die Eltern-Kind-Beziehung gestaltet sich häufig als schwierig, da durch die eigene Belastung und Überforderung der psychisch kranken Eltern ihre Kinder – vor allem im Säuglings- und Kleinkindalter – weniger Aufmerksamkeit und Zuneigung erfahren. Dies macht sich insbesondere darin bemerkbar, dass sie ihren Kindern weniger Blickkontakt zukommen lassen, verminderten körperlichen Kontakt mit ihnen haben und weniger mit ihnen sprechen (vgl. ebd., S. 17 f.). Aufgrund dessen fühlen sich die Kinder an manchen Tagen von ihren Eltern zurückgewiesen und an anderen Tagen geliebt (vgl. Mattejat, Lisofsky 2011, S. 15). Zusätzlich haben psychisch kranke Eltern häufig Schwierigkeiten damit, die Bedürfnisse ihrer Kinder wahrzunehmen und angemessen auf diese zu reagieren. Diese weniger stark ausgeprägte Feinfühligkeit der Eltern erschwert es den Kindern, ihr Verhalten richtig zu interpretieren. Auf der einen Seite wird dies durch das überängstliche sowie überfürsorgliche Verhalten und auf der

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anderen Seite durch das abwertende passive Verhalten ihrer Eltern erschwert (vgl.

Lenz, Wiegand-Grefe 2016, S. 17 f.). Allerdings sind vor allem im Jugendalter die Beeinträchtigungen der Eltern-Kind-Beziehung meist nur vorrübergehend und auf die akuten Krankheitsphasen beschränkt (vgl. Stelling et al. 2008, S. 762).

Als weiteren belastenden Faktor in der Umwelt der Kinder kann die partnerschaftliche Beziehung der Eltern genannt werden. Die Beziehung zwischen einer psychisch kranken Person und einer gesunden Person – aber auch zwischen zwei psychisch Erkrankten – ist häufig durch zusätzliche Probleme belastet. Durch die Erkrankung eines Elternteils verändert sich für die gesamte Familie der Tagesablauf, da vermehrt Rücksicht genommen wird (vgl. Lenz, Wiegand-Grefe 2016, S. 18 f.). Der psychisch gesunde Elternteil fordert von den Kindern erhöhte Rücksichtnahme (vgl. Mattejat, Lisofsky 2011, S. 15). Zudem kann es durch die Veränderungen des Gesundheitszustands und damit einhergehenden Veränderungen des Verhaltens der psychisch kranken Person zu Streitigkeiten innerhalb der Familie kommen. Der psychisch gesunde Elternteil muss Aufgaben allein übernehmen, wenn der psychisch kranke Elternteil sich in einer Krankheitsphase befindet, die von Antriebslosigkeit oder Angst geprägt ist. In dieser Zeit erledigt zumindest zeitweise nur ein Elternteil den Haushalt und ist vorwiegend für die Erziehung und Versorgung der Kinder verantwortlich, was ein erhöhtes Stresslevel nach sich zieht (vgl. Semmelhack 2011, S. 37). Gleichzeitig versucht der gesunde Elternteil auf den psychisch kranken Elternteil Rücksicht zu nehmen, da dieser aufgrund der Krankheit vermehrt veränderte Bedürfnisse hat (vgl. Lenz, Wiegand-Grefe 2016, S. 18 f.).

In der sozialen Umgebung der Kinder stellt vorrangig die Schule eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung von psychischen Erkrankungen dar, weil diese außerhalb der Familie den größten Lebensbereich der Kinder abbildet. Treten bei den Kindern schulische Probleme auf, können sich diese langfristig auf ihre persönliche Entwicklung auswirken (vgl. Lenz 2014, S. 41). Freundschaftliche Beziehungen sind insbesondere für Kinder sehr wichtig. Werden die Kinder psychisch kranker Eltern von Gleichaltrigen ausgegrenzt (vgl. Pretis, Dimova 2019, S. 65) und erfahren Stigmatisierung, Diskriminierung oder Ablehnung durch ihre Peer Group, stellt dies einen Risikofaktor für die Kinder dar (vgl. Lenz, Wiegand-Grefe 2016, S. 20).

Insbesondere wird diese Situation von Kindern als belastend empfunden, wenn sie

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20

keine Freund*innen mit nach Hause bringen dürfen oder wenn sie von anderen Kindern nicht zu Geburtstagen eingeladen werden (vgl. Pretis, Dimova 2019, S. 65).

3.2.3 Zusammenwirken der Faktoren

Die genetischen Faktoren und die Umweltfaktoren beeinflussen in Wechselwirkung die kindliche Entwicklung und das Risiko einer psychischen Erkrankung der Kinder.

Weitergehend kann gesagt werden, dass die genetische Veranlagung darüber entscheidet, „ob ein Mensch eine geringe oder eine hohe Verletzlichkeit gegenüber bestimmten Umweltbelastungen besitzt“ (Lenz, Brockmann 2013, S. 25). Ist ein Kind mit einer hohen Verletzlichkeit belastenden Umweltfaktoren ausgesetzt und hat nicht gelernt, diese zu bewältigen, so ist die Wahrscheinlichkeit einer psychischen Störung deutlich erhöht (vgl. Lenz 2014, S. 42 f.). Demnach wird nicht die psychische Erkrankung als solche vererbt, sondern die Veranlagung, eine psychische Erkrankung zu entwickeln, die durch Umwelteinflüsse ausgelöst werden kann (vgl. Lenz, Brockmann 2013, S. 25). Da viele Kinder psychisch kranker Eltern in einem belastenden Lebensumfeld aufwachsen, sind sie auch häufig Situationen ausgesetzt, auf die sie besonders empfindlich reagieren können (vgl. Lenz 2014, S 42 f.).

Insgesamt lässt sich sagen, dass genetische Faktoren, Umweltfaktoren und kindbezogene Faktoren bei der Entstehung einer psychischen Erkrankung eine wichtige und etwa gleich große Rolle einnehmen (vgl. ebd.). In den nachfolgenden Ausführungen sollen die soziale und familiäre Umwelt und deren Einfluss im Fokus stehen.

3.3 Auswirkungen auf die Kinder

In diesem Kapitel werden die möglichen Auswirkungen der psychischen Erkrankung der Eltern auf die Kinder einzeln dargestellt. Wie im späteren Verlauf deutlich wird, beeinflussen sich die einzelnen Risikofaktoren gegenseitig (vgl. Semmelhack 2011, S. 67). Durch die Erkrankung der Eltern werden die Kinder vor zahlreiche Herausforderungen gestellt, mit denen jedes Kind individuell umgeht und deren Belastungen unterschiedlich wahrnimmt. Aus diesem Grund darf bei den folgenden Auswirkungen keinesfalls von generellen Auswirkungen auf alle Kinder psychisch kranker Eltern ausgegangen werden. Darüber hinaus wird an dieser Stelle darauf

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21

hingewiesen, dass die psychische Störung der Eltern noch viele weitere Auswirkungen auf die Kinder mit sich bringen kann, die in dieser Arbeit wiederum nicht berücksichtigt werden. Die Auswahl der dargestellten Belastungen bezieht sich auf die herausfordernden Lebensumstände, von denen besonders viele Kinder aufgrund der Erkrankung ihrer Eltern betroffen sind.

Tendenziell sind die Risiken, dass die Kinder Verhaltensauffälligkeiten entwickeln, höher, wenn beide Eltern erkrankt sind oder wenn der erkrankte Elternteil alleinerziehend ist (vgl. ebd., S. 32 f.). Die Risikofaktoren, die in diesem Kapitel dargestellt werden, sind für die Kinder vor allem in den Krisenphasen der Krankheit oder im Zeitraum von Psychiatrieaufenthalten belastend (vgl. Schulze et al. 2014, S. 4). In vergleichsweise stabilen Phasen erleben die Kinder ihre Situation als weniger belastend (vgl. Stelling et al. 2008, S. 763). Ebenso können die Auswirkungen einer psychischen Störung auf die Kinder sehr unterschiedlich sein: Vor allem auf Geschwisterkinder kann sich die Erkrankung und die familiäre Situation vielfältig auswirken (vgl. Mattejat, Lisofsky 2011, S. 40). Darüber hinaus nehmen die Kinder die Belastungen je nach Alter und Geschlecht anders wahr. Hierbei gilt im Allgemeinen, dass die Belastungen für die persönliche Entwicklung der Kinder – insbesondere in der frühen Kindheit und im Jugendalter – entscheidend sind. In der frühen Kindheit verfügen die Kinder über weniger ausgeprägte Schutzfaktoren und sind seelisch labiler (vgl. Lenz 2014, S. 40), im Jugendalter kommen auf sie zusätzliche Herausforderungen zu (vgl. BMFSFJ 2017, S. 95 f.).

Geschlechtsspezifische Unterschiede lassen sich nur schwer formulieren, da diese von der Diagnose der psychischen Erkrankung der Eltern und der persönlichen Belastbarkeit abhängig sind (vgl. Lenz 2014, S. 40).

3.3.1 Desorientierung

Die Kinder von psychisch kranken Eltern merken häufig sehr schnell, wenn sich ihre Eltern anders verhalten oder wenn sich deren Gefühlszustand verändert (vgl. Lenz, Wiegand-Grefe 2016, S. 22). Dennoch fällt es vielen Kindern schwer, die Symptome der Eltern einzuordnen und zu verstehen (vgl. Mattejat 2011, S. 88 / Mattejat, Lisofsky 2011, S. 42).

In der kindlichen Lebenswelt macht es einen bedeutenden Unterschied, ob und inwieweit die Kinder über die psychische Erkrankung informiert sind. Wird mit den

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Kindern die Erkrankung offen thematisiert, fällt es ihnen leichter, das ungewöhnliche Verhalten der Eltern der psychischen Störung zuzuordnen (vgl. Semmelhack 2011, S. 44). Sind die Kinder wenig bis gar nicht über die psychische Erkrankung ihrer Eltern aufgeklärt worden, nehmen sie zwar das auffällige Verhalten wahr, können dieses jedoch nicht zuordnen und verstehen. Durch dieses für die Kinder unerklärliche Verhalten werden bei ihnen Gefühle wie Besorgtheit, Angst und Verwirrung ausgelöst (vgl. Lenz, Wiegand-Grefe 2016, S. 22 f. / Sollberger 2013, S. 217).

Versuchen die Kinder eine Erklärung für das elterliche Verhalten zu finden, trifft nach Semmelhack ihre Wahrnehmung auf die verzerrte oder häufig begrenzte Wahrnehmung ihrer psychisch kranken Eltern. Durch das Nichtübereinstimmen ihrer Wahrnehmung mit der ihrer Eltern müssen sie entscheiden, ob sie die Lebenswelt beziehungsweise Lebenssicht ihrer Eltern annehmen oder ihre eigene weiterverfolgen.

Aus beiden Entscheidungen resultieren Selbstzweifel der Kinder. Durch unverständliche Situationen, die durch die psychische Erkrankung zustande kommen, fällt es den Kindern mit der Zeit immer schwerer, ihr eigenes Verhalten und das ihrer Eltern zu reflektieren. Dies kommt dadurch zustande, dass das gleiche – theoretisch angebrachte – Verhalten der Kinder an einem Tag auf eine angemessene Reaktion der Eltern trifft und an einem anderen Tag gar nicht oder überzogen auf das Verhalten reagiert wird. Daraus folgt für die Kinder, dass sie oft nicht mehr einschätzen können, welche Reaktion ihr Handeln mit sich bringt (vgl. Semmelhack 2011, S. 44).

Zusätzlich fühlen sich die Kinder orientierungslos, da sie vielfach das Gefühl haben, zwei Welten zugehörig zu sein: „der inneren Welt der Familie und der außerfamiliären Welt“ (Sollberger 2013, S. 234). Übernehmen sie die Normalitätsperspektive der Außenwelt, so fühlen sie sich im familiären Umfeld abnormal. Auf der anderen Seite bemerken sie in der außerfamiliären Welt ihre Andersartigkeit, was für die Kinder sehr verwirrend sein kann (vgl. ebd.).

Darüber hinaus ist an dieser Stelle anzumerken, dass in Familien mit psychisch kranken Eltern oftmals kein geregelter Tagesablauf stattfindet. Dahingegen sind gleichbleibende Strukturen – besonders für Kleinkinder – von entscheidender Bedeutung, damit die Kinder sich sicher fühlen und lernen können, Situationen richtig einzuschätzen. Den Kindern psychisch kranker Eltern fehlt häufig diese Sicherheit und Orientierung (vgl. Schmutz 2010, S. 29).

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23 3.3.2 Ängste

Die Eltern nehmen für ihre Kinder eine wichtige Vorbildfunktion ein und werden von ihnen als Beschützer*innen angesehen. Wenn die Kinder in alltäglichen Situationen mitbekommen, dass ihre Eltern übermäßig ängstlich und überfordert reagieren, können sie häufig nicht erkennen, dass diese Ängste übertrieben sind. Dadurch erleben die Kinder die alltäglichen Ängste ihrer Eltern mit und es besteht die Gefahr, dass sie diese unverhältnismäßig stark ausgeprägten Ängste übernehmen. Bei vielen Kindern entwickelt sich die Angst vor bestimmten Reaktionen ihrer Eltern, da diese teilweise bei alltäglichen Fragen der Kinder übertrieben reagieren (vgl. Pretis, Domiva 2019, S. 63).

Zusätzlich machen sich nach Lenz und Wiegand-Grefe vor allem ältere Kinder darüber Sorgen, dass sie selbst psychisch erkranken. Häufig haben sie Angst vor ihrer Zukunft und davor, dass diese dem Lebenslauf ihrer Eltern ähnelt (vgl. Lenz, Wiegand-Grefe 2016, S. 24 f.). Dies wird dadurch verstärkt, dass die Kinder ihr Verhalten mit dem ihrer psychisch kranken Eltern vergleichen und bei Ähnlichkeiten auf eigene Anzeichen einer psychischen Erkrankung schließen. Diese Angst wird von den Kindern nur sehr selten angesprochen; sie bleiben häufig mit ihren Ängsten allein, wodurch sich diese immer weiter verstärken. Die Kinder psychisch kranker Eltern versuchen sich teilweise von ihren Eltern abzugrenzen, um sich selbst zu schützen und ihren eigenen Weg zu finden, sind aber meist zu eng mit dem Familiensystem verbunden, um eine Distanzierung von der Familie vorzunehmen. Dadurch setzen sie sich intensiv mit den familiären Bezügen und den Auswirkungen der psychischen Erkrankung auseinander, wodurch sie nicht den notwendigen Abstand erlangen können, mit dem es ihnen möglich wäre, sich von ihren Ängsten zu lösen (vgl. ebd.).

3.3.3 Schuldgefühle

Wie zuvor bereits beschrieben wurde, können Kinder psychisch kranker Eltern oftmals nicht einschätzen, warum es ihren Eltern nicht gut geht oder warum diese sich anders verhalten. Da die meisten Kinder nicht oder nur wenig über die Erkrankung aufgeklärt werden, suchen sie Erklärungen für das für sie unerklärliche Verhalten und für die Ursache der Erkrankung (vgl. Lenz, Wiegand-Grefe 2016, S. 24 f. / Sollberger 2013, S. 217).

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Durch Behauptungen ihrer Eltern oder durch das persönliche Empfinden nehmen viele Kinder an, dass sie einer der Gründe für das Unwohlsein und/oder das veränderte Verhalten ihrer Eltern sind (vgl. Mattejat, Lisofsky 2011, S. 24). Da sie die Belastung und Überforderung ihrer psychisch kranken Eltern erkennen, fühlen sie sich schuldig dafür, dass sie nicht mehr im Alltag geholfen haben und eine zusätzliche Last gewesen sein könnten (vgl. Lenz, Wiegand-Grefe 2016, S. 24 f.). Daraus wird oft die Schlussfolgerung gezogen, dass es ihren Eltern besser gehen würde, wenn diese weniger Verantwortung und mehr Entlastung hätten. Durch diese Schuldgefühle und den Wunsch, den Eltern zu helfen, übernehmen die Kinder mehr Verantwortung als sie übernehmen sollten (vgl. Semmelhack 2011, S. 46). Dennoch haben einige Kinder das Gefühl, sie würden nicht ausreichend mithelfen, wodurch ihre Schuldgefühle weiter verstärkt werden können (vgl. Desch 2014, S. 20). Dieses Gefühl kann durch die Eltern verstärkt werden, wenn sie ihre Enttäuschung aufgrund nicht ausreichend erfüllter Wünsche deutlich machen (vgl. Lenz 2014, S. 113). Zusätzlich versuchen einige Kinder ihre Eltern aufzumuntern oder zu besänftigen. Da dies jedoch meist nicht oder nur zeitweise möglich ist, fühlen sich die Kinder schuldig (vgl. Kupferschmid, Koch 2014, S. 23 / Mattejat, Lisofsky 2011, S. 29).

An dieser Stelle wird darauf hingewiesen, dass nicht alle Kinder psychisch kranker Eltern unter Schuldgefühlen leiden. In manchen Familien leiden auch die Eltern unter Schuldgefühlen und erhalten emotionale Unterstützung von ihren Kindern. So wird teilweise von Familien berichtet, in denen die Kinder selbst keine Schuldgefühle haben, aber ihre Eltern bei der Bewältigung von ihren Schuldgefühlen oder auch Gefühlen der Nutzlosigkeit unterstützen (vgl. ebd., S. 44).

3.3.4 Tabuisierung

Nur selten sprechen psychisch kranke Eltern mit ihren Kindern offen über ihre Erkrankung. Eine Untersuchung von Sollberger zeigt, dass mehr als die Hälfte der Kinder wenig bis nie innerhalb der Familie über die psychische Erkrankung ihrer Eltern gesprochen haben (vgl. Sollberger 2013, S. 233). Demnach ist der eigentliche Grund für das veränderte Verhalten der Eltern nur wenigen Kindern bekannt (vgl.

Semmelhack 2011, S. 46), was unterschiedliche Ursachen haben kann. In vielen Fällen haben die Eltern die Absicht, ihre Kinder zu schützen, da sie das Gefühl haben, ihre Kinder mit dem Wissen über die Erkrankung zu belasten und ihnen damit zu schaden

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(vgl. Lenz 2014, S. 99 / Lenz, Wiegand-Grefe 2016, S. 25f. / Sollberger 2013, S. 233 f.).

Für viele psychisch kranke Eltern ist es schwierig, den Kindern von der Erkrankung zu erzählen, weil es für sie zu belastend wäre (vgl. Mattejat, Lisofsky 2011, S. 28).

Dies geht damit einher, dass sie sich meist schämen und Angst haben, ihre Kinder könnten sie aufgrund der psychischen Störung verachten oder sich von der Familie abgrenzen (vgl. Lenz, Wiegand-Grefe 2016, S. 25f.). Wenn die Eltern mit ihren Kindern die psychische Erkrankung thematisieren, nennen sie hierbei oft nur eine körperliche Erschöpfung oder momentanen Stress (vgl. Semmelhack 2011, S. 46).

Auch der gesunde Elternteil verharmlost das Verhalten häufig durch abgeschwächte Erklärungen (vgl. Lenz, Wiegand-Grefe 2016, S. 25f.).

Obwohl sich viele Kinder wünschen, mit ihren Eltern über ihre Erkrankung sowie ihr Verhalten zu sprechen, merken sie schnell, dass es ihre Eltern nur zusätzlich belastet, weshalb sie das direkte Gespräch mit ihnen vermeiden (vgl. Lenz 2014, S. 100). Dieses fehlende Wissen über das Empfinden und Verhalten ihrer Eltern verstärkt, dass die Kinder die Ursache dessen bei sich selbst suchen5 und alltägliche Situationen nur schwer einschätzen können.6

Hierbei bleibt anzumerken, dass nicht nur innerhalb der Familie die Erkrankung verschwiegen wird, sondern auch gegenüber außenstehenden Personen (vgl. Lenz, Wiegand-Grefe 2016, S. 25f. / vgl. Mattejat, Lisofsky 2011, S. 16 f.). Nach Sollberger sprechen 62,1 % der Kinder psychisch kranker Eltern wenig bis nie mit familienexternen Personen über die Erkrankung (vgl. Sollberger 2013, S. 233). Das Verschweigen der Erkrankung zu außerfamiliären Personen kann ebenfalls vielfache Gründe haben. Das Verbot über die Erkrankung zu sprechen kann direkt von den Eltern aus gefordert werden, indem diese den Kindern untersagen, bei Freund*innen, Bekannten, Verwandten oder Lehrer*innen die Erkrankung zu thematisieren. Oftmals spüren die Kinder selbst den Wunsch der Eltern, diesbezügliche Gespräche zu vermeiden und sie haben schnell das Gefühl, sie würden sich ihren Eltern widersetzen, wenn sie sich jemandem anvertrauen würden. Demnach vermeiden die Kinder Aussagen und Handlungen, von denen sie vermuten, dass sie ihre Eltern zusätzlich

5 siehe Kapitel 3.3.3

6 siehe Kapitel 3.3.1

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26

belasten würden, weshalb sie sich keiner außenstehenden Person anvertrauen (vgl.

Lenz 2014, S. 100).

Zusätzlich fällt es vor allem jüngeren Kindern sehr schwer, die familiären Gegebenheiten in Worte zu fassen. Wie bereits erwähnt, wird innerhalb der Familie häufig nicht über das auffallende Verhalten der psychisch kranken Eltern gesprochen, sodass die Kinder die Erkrankung nicht zuordnen und somit auch nicht erklären können (vgl. ebd.). Ein weiterer Faktor, der die außerfamiliäre Tabuisierung bestärkt, lässt sich in der eigenen Scham für ihre eigenen psychisch kranken Eltern formulieren (vgl. ebd. / Mattejat, Lisofsky 2011, S. 16 f.). Dies lässt sich auf die gesellschaftliche Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Störungen zurückführen. Im Allgemeinen werden psychische Erkrankungen mit „Unberechenbarkeit, Gefährlichkeit, Unfähigkeit und schwache[m] Charakter“ (Lenz 2014, S. 102) in Verbindung gebracht. Viele Menschen haben Vorurteile gegenüber Personen mit einer psychischen Erkrankung und dem damit zusammenhängendem auffälligen Verhalten.

Sowohl die Eltern als auch die Kinder versuchen, sich vor Ablehnung anderer zu schützen, indem sie die Erkrankung verheimlichen (vgl. Semmelhack 2011, S. 47). Da die negativen Kommentare gegenüber den psychisch kranken Eltern die Kinder verletzen und sie sich dadurch ausgegrenzt fühlen, vermeiden sie die Gespräche über ihre Eltern und über ihre Sorgen und Ängste diesbezüglich meist vollkommen (vgl.

Lenz 2014, S. 102). Aus diesen Gründen werden auch direkte Gesprächsangebote von Lehrer*innen und Bekannten nur selten angenommen (vgl. Stelling et al. 2008, S. 763).

3.3.5 Isolation

Die soziale Isolierung der Familie und der Kinder ist meist eine direkte Folge der Tabuisierung der psychischen Erkrankung (vgl. Mattejat, Lisofsky 2011, S. 17). Durch die Angst vor Stigmatisierung ziehen sich viele Familien zurück, damit die Außenwelt nicht von der psychischen Störung Kenntnis erhält (vgl. Pretis, Dimova 2019, S. 23).

Wie zuvor dargelegt, fehlen vielen Kindern Bezugspersonen, weil sie sich aus vielerlei Gründen keinen außenstehenden Personen anvertrauen können. Damit die Probleme der Familie nicht nach außen gelangen, vermeiden es einige Kinder, überhaupt Kontakt zu Außenstehenden zu pflegen, weil hierbei immer die Gefahr besteht, auf die

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elterliche Erkrankung angesprochen zu werden (vgl. Lenz, Wiegand-Grefe 2016, S. 26).

Zusätzlich ist es den Kindern häufig unangenehm, ihren Freund*innen von der psychischen Erkrankung zu erzählen, weshalb grundsätzlich keine Gespräche über die eigene Familie geführt werden (vgl. Semmelhack 2011, S. 47 f. / Mattejat, Lisofsky 2011, S. 17). Ferner berichten 74,2 % der Kinder psychisch kranker Eltern, dass sie sich häufig oder zumindest gelegentlich für ihre psychisch kranken Eltern schämen (vgl. Jungbauer et al. 2018, S. 220). Auch merken die Kinder psychisch kranker Eltern, dass ihre Familie und sie selbst anders als ihre Peer Group sind (vgl. Schulze et. al 2014, S. 4), was dazu führen kann, dass sie sich in der Nähe von Gleichaltrigen unwohl und nicht vollkommen integriert fühlen (vgl. Mattejat, Lisofsky 2011, S. 17). Somit haben viele Kinder psychisch kranker Eltern mitunter zwar Freund*innen, es bleibt allerdings meist eine gewisse Distanz bestehen. Diese kann dadurch zustande kommen, dass die Freund*innen bemerken, dass die familiäre Situation ein Tabuthema ist (vgl. ebd.). Durch den starken Familienzusammenhalt haben einige Kinder auch gar nicht das Bedürfnis, Kontakt zu Außenstehenden zu haben, da sie die Situation alleine mit ihrer Familie durchstehen möchten (vgl. ebd., S. 42). Zudem haben Kinder psychisch kranker Eltern häufig Schwierigkeiten, soziale Kontakte aufzubauen und zu halten, weil sie nicht wie andere Kinder den sozialen Umgang mit Freund*innen von ihren Eltern lernen, da diese oft selbst kaum soziale Kontakte pflegen. Ebenso gestaltet es sich für die Kinder schwierig, Freundschaften zu pflegen, wenn ihnen von ihren Eltern verboten wird, Freund*innen mit nach Hause zu bringen (vgl. Semmelhack 2011, S. 47 f.) oder überhaupt Beziehungen zu Freund*innen und Verwandten einzugehen (vgl. Duncan, Browning 2009, S. 81).

Im Zuge der sozialen Isolation haben die Kinder kaum Vergleiche zu anderen Familien, in denen sie mitbekommen können, wie Familien ohne psychisch kranke Eltern ihr Familienleben und soziale Kontakte pflegen. Da sie den Alltag von anderen Familien nicht mit ihrem abgleichen können, kommt es beim Kennenlernen anderer Familien oft zu Überforderung auf Seiten der Kinder (vgl. Semmelhack 2011, S. 47 f.).

3.3.6 Parentifizierung

Wie bereits in Kapitel 3.3.3 beschrieben, fühlen sich die Kinder von psychisch kranken Eltern oftmals verantwortlich für ihre Eltern oder sogar für die gesamte Familie. Aus

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